Eine Analyse der ökonomischen Bedeutung des US-amerikanischen Arzneimittelmarktes und Beleuchtung der engen Verflechtungen pharmazeutischer Lieferketten aus europäischer Perspektive.

Am 2. April 2025 erließ die Trump-Administration weitreichende Importzölle auf Waren aus einer Vielzahl von Ländern weltweit. Gegenzölle und die Androhung weiterer Verschärfungen prägen seither den Welthandel. Die Befürchtungen wachsen, dass der eskalierende Handelskonflikt erhebliche wirtschaftliche Folgen auf die Pharmaindustrie haben und die Versorgung mit Arzneimitteln gefährden könnte.
Dieser Artikel analysiert die ökonomische Bedeutung des US-amerikanischen Arzneimittelmarkts und beleuchtet die engen Verflechtungen pharmazeutischer Lieferketten aus europäischer Perspektive. Auf Basis eines Simulationsmodells werden potenzielle negative Auswirkungen von Zollerhöhungen auf Unternehmen sowie auf die Arzneimittelversorgung aufgezeigt. Abschließend wird dargestellt, inwiefern Prescriptive Analytics dazu beitragen können, bestehende Unsicherheiten in Lieferketten abzufedern und deren resilienten Umbau zu fördern.
Verzahnte Lieferketten: Europas Pharmaindustrie und der US-Markt
Spätestens seit Anfang dieses Jahres rückte das Thema Zölle auch in den Fokus der pharmazeutischen Lieferketten. Viele Unternehmen berichten, dass sie Task Forces gebildet haben, um mögliche Zollmaßnahmen zu analysieren und gezielt darauf reagieren zu können.
Bislang sahen internationale Handelsabkommen für Arzneimittel vor, lebenswichtige Medikamente zollfrei zu stellen, um einen möglichst breiten Zugang zu gewährleisten. Entsprechend niedrig sind die durchschnittlichen Zollsätze: Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) liegt der Satz in der EU bei 1,5 %, China erhebt 4,5 %, und die USA verlangen mit 0,9 % deutlich weniger als der Durchschnitt aller WTO-Mitgliedsstaaten, der bei 4,8 % liegt.
Die ökonomische Bedeutung des amerikanischen Marktes ist immens. Laut Daten der europäischen Statistikbehörde wurden im Jahr 2023 Arznei- und Pharmaprodukte im Wert von 92 Mrd. EUR in die USA exportiert – das entspricht einem Drittel aller EU-Exporte in diesem Bereich. In Deutschland entfallen nach Angaben des VFA rund 23 % der Pharmaexporte auf die USA.
Die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) stellt Daten bereit, anhand derer sich die komplexen Verflechtungen der pharmazeutischen Lieferketten zwischen Europa und den USA analysieren lassen. In Grafik 1 wird auf Basis dieser Daten die Zahl der europäischen Produktionsstandorte für Arzneimittel und Wirkstoffe je Land dargestellt. Insgesamt produzierten 1.092 Standorte in Europa Arzneimittel und Wirkstoffe für den US-amerikanischen Markt. 167 dieser – kurzfristig kaum veränderbaren – Produktionsstandorte für Wirkstoffe und Fertigarzneimittel befinden sich in Deutschland.



Erheblicher Einfluss von Zöllen auf Arzneimittelverfügbarkeit und Exportgewinne
Die makroökonomische Bedeutung der pharmazeutischen Industrie und ihres Exports in die USA ist groß. Doch welche Auswirkungen haben mögliche Zölle auf die Lieferketten einzelner Unternehmen? Mittels eines stochastischen Optimierungsmodells aus dem Feld der Prescriptive Analytics werden auf Seite 26 in Grafik 2 die Auswirkungen von Zöllen auf die in den USA erzielbaren Gewinne sowie auf die Verfügbarkeit von Medikamenten für amerikanische Patienten simuliert. Die Methodik bildet dabei die grundlegenden Planungsalgorithmen in pharmazeutischen Lieferketten ab. Der Zollwert (Customs Value) wurde auf Basis der Herstellkosten geschätzt.
Die linke Hälfte der Grafik 2 auf Seite 26 zeigt die Simulationsergebnisse für ein Originalpräparat mit einer Bruttomarge von 50 % und einem Prognosefehler der Nachfrage von 30 %. Unter der Annahme eines initialen Zollsatzes von 0 % zeigt sich, dass steigende Zölle sowohl die Verfügbarkeit der Arzneimittel als auch die Gewinne der Unternehmen aus dem Export von Arzneimitteln negativ beeinflussen.
Bei einem Zollsatz von 20 % könnte sich die Verfügbarkeit der Arzneimittel um etwa 2 % reduzieren, während die Gewinne der Unternehmen deutlich um rund 23 % zurückgehen würden, sofern die Zollkosten nicht an die Abnehmer weitergegeben werden können. Diese Ergebnisse sind insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass europäische Pharmaunternehmen stark vom US-amerikanischen Markt abhängig sind: Laut Konzernbericht erzielt bspw. Novo Nordisk etwa 60 % seines Umsatzes in den USA, bei Novartis sind es rund 40 %. Derartige Gewinneinbußen würden daher absehbar auch die Refinanzierung der Forschungs- und Entwicklungskosten von Arzneimitteln einschränken.
Bezüglich der Arzneimittelversorgung wären Zollerhöhungen besonders gravierend bei Generika, die üblicherweise niedrigere Bruttomargen aufweisen. Die rechte Hälfte von Grafik 2 zeigt die Ergebnisse für ein Generikum mit einer Bruttomarge von 15 %, bei einem Prognosefehler von abermals 30 %. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass bereits moderate Zollerhöhungen Verfügbarkeit und Gewinne regelrecht einbrechen lassen. Die Konsequenz: Eine Belieferung der USA könnte wirtschaftlich nicht mehr tragfähig sein, wenn die Zollerhöhungen vollständig vom Importeur getragen werden müssen. Und aus Sicht des amerikanischen Gesundheitswesens wäre die Alternative auch wenig positiv: Eine vollständige Kompensation der zu erwartenden negativen Effekte eines Zollsatzes von 20 % wäre in den betrachteten Fällen nur durch eine Preiserhöhung von 10 % bzw. 17 % zu erreichen.
Wie stochastisch-preskriptive Analytics Lieferketten stärken können
Hohe Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Zollentwicklung sowie die Frage nach einer zielführenden Reaktion beschäftigen auch die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie. Wie bei nahezu allen Maßnahmen im Bereich des Risikomanagements ist ein zentraler Schritt zunächst, Transparenz über die Auswirkungen unterschiedlicher Szenarien zu gewinnen. Gleichzeitig benötigen insbesondere weiterreichende Entscheidungen wie neue Produktionsstandorte eine Methodik, welche der hohen Unsicherheit gerecht wird.
Grafik 3 fasst zusammen, wie stochastisch-preskriptive Analytics nicht nur – wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben – simulative Abschätzungen ermöglichen, sondern auch die Neuausrichtung ganzer Lieferketten unterstützen können. Neben der End-to-End-Betrachtung der Lieferketten liegt ihre Stärke darin, dass eine Vielzahl möglicher Szenarien für die Zollentwicklung simultan berücksichtigt werden kann, wodurch eine optimale Anpassung des Netzwerks über unterschiedliche Entwicklungen hinweg ermöglicht wird.
Derartige Analytics kommen bereits seit Jahren erfolgreich z. B. in der Automobilindustrie zum Einsatz – einer Branche, die einerseits mit hoher Unsicherheit in der Unternehmensumwelt konfrontiert ist und andererseits seit jeher mit komplexen Zollfragen und Local-Content-Regelungen umgehen muss. Stochastisch-preskriptive Analytics eröffnen auch der Pharma- und Biotechindustrie neue Möglichkeiten, ihre Lieferketten so zu gestalten, dass sie sowohl resilient als auch flexibel genug sind, um den zu erwartenden geopolitischen Unwägbarkeiten wirkungsvoll zu begegnen.

David Francas
Professor für Data und Supply Chain Analytics, Hochschule Worms