Promotion in der Chemie - Absolventen sind Spezialisten und Generalisten zugleich



CHEManager: Warum hat die Promotion in der Chemie nach wie vor einen so hohen Stellenwert?
Wolfgang A. Herrmann: Die Chemie ist Wissenschaft und Wirtschaft zugleich – das trifft für andere naturwissenschaftliche Disziplinen nicht zu. Seit den Gründerjahren besteht eine enge und fruchtbare Partnerschaft zwischen beiden Seiten. Promovierte Chemiker bringen ihre Faszination für Forschung in die Unternehmen hinein und haben dazu beigetragen, dass die deutsche Chemieindustrie heute international an der Spitze steht. Nur durch sie konnten die Internationalisierung und der Umbruch der Branche seit den 1990er Jahren so gut gelingen.
Gerd Romanowski: Über viele Jahrzehnte hinweg haben nahezu alle Chemieabsolventen von Universitäten, die in die Industrie gingen, ihre Karriere dort in der Forschung begonnen. Hierfür war eine Promotion unerlässlich. Sie erbrachte den Nachweis, dass man selbstständig wissenschaftlich arbeiten kann. Noch heute ist die Promotion für die klassische Karriere – Chemiestudium, Promotion, Einstieg in ein Großunternehmen der Chemieindustrie – der Regelfall.
Wie hoch ist der Anteil dieser Absolventen?
G. Romanowski: Von etwa 2.000 Chemikern, die pro Jahr promovieren, gehen etwa 400 in die Chemieindustrie, der Rest in die Wissenschaft, in Behörden oder in andere Industriezweige. Dazu zählen zum Beispiel die Automobil- und Elektronikindustrie sowie die optische Industrie.
Einige Doktoranden haben bereits einen Arbeitsplatz in der Industrie, wenn sie an ihrer Promotion arbeiten. Wie hoch ist der Anteil dieser „Industriepromotionen“ in der Chemie?
G. Romanowski: Meines Wissens gibt es hierfür keine chemiespezifische Statistik. Die Art der Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft kommt jedoch häufiger vor und ist zum beiderseitigen Vorteil. Ich würde jedoch nicht die Formulierung wählen, die Promotion findet „in der Industrie“ statt. Ort und Stelle einer Promotion ist die Hochschule. Sie ist verantwortlich für das Promotionsverfahren. An dieser klaren rechtlichen Zuordnung orientieren sich auch die Gute-Praxis-Empfehlungen des VCI für Industriepromotionen. Ob der Doktorand sein Thema dann im Unternehmen oder an der Hochschule bearbeitet, ist zweitrangig. Dies hängt in der Regel von der jeweils vorhandenen Infrastruktur ab.
Industriepromotionen stehen zum Teil unter Kritik der Hochschulrektorenkonferenz. Welche Relevanz hat diese für Promotionen in Kooperation mit der Chemieindustrie?
W. A. Herrmann: In einigen anderen Branchen – nicht in der Chemie – kam es vermehrt dazu, dass sogenannte externe Promovenden mit einer fertigen Doktorarbeit zur Universität kamen, um sich dort sozusagen „den Stempel draufzusetzen“ zu lassen. Das ist unakademisch. Wir haben das von Anfang an nicht akzeptiert. An der TU München gibt es Rahmenverträge, die unsere Beziehungen zur Wirtschaft regeln. Jeder Doktorand muss sich zu Beginn der Promotion an der TUM Graduate School einschreiben und hat einen Betreuer an der Universität, der seine Arbeit mitgestaltet. Die Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in der Chemie hat, wie eingangs erwähnt, eine lange Tradition und verfügt über einen hohen ethischen Standard. Der Lead der wissenschaftlichen Promotionsarbeit liegt dabei klar bei der Universität, wo denn sonst?
Welche Chancen bieten Kooperationen mit Universitäten für Chemieunternehmen?
G. Romanowski: Für Unternehmen bieten solche Kooperationen den Vorteil, mit einer führenden Universität an der vordersten Front der Wissenschaft zusammenzuarbeiten. Sie profitieren davon, dass frisch ausgebildete Nachwuchswissenschaftler eingebunden in die Wissenschaftslandschaft und die akademische Welt an hoch aktuellen Themen forschen. Die Universitäten haben das Interesse, praxisnah mit einem Unternehmen zusammenzuarbeiten und anwendungsnahe Themen zu erforschen. Es gibt also ein beiderseitiges Interesse und in vielen Fällen eine Symbiose.
Wo liegen die Herausforderungen bei der Nutzung der Ergebnisse einer Industriepromotion?
G. Romanowski: Das Ziel jeder Doktorarbeit ist eine Publikation. Sie muss öffentlich verteidigt und publiziert werden, so schreiben es die meisten Promotionsordnungen vor. Eine Patentanmeldung muss jedoch vor Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgen.
Wie finanzieren Sie diese Vergütungen?
W. A. Herrmann: Wir haben an der TU München im Jahr 2013 eine wesentliche Neuerung im Umgang mit immateriellen Gütern – sogenannten Intangible Assets, kurz IA – einschließlich des geistigen Eigentums eingeführt, wie das international üblich ist. Bei Forschungs- und Entwicklungsverträgen mit Unternehmen können die Immaterialgüter entweder bei der TU München bleiben oder sie werden gegen Vorabzahlung eines 15%igen IA-Aufschlags dem Vertragspartner zur Verfügung gestellt. Damit haben wir eine klare Regelung geschaffen, die wegen ihrer Berechenbarkeit auch bei den Unternehmen große Zustimmung findet.
Inwieweit profitiert die TU München von den Einnahmen durch die Zuschläge für geistiges Eigentum und besteht die Gefahr, dass Forschungsinhalte dadurch beeinflusst werden?
W. A. Herrmann: Wir hatten im letzten Jahr insgesamt 340 Mio. EUR Einnahmen durch Forschungsdrittmittel an der TU München. Damit sind wir gemeinsam mit der RWTH Aachen die Nummer eins unter den deutschen Universitäten. Wir verstehen uns bewusst nicht als verlängerte Werkbank der Industrie.
Wie haben sich die Anforderungen in der Arbeitswelt an die Qualifikationen eines promovierten Chemikers in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
G. Romanowski: In der Industrie wird heute in interdisziplinären Teams gearbeitet. Es gibt nicht mehr das „Chemieprojekt“, das nur von Chemikern bearbeitet wird, sondern Ingenieure, Materialwissenschaftler und gegebenenfalls Biologen und IT-Experten arbeiten von Anfang an zusammen. Ein promovierter Absolvent von der Universität muss daher in der Lage sein, interdisziplinär zu denken und mit anderen Fachdisziplinen zu kommunizieren, das heißt, ihre Sprache zu verstehen und Probleme nachvollziehen zu können. Ich glaube, das ist auch an den Hochschulen angekommen und wird in der Ausbildung berücksichtigt.
Welche weiteren Kompetenzen sollte ein promovierter Chemiker mitbringen?
G. Romanowski: Chemieabsolventen, die eine Anstellung in einem Unternehmen anstreben, sollten Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen haben. Sie sollten wissen, wie sich ein Unternehmen finanziert und woher das Geld kommt, mit dem die Forschung in den nächsten Jahren bezahlt wird.
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