Machtfaktoren in der betrieblichen Praxis
Unversehens kann sich der neu ins Unternehmen oder eine andere Abteilung eingetretene Mitarbeiter in einer Schlangengrube von spezifischen Interessen wiederfinden: Die Mitarbeiter pochen auf ihre (vermeintlichen) Rechte, der Vorgesetzte bzw. das Management ignoriert berechtigte Interessen, der Betriebsrat schießt quer und der Sprecherausschuss – sofern vorhanden – erklärt, dass er keine Druckmittel habe.


Die Einarbeitung beschränkt sich häufig auf das Fachliche. CHEManager befragte Gerhard Auer, langjähriger Sprecherausschutz-Vorsitzender, Betriebsrat und Seminarleiter, zur Situation in Bezug auf das „politische“ Umfeld. Die Fragen stellte Birgit Megges.
CHEManager: Herr Auer, wann sind Sie selbst hinsichtlich des „politischen“ Umfelds aufgeklärt worden?
Gerhard Auer: Eigentlich nie. Bei meinem ersten Arbeitsplatz in einem Großunternehmen der Chemie habe ich mich an den gleichaltrigen Kollegen orientiert. Ich war ein leitender Mitarbeiter und sah keinen Unterschied zu einem leitenden Angestellten. Ich wusste, dass es einen Betriebsrat gibt, hatte aber keine Ahnung davon, welche Rolle dieser genau spielt. Erst als ein Mitarbeiter gegen seine Leistungsbeurteilung protestierte und sich an den Betriebsrat wandte, bekam ich dessen Existenz zu spüren.
Spielt der Betriebsrat denn eine so große Rolle?
G. Auer: Auf jeden Fall! Ich hatte lange Zeit keine Ahnung, dass der Betriebsrat auch für mich bzw. die Wahrung meiner Interessen zuständig ist, denn zu Beginn meines Berufslebens war ich ja noch kein leitender Angestellter. Ich habe mich also an den Betriebsratswahlen gar nicht beteiligt – genausowenig wie fast alle meine Kollegen. Bei den Sprecherausschusswahlen war ich nicht wahlberechtigt. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie Betriebsrat, Sprecherausschuss, Gewerkschaft und der Verband angestellter Akademiker in der chemischen Industrie, kurz VAA, miteinander zusammenhingen. Dass die Betriebsräte in vielen Unternehmen sehr einseitig gewerkschaftsnah ausgerichtet sind, kann somit nicht verwundern, wenn die Führungskräfte, die keine leitenden Angestellten sind, bei den Betriebsratswahlen nicht mitmachen, geschweige denn kandidieren.
Versucht der VAA, dem entgegenzuwirken?
G. Auer: Ja, seit einigen Jahren hat der VAA eine Offensive gestartet, um AT-Angestellte in die Betriebsräte zu bringen. Der VAA unterstützt die Kollegen in vielerlei Hinsicht, beispielsweise durch Seminare und Workshops, in denen ein Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Unternehmen stattfindet.
Ist der Betriebsrat also nicht nur für die Tarifangestellten, sondern auch für die AT-Angestellten von Bedeutung?
G. Auer: Ja, er ist sogar von erheblicher Bedeutung für AT-Angestellte. Betriebsräte besitzen zwingende Mitbestimmungsrechte, zum Beispiel bei Arbeitszeitregelungen, Entgeltsystemen, Einstellungen, Versetzungen und Umgruppierungen, bei allgemeinen Beurteilungsgrundsätzen und beim Abschluss von Sozialplänen.
Kaum bekannt ist außerdem, dass der Betriebsrat für die AT-Angestellten die Rolle der Gewerkschaft bei kollektiven Regelungen zur Vergütung übernimmt; beispielsweise bei der Ausgestaltung von AT-Gehaltssystemen oder AT-Bonusregelungen. Mit anderen Worten kann man sagen, dass Arbeitgeber einerseits und der Betriebsrat andererseits im außertariflichen Bereich das leisten müssen, was Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in einem Tarifvertrag leisten: Gehaltsstrukturen definieren und ihre Wertigkeit zueinander festlegen.
Wird das Gehalt von AT-Angestellten nicht individuell vereinbart?
G. Auer: Zunächst ja. Aber es gibt in der Regel im Unternehmen eine AT-Gehaltsstruktur, und diese ist mitbestimmungspflichtig. Auch für die Systematik bei der Umsetzung einer Gehaltsanpassung ist der Betriebsrat der entscheidende Ansprech- und Verhandlungspartner für den Arbeitgeber. Eigentlich müsste ein Betriebsrat, der die Interessen der AT-Angestellten ernst nimmt, jedes Jahr mit dem Arbeitgeber dieselben Tarifverhandlungen führen wie die Gewerkschaften mit dem Arbeitgeberverband.
Das findet aber häufig nur halbherzig oder gar nicht statt, wenn im Betriebsrat keine oder nur wenige AT-Angestellte vertreten sind und der Betriebsrat sich aus politischen Motiven mehr um die „kleinen Leute“ und nicht die „reichen“ AT-Angestellten kümmert.
Welche Rolle spielt der Sprecherausschuss?
G. Auer: Der Sprecherausschuss ist vergleichbar mit einem Betriebsrat für das mittlere und obere Management, allerdings – im Gegensatz zum Betriebsrat – ohne (faktisch erzwingbare) Mitbestimmungsrechte. Der Sprecherausschuss hat lediglich Informations- und Beratungsrechte. Juristisch gesehen gibt es kaum leitende Angestellte. Aber in vielen Unternehmen der deutschen chemischen Industrie ist es gelebte Tradition, dass das mittlere und obere Management als leitende Angestellte angesehen wird und durch einen Sprecherausschuss vertreten wird.
Welche Rolle spielen Gewerkschaften, wie die IGBCE, und Berufsverbände, wie der VAA?
G. Auer: Sie spielen eine sehr große Rolle. Die Betreuung der Beschäftigten durch gewerkschaftliche Vertrauensleute im Unternehmen beziehungsweise in den Werksgruppen des VAA ist von großer Bedeutung für die Meinungsbildung zu bestimmten aktuellen Themen. Zudem spielen die Mantel- und Gehaltstarifverträge, die es auch mit dem VAA gibt, eine ebenso wichtige Rolle.
Wie gut funktioniert das System, vor allem in Krisenzeiten?
G. Auer: Meine Erfahrung ist, dass das System gerade in schwierigen Zeiten recht gut funktionieren kann. Wenn es hart auf hart kommt, also bei Restrukturierungen, Sparprogrammen, Gehaltsverzicht, Sozialplänen oder gar Insolvenz, dann sitzen alle Beschäftigten in einem Boot und es ist enge Zusammenarbeit gefordert: Der Betriebsrat mit seinen erzwingbaren Mitbestimmungsrechten und die AT-Angestellten und leitenden Angestellten, mit ihrem tiefen Einblick in die Abläufe und Zahlen des Unternehmens, können da durchaus eine sehr starke Allianz bilden.
Manchmal muss man auch kreativ sein: Als in einem US-Unternehmen der Sprecherausschuss andauernd ignoriert wurde, haben alle Führungskräfte erklärt, keine leitenden Angestellten zu sein, sind mit einer eigenen Liste bei der Betriebsratswahl angetreten und haben auf Anhieb drei von elf Sitzen errungen.
Summa summarum kann man sagen, dass das deutsche System der Betriebsverfassung – mit Betriebsrat, Sprecherausschuss, Gewerkschaften, Vertrauensleuten – machtpolitisch recht gut ausbalanciert ist. Von Ausnahmen abgesehen, funktioniert die Zusammenarbeit in der Praxis ziemlich gut. Interessenskonflikte und teilweise harte Auseinandersetzungen gehören nun einmal zwangsläufig dazu.
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