Promotion in der Chemie - Absolventen sind Spezialisten und Generalisten zugleich

Auch nach Einführung von Bachelor- und Masterstudien­gängen verlässt ein Großteil der Chemiestudierenden die Universität mit einem Doktortitel. Nach Angaben der Gesellschaft Deutscher Chemiker begannen im Jahr 2017 86 % der Absolventen eines Chemiemasterstudiums an Universitäten und 12 % an Hochschulen der angewandten Wissenschaften eine Promotion. Andrea Gruß sprach mit Professor Wolfgang A. Herrmann, Präsident der Technischen Universität München (TUM), und Gerd Romanowski, Geschäftsführer für Wissenschaft, Technik und Umwelt beim Verband der Chemischen Industrie (VCI), über die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft bei der Ausbildung von Doktoranden.

CHEManager: Warum hat die Promotion in der Chemie nach wie vor einen so hohen Stellenwert?

Wolfgang A. Herrmann: Die Chemie ist Wissenschaft und Wirtschaft zugleich – das trifft für andere naturwissenschaftliche Disziplinen nicht zu. Seit den Gründerjahren besteht eine enge und fruchtbare Partnerschaft zwischen beiden Seiten. Promovierte Chemiker bringen ihre Faszination für Forschung in die Unternehmen hinein und haben dazu beigetragen, dass die deutsche Chemieindustrie heute international an der Spitze steht. Nur durch sie konnten die Internationalisierung und der Umbruch der Branche seit den 1990er Jahren so gut gelingen.
Auch heute sollten sich Absolventen, die in der stark forschungsgetriebenen chemischen Industrie tätig sein wollen, in einem Thema vertieft und auf das Abenteuer Forschung eingelassen haben. Darüber hinaus bietet die Promotion, die in der Regel drei Jahre dauert, eine exzellente Chance zur Persönlichkeitsentwicklung. An der TU München ist jeder Doktorand in der Lehre tätig und erwirbt so Führungskompetenz durch den Umgang mit jungen Menschen.

Gerd Romanowski: Über viele Jahrzehnte hinweg haben nahezu alle Chemieabsolventen von Universitäten, die in die Industrie gingen, ihre Karriere dort in der Forschung begonnen. Hierfür war eine Promo­tion unerlässlich. Sie erbrachte den Nachweis, dass man selbstständig wissenschaftlich arbeiten kann. Noch heute ist die Promotion für die klassische Karriere – Chemiestudium, Promotion, Einstieg in ein Großunternehmen der Chemie­industrie – der Regelfall.
Doch die Tradition hat sich in den letzten Jahren etwas gelockert: Während die Promotionsquote früher weit über 90 % lag, beträgt sie heute für Masterabsolventen an Universitäten 86 % (vgl. Grafiken letzte Seite). Es gibt mittlerweile Studiengänge in der Chemie, die nicht mehr unbedingt eine Promotion als Abschluss für den erfolgreichen Start in den Beruf voraussetzen. Zudem gibt es mehr Chemiker, die ihre Karriere in anderen Industriezweigen beginnen, wo eine Promotion nicht unbedingt erforderlich ist.

Wie hoch ist der Anteil dieser Absolventen?

G. Romanowski: Von etwa 2.000 Chemikern, die pro Jahr promovieren, gehen etwa 400 in die Chemieindustrie, der Rest in die Wissenschaft, in Behörden oder in andere Industriezweige. Dazu zählen zum Beispiel die Automobil- und Elektronikindustrie sowie die optische Industrie.
 
W. A. Herrmann: Auch für diese Absolventen ist eine wissenschaftliche Einstimmung auf ihren Beruf durch die Promotion wichtig. Wer sein Fach vertieft und eigene Forschung betrieben hat, hat eine höhere Wertschätzung dafür und wird auch in seiner späteren Tätigkeit für die Forschung werben – egal wo er arbeitet, in der Wissenschaft, in öffentlichen Ämtern, in Ministerien oder in der Politik.

Einige Doktoranden haben bereits einen Arbeitsplatz in der Indus­trie, wenn sie an ihrer Promotion arbeiten. Wie hoch ist der Anteil dieser „Industriepromotionen“ in der Chemie?

G. Romanowski: Meines Wissens gibt es hierfür keine chemiespezifische Statistik. Die Art der Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft kommt jedoch häufiger vor und ist zum beiderseitigen Vorteil. Ich würde jedoch nicht die Formulierung wählen, die Promotion findet „in der Industrie“ statt. Ort und Stelle einer Promotion ist die Hochschule. Sie ist verantwortlich für das Promotionsverfahren. An dieser klaren rechtlichen Zuordnung orientieren sich auch die Gute-Praxis-Empfehlungen des VCI für Industriepromotionen. Ob der Doktorand sein Thema dann im Unternehmen oder an der Hochschule bearbeitet, ist zweitrangig. Dies hängt in der Regel von der jeweils vorhandenen Infrastruktur ab.

Industriepromotionen stehen zum Teil unter Kritik der Hochschulrektorenkonferenz. Welche Relevanz hat diese für Promotionen in Kooperation mit der Chemieindustrie?

W. A. Herrmann: In einigen anderen Branchen – nicht in der Chemie – kam es vermehrt dazu, dass sogenannte externe Promovenden mit einer fertigen Doktorarbeit zur Universität kamen, um sich dort sozusagen „den Stempel draufzusetzen“ zu lassen. Das ist unakademisch. Wir haben das von Anfang an nicht akzeptiert. An der TU München gibt es Rahmenverträge, die unsere Beziehungen zur Wirtschaft regeln. Jeder Doktorand muss sich zu Beginn der Promotion an der TUM Graduate School einschreiben und hat einen Betreuer an der Universität, der seine Arbeit mitgestaltet. Die Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in der Chemie hat, wie eingangs erwähnt, eine lange Tradition und verfügt über einen hohen ethischen Standard. Der Lead der wissenschaftlichen Promotionsarbeit liegt dabei klar bei der Universität, wo denn sonst?
Die deutsche Chemieindustrie legt zudem großen Wert auf ein hohes Leistungsniveau ihres Nachwuchses. Einzigartig sind die Promotionsstipendien des Fonds der Chemischen Industrie, bei der es auch eine Besten-Auswahl gibt. Vergleichbare Förderstrukturen gibt es in keiner anderen Branche.

Welche Chancen bieten Kooperationen mit Universitäten für Chemie­unternehmen?

G. Romanowski: Für Unternehmen bieten solche Kooperationen den Vorteil, mit einer führenden Universität an der vordersten Front der Wissenschaft zusammenzuarbeiten. Sie profitieren davon, dass frisch ausgebildete Nachwuchswissenschaftler eingebunden in die Wissenschaftslandschaft und die akademische Welt an hoch aktuellen Themen forschen. Die Universitäten haben das Interesse, praxisnah mit einem Unternehmen zusammenzuarbeiten und anwendungsnahe Themen zu erforschen. Es gibt also ein beiderseitiges Interesse und in vielen Fällen eine Symbiose.

Wo liegen die Herausforderungen bei der Nutzung der Ergebnisse einer Industriepromotion?

G. Romanowski: Das Ziel jeder Doktorarbeit ist eine Publikation. Sie muss öffentlich verteidigt und publiziert werden, so schreiben es die meisten Promotionsordnungen vor. Eine Patentanmeldung muss jedoch vor Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgen. 
Bei „Industriepromotionen“ sollte daher eine Vereinbarung zwischen Unternehmen und Universität über die Eigentumsrechte an den Ergebnissen einer Promotion und die Kompensation für den Partner getroffen werden. Nach dem Arbeitnehmererfinderrecht ist der Eigentümer einer Erfindung das Unternehmen, welches den Mitarbeiter beschäftigt. Hat ein Doktorand also einen Arbeitsvertrag mit der Universität, so gehört dieser die Erfindung.
 
W. A. Herrmann: Bis zur Novelle des Arbeitnehmererfindungsgesetzes im Jahr 2002 galt das „Professorenprivileg“. Hatten Professoren eine Erfindung in Zusammenarbeit mit Doktoranden erarbeitet, so gehörte ihnen gemeinsam das Patent. Dies erschwerte die Verwertung eines Patents erheblich. 2002 wurde das Privileg abgeschafft. Professoren sind seitdem den gleichen Regelungen unterworfen wie Arbeitnehmer in der Wirtschaft. Sie müssen die Erfindungen ihrer Universität melden. Nimmt diese sie in Anspruch und meldet sie das Patent an, hat der Erfinder selbstverständlich das Recht auf eine angemessene Vergütung.

Wie finanzieren Sie diese Vergütungen?

W. A. Herrmann: Wir haben an der TU München im Jahr 2013 eine wesentliche Neuerung im Umgang mit immateriellen Gütern – sogenannten Intangible Assets, kurz IA – einschließlich des geistigen Eigentums eingeführt, wie das international üblich ist. Bei Forschungs- und Entwicklungsverträgen mit Unternehmen können die Immaterialgüter entweder bei der TU München bleiben oder sie werden gegen Vorabzahlung eines 15%igen IA-Aufschlags dem Vertragspartner zur Verfügung gestellt. Damit haben wir eine klare Regelung geschaffen, die wegen ihrer Berechenbarkeit auch bei den Unternehmen große Zustimmung findet. 
Andere deutsche Universitäten würden gerne unserem Beispiel folgen, konnten das aber bisher intern nicht durchsetzen. Denn geistiges Eigentum hat in Deutschland in der Academia nicht den Stellenwert, den es haben müsste. Daher haben wir hierzulande auch ein wenig ausgeprägtes Bewusstsein für geistiges Eigentum beim akademischen Nachwuchs.
 
G. Romanowski: Dies ist wahrscheinlich auch einer der Gründe für die schwach ausgeprägte Gründermentalität in Deutschland.

Inwieweit profitiert die TU München von den Einnahmen durch die Zuschläge für geistiges Eigentum und besteht die Gefahr, dass Forschungsinhalte dadurch beeinflusst werden?

W. A. Herrmann: Wir hatten im letzten Jahr insgesamt 340 Mio. EUR Einnahmen durch Forschungsdrittmittel an der TU München. Damit sind wir gemeinsam mit der RWTH Aachen die Nummer eins unter den deutschen Universitäten. Wir verstehen uns bewusst nicht als verlängerte Werkbank der Industrie. 
Der Kalkulation unserer Forschungsprojekte legen wir eine Vollkostenrechnung zugrunde. Die Einnahmen über die IA-Aufschläge halten wir für die Vergütung der Ansprüche für das geistige Eigentum der Mitarbeiter vor. Zudem stärken wir dadurch die Weiterentwicklung unseres Patent- und Lizenzwesens. Übrigens, die ETH Zürich berechnet IA-Aufschläge von 35 %, in manchen Fällen sogar 50 %!

Wie haben sich die Anforderungen in der Arbeitswelt an die Qualifikationen eines promovierten Chemikers in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

G. Romanowski: In der Industrie wird heute in interdisziplinären Teams gearbeitet. Es gibt nicht mehr das „Chemieprojekt“, das nur von Chemikern bearbeitet wird, sondern Ingenieure, Materialwissenschaftler und gegebenenfalls Biologen und IT-Experten arbeiten von Anfang an zusammen. Ein promovierter Absolvent von der Universität muss daher in der Lage sein, interdisziplinär zu denken und mit anderen Fachdisziplinen zu kommunizieren, das heißt, ihre Sprache zu verstehen und Pro­bleme nachvollziehen zu können. Ich glaube, das ist auch an den Hochschulen angekommen und wird in der Ausbildung berücksichtigt. 
 
W. A. Herrmann: Dem kann ich nur zustimmen. Die Schlagkraft der Forschung lebt heute aus der Interdisziplinarität. An den Schnittstellen passiert das wirklich Interessante, Spannende, das Neue, das Unerwartete. Deswegen werden auch Fakultätsstrukturen ständig überdacht. Wir haben zum Beispiel integrative Forschungszentren, wie die Munich School of BioEngineering, auf den Weg gebracht. Und bereits im Jahr 2006 startete die International Graduate School of Science and Engineering an der TU München. Hier arbeiten Naturwissenschaftler und Ingenieure, betreut von den jeweiligen Fachprofessoren, nach dem Tandemprinzip zusammen. Und im Rahmen des Bayerischen Wissenschaftsforum BayWiss fördern wir die Zusammenarbeit von bayerischen Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften.

Welche weiteren Kompetenzen sollte ein promovierter Chemiker mitbringen?

G. Romanowski: Chemieabsolventen, die eine Anstellung in einem Unternehmen anstreben, sollten Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen haben. Sie sollten wissen, wie sich ein Unternehmen finanziert und woher das Geld kommt, mit dem die Forschung in den nächsten Jahren bezahlt wird.
 
W. A. Herrmann: Aus meiner Sicht sollte kein promovierter Absolvent der Natur- und Technikwissenschaften die Hochschule ohne Grundkenntnisse im Patentrecht und Arbeitsrecht verlassen. Letzteres ist Voraussetzung, um in einem Unternehmen erfolgreich Personalführungsaufgaben zu übernehmen. Insbesondere mittelständische Chemieunternehmen profitieren von Chemikern, die als Generalisten ausgebildet wurden.
Hier gibt es an den Universitäten noch Nachholbedarf, aber wir werden stetig besser. An der neuen Technischen Universität Nürnberg, die 2025 ihren Lehrbetrieb aufnehmen soll, planen wir zum Beispiel einen Anteil von 25 % geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Lehrinhalte im Technikstudium, wie sie bereits heute am Massachusetts Institute of Technology oder der Stanford University in den USA umgesetzt werden.
 

 

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