Chemiekonjunktur – Europas Chemie im Lockdown
Die Chemieindustrie in der EU musste ihre Produktion aufgrund der Covid-19-Pandemie kräftig drosseln. Das Vorkrisenniveau könnte erst im Jahr 2022 wieder erreicht werden.


Europas Wirtschaft war bereits 2019 ins Stocken geraten. Das Bruttoinlandsprodukt legte nur noch leicht zu. Die Industrie befand sich sogar in einer Rezession, denn das zunehmend protektionistische Umfeld und der bevorstehende Brexit machten vielen Industrieunternehmen zu schaffen. Hinzu kam, dass der Standort Europa gegenüber der internationalen Konkurrenz weiter an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. In der Folge hielten sich viele Unternehmen mit Investitionen zurück und führten Kostensenkungs- und Effizienzmaßnahmen durch. Gleichzeitig erfordern jedoch Digitalisierung und Nachhaltigkeit eine Umstellung der Produktportfolios, Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle. Diese Phase der Transformation kostet die Unternehmen viel Kraft. Anfang 2020 kam unerwartet eine weitere Herausforderung hinzu: die Covid-19-Pandemie.
Um die Verbreitung des Virus zu stoppen und ein Zusammenbrechen der Gesundheitsversorgung zu verhindern, waren nahezu alle Länder der Welt gezwungen, Ausgangsverbote und Kontaktsperren zu verhängen. Schulen, Kitas, Hotels, Gaststätten und Geschäfte wurden geschlossen sowie grenzüberschreitende Reisen eingeschränkt. In Europa erfolgte der Lockdown zunächst in Italien und der Schweiz. Ab Mitte März folgten die restlichen Länder Europas sowie die USA und viele Schwellenländer. Innerhalb eines Monats sank die Wirtschaftsleistung durch den Lockdown dramatisch. Besonders kräftig wurde die Industrieproduktion gedrosselt. Die Automobilindustrie hat nicht nur in Europa vorübergehend die Produktion eingestellt. Entsprechend stark sank die Nachfrage nach Chemikalien und Kunststoffwaren. Das volle Ausmaß des Wirtschaftseinbruchs wurde aber erst im zweiten Quartal sichtbar (Grafik 1).

Starker Produktionsrückgang
Die Produktion der europäischen Chemie- und Pharmaindustrie war in den vergangenen Jahren kontinuierlich mit knapp 3 % pro Jahr solide gewachsen. Allerdings zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen dem Chemie- und Pharmageschäft. Während die Pharmaproduktion pro Jahr um mehr als 5 % zulegte, blieb die Chemieproduktion ohne Dynamik (+0,5 % p. a.). Im Chemiegeschäft hellten sich zu Jahresbeginn 2020 die Aussichten nach dem Minus des Vorjahres etwas auf. Mit dem Lockdown der Weltwirtschaft brach aber die Chemienachfrage zunächst in China und anderen asiatischen Volkswirtschaften ein. Es folgten Europa und schließlich auch die USA. Die europäische Chemie musste die Produktion ab März daher kräftig drosseln (Grafik 2).
Aber nicht nur die schwache Nachfrage machte den Unternehmen zu schaffen. Als Folge des globalen Shutdowns waren die Lieferketten erheblich gestört. Die Aufrechterhaltung des Geschäfts erforderte umfangreiche Hygienemaßnahmen. Weite Teile der Belegschaften gingen ins Homeoffice. Geschäftsreisen waren ebenso wie Meetings nicht mehr möglich.
Als systemrelevante Branche war die Chemie- und Pharmaindustrie aber nicht direkt vom Shutdown betroffen. Viele Produkte wurden nach wie vor gebraucht. Das galt insbesondere für Desinfektionsmittel oder Reinigungsmittel für den Kampf gegen Corona. Die Notfallversorgung bescherte einigen Unternehmen sogar eine gewisse Sonderkonjunktur.

Preise und Margen unter Druck
Während die Pharmapreise wie schon in den vorangegangenen Jahren auch im ersten Halbjahr 2020 stabil blieben, gerieten die Chemikalienpreise im Zuge der Coronakrise kräftig unter Druck (Grafik 3). Zum einen waren die Unternehmen angesichts des Nachfragerückgangs gezwungen, sinkende Rohstoffpreise umgehend an die Kunden weiterzugeben. Zum anderen erfolgte die Notfallversorgung mit Desinfektionsmitteln und ihren Vorprodukten zum Selbstkostenpreis oder sogar als Spende. Im Vorjahresvergleich gaben die Chemikalienpreise zuletzt um mehr als 7 % nach.
Im Zuge der Coronakrise ist die Nachfrage nach Rohöl deutlich zurückgegangen. Der Ölpreis sank kräftig. In Europa folgte der Preis für Naphtha, dem wichtigsten Rohstoff der Chemieindustrie, dem Rohölpreistrend. Im April sank der Preis für Rohbenzin um mehr als 60 % auf rund 140 EUR/t. Die Kontraktpreise für Ethylen, Propylen oder Benzol sanken zuletzt um 30 %. Aber nicht nur in der Grundstoffchemie, sondern in weiten Teilen des Chemiegeschäftes sind die Preise derzeit rückläufig. Zeitgleich steigen die Kosten in den Chemieunternehmen kräftig. Hierzu tragen neben der niedrigen Kapazitätsauslastung, gestiegenen Frachtraten vor allem die Corona bedingten Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeiter bei. Die Gewinnmargen gerieten zunehmend unter Druck.

Produktionsrückgang unterschiedlich stark
Das Chemiegeschäft in den europäischen Volkswirtschaften ist unterschiedlich stark von der Coronakrise betroffen (Grafik 4). Ein Blick auf die Produktion bedeutender europäischer Chemieländer zeigt: Insbesondere Italien und Frankreich sind stark betroffen; hier sank die Chemieproduktion im zweistelligen Bereich. Die Gesundheitsversorgung war in diesen Ländern am Limit. Entsprechend restriktiv fiel dort der Shutdown aus. Zudem war gerade in Italien der industrielle Kern des Landes betroffen. Auf der anderen Seite kommt die deutsche oder die britische Chemie- und Pharmaindustrie bisher vergleichsweise gut durch die Krise

Ausblick: zögerliche Erholung
Im Verlauf des zweiten Quartals haben viele europäische Volkswirtschaften mit Lockerungen des Shutdowns begonnen. Die Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Der Güterverkehr nimmt wieder zu. Restaurants, Hotels und der Handel haben wieder geöffnet. Die Zahl der neu zugelassenen Autos nimmt auf niedrigem Niveau deutlich zu und die Automobilindustrie fährt ihre Produktion wieder hoch.
„Das Vorkrisenniveau dürfte
frühestens 2022 wieder erreicht werden.“
Die Stimmung in der Industrie steigt – auch in der Chemieindustrie. Die Branche hofft auf eine rasche Belebung der Chemienachfrage. Im Juni scheint die europäische Chemie die Talsohle durchschritten zu haben (Grafik 5). Allerdings werden die Überwindung der Krise und die Rückkehr zur Normalität Zeit brauchen. Denn der Shutdown ist nur gelockert und nicht beendet. Solange es gegen das neue Coronavirus keine wirksame Impfung gibt, bleiben umfangreiche Hygienemaßnahmen in Kraft. Im Handel und Gastgewerbe wird ebenso wie im Verkehrssektor oder der Reisebranche noch längere Zeit kein „Normalbetrieb“ möglich sein. Auch in der Industrie werden die Schutzmaßnahmen weiter aufrechterhalten werden.
Vor diesem Hintergrund rechnet der Verband der Chemischen Industrie im europäischen Chemiegeschäft nur mit einer zögerlichen Erholung. Das Vorkrisenniveau dürfte frühestens 2022 wieder erreicht werden.

Autor: Henrik Meincke, Chefvolkswirt, Verband der Chemischen Industrie e. V., Frankfurt am Main
CHEManager 7/2020
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