Die Enzyklopädie der Technischen Chemie
100 Jahre jung und immer schon ein Pionier: Der Ullmann’s
Dass 1914 der erste Weltkrieg ausbrach und in seinem Verlauf das Gesicht der Welt nachhaltig veränderte, ist allgemein bekannt; dass auch andere Ereignisse dieses schicksalhaften Jahres noch bis in unsere heutige Zeit nachwirken, vielleicht weniger. So erschienen im Verlag Urban und Schwarzenberg die ersten beiden Bände eines zwölfbändigen Nachschlagewerkes, der „Enzyklopädie der technischen Chemie", herausgegeben von Professor Fritz Ullmann, der zu dieser Zeit in Berlin an der Technischen Hochschule und später an der Universität forschte und lehrte - in Halbleder gebunden und mit Goldprägung, wie es sich damals für ein Premium-Produkt gehörte. Der Preis der ersten Auflage ist leider nicht überliefert, ebenso wenig deren Druckauflage. Erfolgreich muss das Werk aber gewesen sein, denn bereits wenige Jahre nach Abschluss der ersten Auflage ließ der Verlag eine zweite folgen, die dann sogar noch einmal nachgedruckt werden konnte. Seitdem ist „Der Ullmann's" ein Muss für jeden technischen Chemiker.
In diesem Jahr wird der Ullmann's 100 Jahre jung - Anlass genug, wieder einmal in der ersten Auflage zu blättern und sich in das beginnende 20. Jahrhundert zurückzuversetzen. Die Bilder in der Randspalte, allesamt aus dem Ur-Ullmann's entnommen, geben einen Eindruck von der Welt der Chemie vor 100 Jahren. Manches mutet heutzutage befremdlich an, etwa die Verschwelung von Braunkohle zur Paraffinerzeugung. Manches wirkt fortschrittlich, wie die großtechnische Erzeugung von Milchpulver in Rotationstrocknern. Und anderes erzeugt ein Déjà-vu, wie der Abbau von Ölschiefer als Alternative zu den vermeintlich zur Neige gehenden förderbaren Rohölvorkommen, die auch vor 100 Jahren schon ein Thema waren.
Ullmann's im Spiegel der Zeit
Als der Ullmann's Anfang der 1970er Jahre zu VCH kam, wurde er dort das erste Buch mit einer hausinternen Redaktion, der zeitweise mehr als ein halbes Dutzend Mitarbeiter angehörten. Noch während die letzten Bände der 4. Auflage publiziert wurden, hatte die Redaktion schon mit dem nächsten Großprojekt begonnen: einer englischen Gesamtausgabe. Zwischen 1985 und 1996 wurde diese komplett neu geschriebene fünfte Auflage produziert, mithilfe von hunderten neu angeworbener Autoren aus aller Welt. Noch vor dem Siegeszug des Internets wurde der Ullmann's dann digitalisiert und auf CD für die Installation in lokalen Netzwerken angeboten. Das war 1997. Drei Jahre später schaffte der Ullmann's dann als erstes Großwerk von Wiley-VCH den Sprung ins Internet und wird seitdem in einer regelmäßig aktualisierten online-Ausgabe angeboten. Diese stellt seit einem Jahrzehnt die primäre Verbreitungsform für das Werk dar, ungeachtet der Tatsache, dass 2002 und 2011 zwei weitere gedruckte Gesamtausgaben erschienen sind.
Was sich in der Rückschau wie eine perfekt geplante Erfolgsgeschichte liest, war in Wirklichkeit der mehrfache Vorstoß in verlegerisches Neuland, der nicht nur allen Beteiligten eine Menge Kreativität und manchmal Frustrationstoleranz abverlangte, sondern auch die Bereitschaft, wirtschaftliche Risiken einzugehen. Soviel Pioniergeist verpflichtet, und so ist der Ullmann's auch heute noch in vorderster Reihe dabei, wenn es um die Einführung zukunftsweisender Technologien geht. Als eine der ersten Enzyklopädien verwendet der Ullmann's die neu entwickelte Smart Article-Technologie, die es ermöglicht, Substanzen allein anhand ihrer chemischen Struktur zu finden, zu vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen.
Kirk-Othmer: Pendant, Gegenspieler, Kompagnon
Der Ur-Ullmann's hatte bei all seiner Beliebtheit einen entscheidenden Makel: Man musste der deutschen Sprache mächtig sein, um ihn lesen zu können. Um diesem Missstand abzuhelfen, begannen in den 1940er Jahren Donald Othmer und Raymond Kirk von der New York University, ein englisches Pendant zum Ullmann's zusammenzustellen. Die Encyclopedia of Chemical Technology, die inzwischen unter dem Namen „Kirk-Othmer" firmiert, erschien seit 1947 in fünf gedruckten Auflagen bei Amerikas wichtigstem Chemieverlag, John Wiley & Sons. Mit der Übernahme von VCH im Jahre 1996 kamen so das inzwischen ebenfalls auf Englisch publizierte Original und sein US-amerikanisches Pendant verlegerisch unter ein Dach. Was ein Duell zweier Platzhirsche hätte werden können, wurde eine der mit Abstand erfolgreichsten Produktfamilien bei Wiley. Im Doppelpack sind die beiden Companion Works einfach unschlagbar, denn das in beiden zusammengetragene Wissen bietet Antworten auf (fast) alle Fragen, die im Zusammenhang mit chemischen Produkten und Prozessen auftreten können.
Fritz Ullmann's Weitsicht
Natürlich sind die 100 Jahre nicht spurlos an dem Jubilar vorübergegangen. Inhalt, Sprache, Verbreitungsformen - all dies hat sich wesentlich gewandelt. Gleich geblieben ist dagegen die Idee hinter dem Werk, wie ein Blick in das Vorwort von Fritz Ullmann aus dem Jahr 1914 zeigt:
„Ein klares und zutreffendes Bild von den gegenwärtigen Arbeitsweisen der Technik zu geben, gilt als der Hauptzweck des Werkes. [...] Dem enzyklopädischen Charakter des Werkes entsprechend, mußte die Anordnung des Stoffes alphabetisch sein. Doch schien es im Interesse der Übersichtlichkeit und zur Vermeidung von Wiederholungen zweckmäßig, Gebiete, welche stofflich eng zusammen gehören, auch äußerlich aneinander zu schließen. So ist z. B. die „Soda" unter „Natriumverbindungen" abgehandelt, in ähnlicher Weise sind die anorganischen Salze und Oxyde immer im Anschluß an die betreffenden Elemente beschrieben. [...] Auf diese Weise bilden große, zusammenfassende Einzelartikel den Grundstock des Werkes, dazwischen sind zahlreiche kleinere Abhandlungen und Hinweise auf die etwa vorhandenen Hauptartikel eingereiht. In allen Fällen bringen die einzelnen Abhandlungen, welche z. T. bisher geheim gehaltene Verfahren zum Gegenstand haben, nach einer historischen Einleitung eine kurze Beschreibung der älteren Arbeitsweisen, an welche die ausführliche Schilderung der gegenwärtigen Methoden geschlossen ist. Neben- und Abfallstoffe, Analyse und Verwendung, sowie die wirtschaftlichen Momente, namentlich die Preisverhältnisse und die Statistik sind bei den wichtigeren Produkten besonders eingehend berücksichtigt worden. Durchweg ist großer Wert auf recht ausführliche Quellenangabe gelegt und die einschlägige Patentliteratur kritisch verarbeitet worden."
Mit dieser Vision bewies Fritz Ullmann eine bemerkenswerte Weitsicht, denn noch heute orientiert sich der Ullmann's erfolgreich an seinem damaligen Leitbild.
Längst haben andere sein Erbe weitergetragen. Der heutige Ullmann's trägt die Handschrift von Barbara Elvers, die seit 1987 als Redakteurin und seit 2008 als Editor-in-Chief die Geschicke des Werkes leitet. Unterstützt wird sie dabei durch ein Editorial Advisory Board aus 22 Fachleuten, die zur Hälfte aus der Industrie und aus der akademischen Forschung kommen. Und aus den 150 Autoren der ersten Auflage sind inzwischen 3000 geworden, darunter viele aus Staaten, die es vor 100 Jahren noch gar nicht gab.
Mit 100 Jahren immer noch die Nummer 1
Der Ullmann's ist mit mehr als 30.000 Seiten nicht nur die umfangreichste, sondern auch die meistgenutzte Enzyklopädie bei Wiley-VCH. Seit Jahren führt er mit großem Abstand die Statistik bei den Online-Zugriffen an, und wohl kaum ein Nachschlagewerk wird so oft und so gern zitiert wie der Ullmann's. Mit Nutzern aus mehr als 130 Ländern ist er zu einer Weltmarke geworden, die von Alaska bis Neuseeland, von Südafrika bis Korea eine verlässliche Quelle für Fachinformation darstellt. Sein hohes Alter kommt seiner Popularität durchaus zu Gute. Technische Prozesse, die zur Routine geworden sind und aus der aktuellen Fachliteratur mehr oder weniger verschwunden sind, finden sich hier Seite an Seite mit neuesten Verfahren. Das hilft dem Anlagenbetreiber bei der Frage, ob und wann ein Prozess umgestellt werden soll und dem Patentanwalt bei der Entscheidung, inwieweit ein neues Verfahren einen Fortschritt gegenüber dem Stand der Technik darstellt. Mit seiner schier unerschöpflichen Fülle an Daten und Informationen, die an anderer Stelle kaum zu finden sind, ist der Ullmann's ein ganzes (Berufs-)Leben lang ein verlässlicher Begleiter.
Im Jubiläumsjahr haben wir uns für den Ullmann's Einiges vorgenommen: Wir blicken zurück, mit Ausschnitten aus historischen Artikeln von 1914 auf der Homepage und mit einer Artikelserie in CHEManager und CHEManager International, in der Ullmann's-Autoren anhand ausgewählter Produkte und Prozesse exemplarisch die Geschichte der chemischen Industrie in den letzten 100 Jahren nachzeichnen.
Und wir blicken nach vorn, indem wir den großen Wissensschatz des Ullmann's für die Ausbildung einer neuen Generation von Chemikern und Ingenieuren leichter zugänglich machen. Dazu wird im Jubiläumsjahr unter dem Titel „Ullmann's Academy" eine neue Artikelserie erscheinen, die in Kurzform Konzepte und Methoden der industriellen Chemie vorstellt - frei zugänglich und mit dem Hintergrundwissen in den entsprechenden Ullmann's-Artikeln verknüpft. Wir sind überzeugt, damit ganz im Sinne von Fritz Ullmann zu handeln, der sein Lebenswerk in den Dienst der Aufbereitung und der Verbreitung von Wissen gestellt hat und dessen Name heute zu einem Synonym für umfassende und zuverlässige Fachinformation geworden ist.