CHEMonitor 01-2025 - Künstliche Intelligenz und Demografie
Das aktuelle Trendbarometer CHEMonitor beleuchtet das Zusammenwirken des demografischen Wandels und den Einfluss der künstlichen Intelligenz (KI) auf die Chemie- und Pharmaindustrie.







Die Stimmung unter deutschen Chemiemanagern sank im März 2025 auf einen neuen Tiefpunkt. Bei der aktuellen CHEMonitor-Befragung bewertete nur noch ein Drittel der Entscheider den Standort Deutschland positiv. Im Frühjahr 2020 traf dies noch für drei Viertel aller Befragten zu. Neben hohen Energie- und Arbeitskosten belasten multiple Krisen und disruptive Trends die Branche. Das aktuelle Trendbarometer CHEMonitor beleuchtet das Zusammenwirken des demografischen Wandels und den Einfluss der künstlichen Intelligenz (KI) auf die Chemie- und Pharmaindustrie.
„2024 war ein weiteres Jahr zum Vergessen für die Industrie. Die schlechten Nachrichten reißen aber auch im neuen Jahr nicht ab. Trumps unberechenbare Zollpolitik, erneut steigende Energiepreise und ungelöste Strukturprobleme sorgen weiter für Verunsicherung“, beschrieb Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Mitte März die Situation der deutschen Chemie- und Pharmabranche. Die hohe Verunsicherung spiegelt sich auch in den Ergebnissen der aktuellen CHEMonitor-Befragung wider.
Für das gemeinsame Trendbarometer CHEMonitor von CHEManager und der Strategie- und Organisationsberatung Santiago Advisors wurden Entscheider der deutschen Chemie- und Pharmabranche von Januar bis März 2025 befragt. Dabei bewerteten 33 % der Manager den Standort Deutschland mit „sehr gut“ und „gut“. Im Vergleich zur letzten Befragung vom November 2022 sanken damit nicht nur die positiven Bewertungen auf einen neuen Tiefpunkt, gleichzeitig stieg auch die Zahl der Manager, die den Standort mit „schlecht“ bewerteten, um 12 Prozentpunkte auf 22 % (Grafik 1, S. 8). „Bis zum Pandemiejahr 2020 waren die schlechten Bewertungen zu vernachlässigen, eine Entwicklung der unbedingt gegengesteuert werden sollte“, warnt Hermann Schiegg, Partner und Experte für den Chemiestandort Deutschland bei Santiago Advisors sowie Mit-Autor des CHEMonitor-Trendbarometers.
Bis zum Pandemiejahr 2020
waren die schlechten Bewertungen zu vernachlässigen,
eine Entwicklung der unbedingt gegengesteuert werden sollte.“- Hermann Schiegg, Partner bei Santiago Advisors
Ansatzpunkte dafür ergeben sich bei den Standortfaktoren Unternehmensbesteuerung (8 %, -13 Prozentpunkte ggü. Nov. 2022) sowie Arbeits- (5 %, -11) und Energiekosten (2 %, ±0), die nur noch von weniger als jedem zehnten Manager als „sehr gut“ oder „gut“ bewertet wurden. Auch für die Digitalisierung (10 %, -7) stellte nur jeder Zehnte dem Standort Deutschland ein gutes Zeugnis aus. Eindeutige Wettbewerbsvorteile liegen dagegen nach Meinung der befragten Manager in der Qualifikation der Arbeitnehmer (92 % positive Bewertungen) und der Qualität von Forschung und Entwicklung (91 %) (Grafik 2).
Doch gerade diese beiden Standortfaktoren stehen unter einem hohen Veränderungsdruck, wie die aktuelle CHEMonitor-Umfrage zum Schwerpunktthema „Künstliche Intelligenz und Demografie“ belegt.
„Durch die Unterstützung unserer Forscher
mit künstlicher Intelligenz
können wir Krankheiten besser verstehen.“- Dirk Stenkamp, Forschungsleiter Deutschland, Boehringer Ingelheim
So erwarten 97 % der befragten Manager aus der Chemie- und Pharmaindustrie, dass der verstärkte Einsatz von digitalen Technologien und KI die bestehenden Rollenprofile von Mitarbeitern tiefgreifend verändern wird und wiederum 95 % bestätigen, dass der Fachkräftemangel den Druck auf Unternehmen erhöht, ihre Effizienz durch digitale oder KI-Lösungen zu steigern (Grafik 3). Damit verbindet sich der seit langem absehbare Trend des demografischen mit dem disruptiven Trend des digitalen Wandels zu einem wirksamen Katalysatorgemisch für Veränderung. Der Druck zur Kostenreduktion in den Unternehmen aufgrund schwacher Nachfrage und hoher Arbeits- und Energiekosten wirkt dabei zusätzlich beschleunigend.
Kann KI den demografischen Wandel kompensieren?
Werden wir schneller neue digitale Technologien entwickeln als altern? Welcher Trend wirkt stärker, welcher wird unsere Zukunft bestimmen? – zwei spannende Fragen vor dem Hintergrund der rasanten und parallelen Entwicklungen. „Digitalisierung und KI bieten der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie enorme Chancen, die strukturellen Nachteile des Standorts und die negativen Auswirkungen des demografischen Wandels wettzumachen. Doch das geht nicht von heute auf morgen und jedes Unternehmen hat eine spezifische Ausgangssituation“, sagt Juan Rigall, Geschäftsführer bei Santiago Advisors und Mitbegründer des CHEMonitor-Trendbarometers. Ein entsprechend ambivalentes Ergebnis zeigte sich bei der CHEMonitor-Befragung: 17 % der Chemie- und Pharmamanager erwarten, dass das Produktivitätswachstum durch KI die Defizite durch den demografischen Wandel mehr als überkompensieren wird, 57 % stimmen dem zumindest teilweise zu und ein Anteil von 25 % widerspricht dieser These.
Ein Grund für die unterschiedliche Bewertung der Experten ist der noch nicht quantifizierte Nutzen der KI für die Branche. Bei BASF in Ludwigshafen erforscht man seit über zehn Jahren Möglichkeiten und Vorteile von KI-Modellen und doch „ist das riesige Potenzial von künstlicher Intelligenz für die BASF momentan noch gar nicht konkret abschätzbar“, äußerte sich Dirk Elvermann, Finanzvorstand und Chief Digital Officer (CDO) der BASF vor einem Jahr gegenüber den Medien. „Die Frage ist nicht, ob KI einen wesentlichen Einfluss auf Industrieunternehmen haben wird, sondern, wie schnell das geschieht“, so Elvermann. Diese Meinung teilt auch die große Mehrheit der CHEMonitor-Umfrageteilnehmer: 97 % der Befragten sind der Auffassung, dass das Verständnis der Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz und die konsequente Umsetzung derselben zur unverzichtbaren Kernkompetenz für Unternehmen werden (Grafik 3).
„Die Frage ist nicht,
ob KI einen wesentlichen Einfluss auf Industrieunternehmen haben wird,
sondern, wie schnell das geschieht.“- Dirk Elvermann, Finanzvorstand, BASF
BASF erprobt den Einsatz von KI derzeit mit Tausenden von Mitarbeitern, u. a. im Bereich Finanzen. So wird inzwischen fast die gesamte Liquiditätsplanung des Konzerns mit hoher Effizienz von einer künstlichen Intelligenz erstellt. Neben Effizienzgewinnen erhoffe sich die BASF aber auch Wachstum und neue Geschäftsmodelle durch die neue Technologie, so Elvermann. So bietet das Unternehmen seinen Kunden z. B. einen Simulator für die Formulierung von Handgeschirrspülmitteln auf KI-Basis an oder erforscht gemeinsam mit Partnern KI-basierte Messtechniken zur Verbesserung des Kunststoffrecyclings.
Hohes KI-Potenzial in Forschung und Entwicklung
„KI ist kein Nice-to-have mehr. Wer sie nicht nutzt, verliert doppelt: an Effizienz und Innovationskraft“, resümiert Rigall. Diese Meinung teilt auch ein Großteil der CHEMonitor-Umfrageteilnehmer. Sie erwarten einen hohen Impact von Digitalisierung und KI im Bereich Forschung und Entwicklung: 64 % gehen von „großen“, weitere 25 % von „mäßigen“ Veränderungen in diesem Bereich in den kommenden fünf Jahren aus. Damit ist F&E – nach der Informationstechnik als Enabler der Digitalisierung und KI – die Unternehmensfunktion, die am stärksten vom digitalen Wandel betroffen ist. Das gilt gleichermaßen für die Chemie- wie auch die Pharmabranche, bestätigt Dirk Stenkamp, Senior Vice President, Research Site Germany bei Boehringer Ingelheim: „Digitalisierung spielt eine entscheidende Rolle für die medizinische Forschung und Entwicklung. Durch die Unterstützung unserer Forscher mit künstlicher Intelligenz können wir Krankheiten besser verstehen, wirksamer bekämpfen und innovative Behandlungsmöglichkeiten schneller Patienten zur Verfügung stellen.“
Trotz des Wissens um die hohe Relevanz des Themas, sind nur 25 % der befragten Manager der Meinung, ihr Unternehmen sei auf die Veränderungen der Arbeitswelt durch künstliche Intelligenz „sehr gut“ oder „gut“ vorbereitet. Immerhin 68 % fühlen sich „teilweise“ vorbereitet. Diesen Unternehmen rät Rigall: „Sofort anfangen! Die Nutzung der Potenziale von KI gelingt nur, wenn Unternehmen den notwendigen Veränderungsprozess jetzt einleiten. Der Veränderungsprozess benötigt Zeit. Am Ende geht es um Menschen, deren Arbeit mit neuen Fähigkeiten und in einem automatisierten Umfeld neugestaltet werden muss.“
„KI ist kein Nice-to-have mehr.
Wer sie nicht nutzt, verliert doppelt:
an Effizienz und Innovationskraft.“- Juan Rigall, Gründer und Geschäftsführer, Santiago Advisors
Bei Tesa hat man die Bedeutung von KI als strategischen Erfolgsfaktor bereits erkannt. Im Februar dieses Jahres präsentierte das Unternehmen seine umfassende Digitalstrategie und KI-Integration auf dem ersten „Global AI Day“. „Mit unserer digitalen Strategie erzielen wir bereits deutliche Erfolge – durch ganzheitliche Implementierung, klare geschäftliche Ausrichtung und kontinuierliche Schulungen. Wir sind auf einem guten Weg, unseren Kunden intelligentere Lösungen zu liefern und dabei einen verantwortungsvollen Umgang mit KI zu gewährleisten“, sagt Norman Goldberg, CEO von Tesa. Das Hamburger Unternehmen implementiert KI ganzheitlich über Menschen, Daten, Technologie und Governance hinweg. So soll die gesamte Organisation mit KI-Wissen ausgestattet werden und das richtige Mindset erhalten. Im Rahmen der digitalen Transformationen bei Tesa werden sowohl Geschäftsmodelle als auch Arbeitsweisen neu überdacht. Unternehmen, die dies versäumen, riskieren, den Anschluss zu verlieren, während sich die Marktdynamik in einem beispiellosen Tempo verändert.
Manager vertrauen in die Resilienz des eigenen Unternehmens
Befragt nach den Auswirkungen von KI und Demografie auf die Branche, halten lediglich 2 % der Manager eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Chemieindustrie aufgrund der parallelen digitalen Transformation und des demografischen Wandels für realistisch, 33 % stimmen teilweise zu. Die große Mehrheit widersprach der These (Grafik 4). 18 % der Manager erwarten zudem einen signifikanten Jobabbau aufgrund von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz.
Deutlich höher ist das Vertrauen der Manager dagegen in die Resilienz des eigenen Unternehmens. Hier erwarten 30 % der Befragten eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch digitalen und demografischen Wandel. Weitere 61 % stimmen dieser Aussage zum Teil zu.
Hoffnungsvoll äußert sich auch Strategieberater Schiegg: „Die Erfahrung aus vergangenen Zeiten stimmt mich zuversichtlich. Die deutsche Industrie ist immer wieder gestärkt aus tiefen Krisen hervorgegangen. Der Mut und die Innovationskraft sind vorhanden.“
Andrea Gruß, CHEManager
Zur Person

Andrea Gruß konzipiert die CHEMonitor-Umfragen in Zusammenarbeit mit Santiago Advisors. Sie berichtet über die Ergebnisse des Trendbarometers bereits seit Gründung des CHEMonitor-Panels im Jahr 2007. Die promovierte Chemikerin ist seit 1998 Mitglied des CHEManager-Teams. Ihre Themenschwerpunkte sind Strategie und Management, Nachhaltigkeit und Arbeitswelt.
Anbieter
Santiago AdvisorsJagdschlößchen Anrath
47877 Willich
Deutschland
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