Biobasierte Chemieproduktion
Weiße Biotechnologie öffnet das Tor zu einer biotechnologisch-petrochemischen Hybridchemie
Die weiße Biotechnologie hat sich zu einem Innovationsmotor der chemischen Industrie entwickelt. Bislang waren die Chancen für einen biotechnologischen Produktionsweg um so größer, je komplexer die Chemie war. Vor dem Hintergrund schwindender Ölreserven ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen: Die Biotechnologie wird zunehmend auch für die Produktion von Massenchemikalien auf der Basis nachwachsender Rohstoffe interessant. Damit zeichnet sich ein Wandel ab, der die Produktionswege der Chemieindustrie grundlegend ändern wird. Der Münchner Wacker-Konzern sieht sich für diese Entwicklung exzellent positioniert.
Die heutige chemische Industrie basiert auf petrochemischen Rohstoffen: Erdöl und - in geringem Maße - Erdgas bilden die Rohstoffbasis für über 90 % aller organischen Chemikalien. Insbesondere werden alle organischen Grundchemikalien und nahezu sämtliche organischen Massenchemikalien aus Erdöl hergestellt. Die chemische Industrie hat ein ausgeklügeltes Baustein- und Verbundsystem aufgebaut, das die petrochemischen Rohstoffe hocheffizient nutzt und die kostengünstige Produktion einer breiten Palette von Substanzen ermöglicht. Bis vor einigen Jahren bestand kein Anlass, dieses erfolgreiche System grundlegend zu ändern. Die hohen Energie- und Rohstoffpreise der letzten Jahre führten jedoch zum Umdenken. Inzwischen arbeitet die chemische Industrie an Wegen, ihre Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern. Hierbei ist die weiße (industrielle) Biotechnologie unverzichtbar.
Biotechnologie: etabliert für Fein- und Spezialchemikalien
Die weiße Biotechnologie hat sich in den letzten Jahren zu einem Innovationsmotor der chemischen Industrie entwickelt. Ihre Methoden und Verfahren gewinnen auch wirtschaftlich zunehmend an Bedeutung. Eine Marktstudie von McKinsey aus dem Jahr 2006 prognostiziert jährliche Wachstumsraten von rund 11 % bis 2010.
Derzeit wird die weiße Biotechnologie vor allem in der Fein- und Spezialchemie genutzt, insbesondere zur Herstellung chiraler Substanzen in enantiomerenreiner Form. Hier macht sich die Kehrseite des Baukastenprinzips bemerkbar: Petrochemische Verfahren sind in der Regel immer dann aufwendig und teuer, wenn komplexe Moleküle aufgebaut oder chirale Substanzen in enantiomerenreiner Form hergestellt werden müssen. Die weiße Biotechnologie hingegen erweist sich gerade in solchen Fällen als besonders erfolgreich. Proteine beispielsweise sind ausschließlich auf biotechnischem Weg zugänglich. Bis vor kurzem galt: Je komplexer die Chemie, desto größer die Chance für ein biotechnologisches Produktionsverfahren.
Zur Produktion von Fein- und Spezialchemikalien haben sich drei Technologieplattformen als unverzichtbare Werkzeuge etabliert: Biotransformationen, Metabolic Design und Proteinproduktion. So werden heute mehr als zwei Drittel aller enantioselektiven Synthesen enzymatisch durchgeführt. Die biotechnologischen Verfahren sind hier effizienter und kostengünstiger als klassische chemische Verfahren.
Bei der Herstellung von Chemikalien, die Metabolite von Mikroorganismen sind, lösen zunehmend Fermentationen die herkömmlichen, meist mehrstufigen chemischen Synthesen ab. Hier sind moderne Fermentationsverfahren derzeit immer dann konkurrenzfähig, wenn die Produkte nicht zu den billigen Bulkchemikalien zählen und wenn der Markt groß genug ist, den gesamten Aufwand für die F&E und die Prozessinnovation zu tragen. In diesem Sinne verfährt auch die Wacker Chemie AG, die auf biotechnischem Weg chirale Alkohole, Cyclodextrine, natürliche und unnatürliche Aminosäuren sowie Proteine herstellt.
Bioethanol - eine biotechnisch erzeugte Massenchemikalie
Bei den Bulkchemikalien (Massenchemikalien; Stoffe mit jährlichen Produktionsmengen von über 100.000 Tonnen) ist die Lage noch anders. Bislang werden nur wenige organische Bulkchemikalien biotechnisch erzeugt, Beispiele sind Ethanol („Bioethanol"), Acrylamid, 1,3-Propandiol (für die Herstellung von Polytrimethylenterephthalat) und Milchsäure (für die Produktion von Polylactid). Nach Angaben des Bundesverbands der deutschen Bioethanolwirtschaft lag die Weltproduktion von Bioethanol 2006 bei über 40 Mio. Tonnen, getrieben vor allem durch die energetische Nutzung als „Biofuel". Allein in den USA sind bereits 100 Ethanolanlagen in Betrieb, 70 weitere sind im Bau.
Bei diesen Anlagen handelt es sich um Bioraffinerien der ersten Generation. Sie verarbeiten Stärke (in USA: Maisstärke) oder Saccharose aus Zuckerrohr (in Brasilien). Bioethanol wird derzeit vor allem energetisch genutzt; der Alkohol stellt aber auch einen interessanten C2-Baustein dar. In Brasilien ist Bioethanol billiger als der vergleichbare und wichtige petrochemische C2-Baustein Ethylen. Nach Expertenmeinung ist die Bioethanolherstellung ab einem Ölpreis von etwa 60 US-$ und damit auch die biotechnologische Gewinnung einfacher C2-Bausteine wirtschaftlich attraktiv.
Biogene Basischemikalien
In den letzten Jahren zeigte sich deutlich, dass die energetische und stoffliche Nutzung von petrochemisch hergestellten Massenchemikalien an Grenzen stößt. Die Erdöl- und Erdgasressourcen sind begrenzt; einige Förderregionen sind politisch instabil; die energetische Nutzung führt zu erheblichen Kohlendioxid-Emissionen. Der Ölpreis liegt zwar infolge der derzeitigen Konjunkturkrise bei rund 50 US-$ pro Barrel, die OPEC sieht ihn jedoch mittelfristig bei etwa 80 US-$ pro Barrel. Auf der anderen Seite steht die industrielle Biotechnologie, deren Methoden und Möglichkeiten seit den 1980er-Jahren gewaltige Fortschritte machten. Sie kann heute nicht nur das Methodenarsenal der chemischen Industrie erweitern, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Ressourcenschonung und zum Klimaschutz leisten.
Vor diesem Hintergrund arbeitet die chemische Industrie intensiv an biotechnischen Methoden, die zu Bulkchemikalien führen. Gesucht werden auch Wege zu kurzkettigen Grundbausteinen, die vom Erdöl unabhängig und CO2-neutral sind. Experten sprechen inzwischen von einem Paradigmenwechsel - die Sichtweise, biotechnologische Methoden seien zur Herstellung einfacher Grundstoffe nahezu chancenlos, gilt als überholt. Das Beispiel Bioethanol zeigt, dass die biotechnologische Produktion von Massenprodukten aus nachwachsenden Rohstoffen nicht nur machbar, sondern auch wirtschaftlich konkurrenzfähig sein kann.
Diese Entwicklung wirft Fragen auf: Welche Basischemikalien, die heute noch petrochemisch erzeugt werden, werden in Zukunft biogen zugänglich sein? Welche Basischemikalien wird die Großchemie von Bioraffinerien beziehen, welche Rohstoffe wird sie selbst an ihren Produktionsstandorten aus nachwachsenden Rohstoffen herstellen - etwa aus pflanzlichen Abfällen, die aus der Landwirtschaft in der Umgebung der Standorte stammen? Lassen sich Neben- und Abfallströme der Bioethanolproduktion nutzen? Welche Chancen für neue Produkte bietet ein biotechnologischer Zugang zu Massenchemikalien? Kann die chemische Industrie beispielsweise den Bioraffinerien, einem Wachstumsmarkt, neue Produkte oder Verfahren anbieten? Erhebliche F&E-Anstrengungen sind notwendig, um die Fragen zu beantworten und die notwendigen innovativen Technologien zu entwickeln.
Innovationen und Investitionen sind notwendig
Aus den Fragen lassen sich etliche Innovationsfelder ableiten. So sind optimierte Bioraffinerie-Konzepte notwendig, um die Wertschöpfung der Raffinerien zu maximieren. Heute wird bereits intensiv an Bioraffinerien der zweiten Generation gearbeitet, die Lignocellulose als Ausgangsstoff zur Ethanolgewinnung nutzen und damit Pflanzenabfälle wie etwa Stroh oder Bagasse verwerten.
Experten sehen bereits Bioraffinerien der dritten Generation, die Pflanzen als Ganzes in viele unterschiedliche, optimierte Stoffströme zerlegen - ein wichtiges Innovationsgebiet. Es müssen Wege erarbeitet werden, wie die von den Bioraffinerien gelieferten, funktionalisierten Verbindungen in chemische Produktionsketten integriert werden können; Stichworte hierzu sind neue Synthesewege, Chemie in wässrigen Systemen, kostengünstige Aufarbeitung von Fermentationsbrühen.
In einem neuen Forschungsschwerpunkt werden derzeit im Consortium für elektrochemische Industrie, der zentralen Forschungseinheit des Wacker-Konzerns, innovative Wege entwickelt, um Ethylen und Essigsäure, zwei Basischemikalien mit strategischer Bedeutung für das Unternehmen, wirtschaftlich aus nachwachsenden Rohstoffen zu produzieren. Ein Projekt widmet sich beispielsweise dem chemo-enzymatischen Aufschluss von Lignocellulose mit dem Ziel, fermentative Routen zu C2- und C4-Building-Blocks zu entwickeln.
Bei diesen Forschungsprojekten, die im Rahmen des Clusters IBP (Industrielle Prozesse mit Biogenese Building Blocks und Performance Proteinen), einem von bundesweit insgesamt fünf im BMBF-Förderprogramm „BioIndustrie 2021" ausgezeichneten Kompetenz-Clustern, gefördert werden, arbeitet Wacker eng mit Hochschul- und Fraunhofer-Instituten zusammen. Weitere Forschungsprojekte des Bereichs Biotechnologie - ebenfalls in Kooperation mit externen Partnern - widmen sich unter anderem der Verbesserung von Produktionsstämmen durch Genomic Design und durch Methoden der Systembiologie.
Bei der Nutzung nachwachsender Rohstoffe spielt die Biotechnologie eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Erarbeitung der notwendigen Technologien in den Chemieunternehmen ein Forschungsthema von strategischer Bedeutung; massive Investitionen in eine prä-kompetitive Forschung sind notwendig. Von großer Bedeutung sind dabei auch Rahmenbedingungen, die eine zügige Entwicklung von Verfahren bis hin zur Marktreife erleichtern. Hilfreich wäre zum Beispiel eine öffentliche Förderung, die F&E-Projekte vom Labor bis hin zu Pilot- und Demonstrationsanlagen begleitet, sowie der Abbau fiskalischer und politischer Hemmnisse und wettbewerbsverzerrender Regularien.
Fazit und Ausblick
Für die chemische Industrie ist die Biotechnologie eine der Schlüsseltechnologien für die Entwicklung von ökonomisch und ökologisch erfolgreichen neuen Prozessen und Produkten. Sie ermöglicht eine erdölunabhängige, CO2-neutrale Produktion vieler Substanzen und bahnt Wege zu einer „grünen Chemie". Aus unserer Sicht wird sich mittelfristig eine Verbundchemie auf der Basis nachwachsender Rohstoffe entwickeln und eine biotechnologisch-petrochemische Hybridchemie etablieren. WACKER ist für diesen Weg durch seine laufenden F&E-Projekte und seine langjährige Erfahrung exzellent positioniert.
Zentrale Plattformen der weißen Biotechnologie
Biotransformation: Chemische Umwandlung von Substanzen mit Hilfe von Enzymen oder ganzen Zellen. Die gewünschte Reaktion wird durch das eingesetzte Enzym (bzw. die Zellen) katalysiert.
Metabolic Design: Gezielte Optimierung des Stoffwechsels von Mikroorganismen mit dem Ziel, Metabolite (Stoffwechselprodukte) durch eine Fermentation in hohen Ausbeuten und mit niedrigen Kosten zu gewinnen.
Proteinproduktion: Produktion eines Proteins - als Verkaufsprodukt oder zum eigenen Gebrauch als technisches Enzym - durch optimierte Mikroorganismen in einem Fermenter.