14.07.2025 • ThemenUllmannsInterviewBASF

Fritz Ullmanns Weitsicht

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Ullmanns: Das Standardwerk der Technischen Chemie gestaltet die Zukunft der modernen Chemieindustrie mit

Interview mit Henrique Teles, BASF, und Martin Bertau, TU Bergakademie Freiberg

Erstmals 1914 von Professor Fritz Ullmann in Berlin veröffentlicht, wurde die „Enzyklopädie der Technischen Chemie“ schnell zum Standardwerk der industriellen Chemie. Generationen von Chemikern haben sich seither auf den Ullmanns als wichtigste Referenzquelle verlassen. Aus den zwölf Bänden der 1. Auflage sind in der 7. Auflage (2011) 40 Bände geworden – mit mehr als 1.000 Artikeln von rund 3.000 Autoren aus der ganzen Welt.

Seit 1970 vom Verlag Chemie (heute Wiley-VCH) herausgegeben, erscheint der Ullmanns erstmals ab der 5. Auflage (1985 bis 1996) auf Englisch. Auf die Internationalisierung folgte die Digitalisierung. 1997 erschien der gesamte Inhalt des Ullmanns auf CD. Dann folgten DVD sowie der Start des Online-Ullmanns mit vierteljährlichen Updates. Heutzutage ist der Ullmanns ein reines Online-Referenzwerk, das alle zwei Monate neue und aktualisierte Artikel publiziert und weltweit als unverzichtbare Ressource für Expertenwissen in der industriellen Chemie dient.

Am 2. Juli 2025 hat sich der Geburtstag von Fritz Ullmann, der sein Lebenswerk bis zu seinem Tod 1939 in den Dienst der Aufbereitung und der Verbreitung von Wissen gestellt, hat, zum 150. Mal gejährt. Aus diesem Anlass diskutieren zwei Mitglieder des Herausgebergremiums, wie aktuell die Vision des Gründers in der heutigen Zeit ist. J. Henrique Teles, Leiter der Forschungsgruppe Oxidations- und Phosgenchemie, BASF, und Mitglied des Editorial Advisory Boards der Ullmanns Enzyklopädie, und Martin Bertau, Professor und Institutsdirektor am Institut für Technische Chemie der TU Bergakademie Freiberg, beantworten die Fragen von Michael Reubold.

Die ab 1914 veröffentlichten 12 Bände der 1. Auflage von Ullmanns...
Die ab 1914 veröffentlichten 12 Bände der 1. Auflage von Ullmanns „Enzyklopädie der Technischen Chemie“, die schnell zum Standardwerk der industriellen Chemie wurde
© CHEManager

CHEManager: Der Ullmanns ist seit über 100 Jahren ein Standardwerk für die Ausbildung neuer Generationen von Chemikern und Ingenieuren, wird aber auch immer wieder von Experten in der Industrie konsultiert. Wie erleben Sie diese Bidirektionalität?

Martin Bertau: Der Ullmanns wirkt aus meiner Sicht in der Tat bidirektional befruchtend. Er gestattet es der akademischen Forschung, sich an den Realitäten der industriellen Produktion zu orientieren, und umgekehrt kann die Forschung wichtige Impulse für neue, bessere industrielle Prozesse geben oder im Idealfall, zum Beispiel über Patente, direkt als Verfahrensgeber auftreten.

Ich verweise gern auf die vielen Verfahren, die in einem unteren, aber hoffnungsfroh stimmenden technologischen Reifegrad in den Schubladen an den Universitäten, bei Fraunhofer-In­stituten und anderen Forschungsorganisationen liegen. Das sind Schätze, die wir einfach nur heben müssen, und die uns dann in die Lage versetzen, den alten Ballast endlich loszuwerden, um mit neuen, besseren Verfahren den Markt aufzurollen. Diese Verfahren – und damit schließt sich der Kreis – in das Bewusstsein der Chemiker und Ingenieure zu bringen, dafür kann ein Ullmanns auch eine Plattform sein. Als Enzyklopädie natürlich mit dem Anspruch ex post, also neue Verfahren, die es in die industrielle Umsetzung geschafft haben, und sei es über Start-ups, zeitnah einzupflegen. Und das wäre dann auch der Beleg für die Bidirektionalität dieser von mir hochgeschätzten Enzyklopädie.

Wissenschaft und Fortschritt leben bekanntermaßen von Austausch und Vernetzung, sowohl über Ländergrenzen als auch über Diszi­plingrenzen hinweg. Spielt neben der Internationalität und der Interdisziplinarität auch der Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Industrie und Lehre – also die Übertragung von akademischer Forschung in die industrielle Anwendung und vice versa – eine immer wichtigere Rolle?

Henrique Teles: Der Wissenstransfer muss in beide Richtungen funktionieren. Während der Transfer akademischen Wissens in die Industrie über Kooperationen gut läuft und neue Impulse in die industrielle Forschung bringt, ist die umgekehrte Richtung speziell im Zusammenhang mit industrieller Verfahrensentwicklung leider oft mangelhaft. Gleichzeitig ist die akademische Forschung einem zunehmenden Druck zur „Ökonomisierung“ des akademischen Wissenschaftsbetriebs ausgesetzt, aber ohne fundierte Kenntnisse vom Stand der Technik werden oft Lösungen angestrebt, die technisch irrelevant sind. Anders als in einem Unternehmen, dessen Ziel es ist, mit Ergebnissen der Forschung Geld zu verdienen, sollte aus meiner Sicht das „Produkt“ von akademischer Forschung in erster Linie die Ausbildung der Studierenden sein und mit neuen Erkenntnissen zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen. Um akademische Forschung zu steuern, greifen ökonomische Kriterien zu kurz. Grundlagenforschung wirkt erst über lange Zeiträume und auf überraschende Art und Weise, wie unzählige Beispiele belegen.

M. Bertau: Da stimme ich Henrique Teles zu. Der akademische Betrieb ist durch die de facto Fokussierung auf Drittmitteleinnahmen viel zu stark ökonomisiert worden. Das geht zu Lasten der wissenschaftlichen Leistung und der studentischen Ausbildung. Der Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt ist wesentlich, denn die Dualität von Lehre und Forschung – das vielbeschworene Humboldt’sche Prinzip –hat uns über Jahrzehnte in der studentischen Ausbildung und in der Wissenschaft international Spitzenplätze einnehmen lassen. Und man darf nicht vergessen, dass gerade die deutsche Chemieindus­trie gerade davon sehr stark profitiert hat. Die Gefahr sehe ich tatsächlich in einer Ökonomisierung des Hochschulbetriebs und einer Fokusverlagerung auf allein die Lehre. Und damit sind wir wieder beim Ullmanns. Welchen Beitrag kann ein Ullmanns denn in der studentischen Ausbildung leisten, wenn nicht über die Wissenschaft? Oder nennen Sie es wissenschaftliche Ausbildung, die vielen Kooperationen von Industrie und universitärer Forschung – was übrigens ein gewaltiger Standortvorteil ist. Das ist doch das gegenseitige Geben und Nehmen, wovon wir die ganzen Jahre profitiert haben und hoffentlich noch lange werden.

H. Teles: Den Übergang von Erkenntnissen der chemischen Verfahrensentwicklung in die Bildung und Lehre halte ich aus einem anderen Grund für wesentlich.

Welcher Grund ist das, und welche Rolle spielt der Ullmanns dabei?

H. Teles: Ein Thema, das mich sehr bewegt, und bei dem auch der Ullmanns eine zentrale Rolle spielt, ist zu vermitteln, wie stark Chemie unseren Alltag beeinflusst. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig selbst – teilweise sehr angesehene – Professoren über die Grundlagen der industriellen Chemie wissen.

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