Wachstum, das Wert schafft
Wie europäische Chemieunternehmen komplexe Geschäfte profitabel managen
Was sind die Erfolgsfaktoren für profitables Wachstum? Und welche Trends sollten europäische Chemieunternehmen beachten, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben?
Dr. Andrea Gruß sprach darüber mit Dr. Udo Jung, Senior Partner bei der Boston Consulting Group (BCG) in Frankfurt.
CHEManager: Wie korrelieren Wachstum und Wertschöpfung von Unternehmen?
Dr. Udo Jung: Unsere Analyse der 500 größten börsennotierten Unternehmen über zehn Jahre ergab, dass etwa drei Viertel der Wertsteigerung durch Wachstum generiert wurden und ein deutlich geringerer Anteil durch die Steigerung der Marge. Umsatzwachstum allein garantiert jedoch keine Wertschöpfung. Das Wachstum muss auch profitabel sein.
Wie profitabel wachsen europäische Chemieunternehmen?
Dr. Udo Jung: Betrachtet man einzelne Unternehmen der Chemiebranche, so sind die Anteile der Wertsteigerung aus Umsatzwachstum oder aus der Marge durchaus unterschiedlich und abhängig davon, welche „Hausaufgaben" ein Unternehmen gerade zu erledigen hat. Ein Beispiel hierfür ist Lanxess: Das Unternehmen hat nach der Abspaltung vom Bayer-Konzern in den Jahren 2003 bis 2007 seinen Wert zunächst über die Marge gesteigert, u.a. durch den Verkauf des ABS-Geschäfts an Ineos. In den Jahren danach gewann bei Lanxess der Anteil des Umsatzwachstums an Bedeutung. Eine ähnliche Entwicklung, zeitlich etwas verschoben, durchläuft der französische Konzern Arkema, der durch die Ausgliederung des Chemiegeschäfts aus dem Total-Konzern entstand.
Das Unternehmen ist in den vergangenen fünf Jahren in Bezug auf den Umsatz kaum gewachsen, konnte aber seine Marge stark verbessern und hat nun eine Wachstumsstrategie erarbeitet. Und das ist letztlich auch die richtige Reihenfolge. Nicht von ungefähr heißt es: "You have to earn the right to grow." Es muss zunächst Profitabilität sichergestellt werden - dies ist die Basis für Wachstum. Die umgekehrte Reihenfolge - durch reines Umsatzwachstum die Profitabilität zu steigern - ist sehr oft eine Illusion.
Ein schneller Weg zur Umsatzsteigerung ist die Akquisition. Sie haben die Wertschöpfung von Mergers & Akquisitions analysiert. Mit welchem Ergebnis?
Dr. Udo Jung: Die Statistik sagt, dass nur ungefähr 50% der Akquisitionen auch Wert schaffend sind. Hierfür gibt es rückblickend einige Beispiele: Vor etwa zwölf Jahren gab es in der Chemieindustrie eine Welle an Akquisitionen in der Feinchemie: DSM übernahm Catalytica. Evonik, damals noch Degussa-Hüls, kaufte Laporte und Clariant die Feinchemiegruppe BTP.
Damals war man überzeugt, Feinchemie ist ein Wachstumsfeld und viele pharmazeutische Unternehmen werden verstärkt strategisches Outsourcing bei der Wirkstoffproduktion betreiben. Das ist nicht erfolgt. Die Akquisitionen haben sich als Fehlpässe entpuppt; alle der genannten Unternehmen mussten später fast die gesamte Akquisition abschreiben.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Beispiele, bei denen Unternehmen massiv in eigene Anlagen investiert haben, die dann am Ende auch nicht Wert schaffend waren, weil sie beispielsweise einfach zu klein waren.
Wie lassen sich „Fehlpässe" vermeiden?
Dr. Udo Jung: Wichtig sind eine bewusste Verzahnung von Geschäfts- und Asset-Strategie und eine differenzierte Investitionsstrategie. Wo ein Unternehmen über proprietäre Technologien verfügt, über eigene Anlagen und werthaltige Produkte mit langfristigen Perspektiven, d.h. Wachstumspotential für fünf bis zehn Jahre, da sollte im Zweifel mutiger investiert werden. Ist der Lebenszyklus eines Produkts oder einer Technologie jedoch weiter fortgeschritten, sollten Unternehmen über sog. Asset-light-Geschäftsmodelle nachdenken. Das kann z.B. ein Produktions-Joint-Venture mit einem Wettbewerber sein.
Welche Wachstumstreiber sollten Chemieunternehmen bei ihrer Investitionsstrategie berücksichtigen?
Dr. Udo Jung: Das Chemiewachstum korreliert nicht nur mit dem Bevölkerungswachstum, sondern auch stark mit dem Anstieg des Bruttosozialprodukts, also dem Wachstum des Wohlstands einer Gesellschaft. Mehr als zwei Drittel des globalen Wachstums der chemischen Industrie bis zum Jahr 2020 und annähernd 50% der globalen Chemienachfrage werden daher in Asien stattfinden. Der Schwerpunkt von Wachstum und Nachfrage verschiebt sich. Europäische Chemieunternehmen bauen schon heute verstärkt Produktionsstätten in Asien für Asien. Auch die Forschung und Produktentwicklung erfolgt immer häufiger vor Ort. Für eine detailliertere Wachstumsprognose ist es dabei wichtig, zwischen den einzelnen Ländern Asiens - und auch innerhalb der großen Länder - zu differenzieren.
Wie unterscheidet sich beispielsweise das Marktpotential Chinas von dem Indiens?
Dr. Udo Jung: In China wächst die Bevölkerung aufgrund der bekannten 1-Kind-Politik nicht mehr. Mittelfristig ist dort der Wachstumstreiber die „nächste Milliarde Konsumenten", also im Grunde der Anstieg des verfügbaren Einkommens pro Kopf bzw. des frei verfügbaren Haushaltseinkommens. Menschen können sich Produkte leisten, die sie vorher nicht kaufen konnten. Steigt der Wohlstand weiter, werden in einer zweiten Stufe der Nachfrage-Pyramide einfache Produkte durch qualitativ höherwertige Produkte ersetzt.
Als demografische Folge der 1-Kind-Politik wird es statistisch zu einer relativ schnellen Alterung der chinesischen Gesellschaft kommen. Wesentlicher Wachstumstreiber wird daher langfristig das Wohlstandswachstum sein - d.h. Wachstum entlang der „Qualitätspyramide" von Produkten. Anders in Indien: Hier kommt aufgrund der höheren Geburtenrate und der sehr jungen Bevölkerung als Wachstumstreiber eine demografische Dividende hinzu.
Wo sehen Sie noch Wachstumspotential für die Chemieindustrie in Europa?
Dr. Udo Jung: Ein Großteil des Wachstums wird künftig die Nachfrage nach Konsumgütern von Menschen über 55 Jahren generieren, denn dies ist die einzige, wachsende Bevölkerungsgruppe. In Deutschland werden etwa 85% des Konsumwachstums bis zum Jahr 2030 Verbraucher dieser Altersgruppe verursachen.
Hiervon profitieren indirekt auch diejenigen Chemieunternehmen, die für ihre Abnehmerindustrien spezifische Produkte entwickeln oder designen, welche dem Geschmack oder den Bedürfnissen der älter werdenden Gesellschaft angepasst sind.
Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Branche?
Dr. Udo Jung: In Europa oder den USA ist das strukturelle Wachstum der Chemieindustrie - d.h. das Wachstum in Bezug auf Kenngrößen, wie z.B. den Pro-Kopf-Verbrauch an Kunststoffen - begrenzt. Dennoch bieten sich auch hier weiterhin Wachstumspotentiale durch innovative Geschäftsmodelle, bei denen Unternehmen über die langläufigen Grenzen ihrer Branche hinaus in Richtung der Applikationen ihrer Produkte wachsen. Ein Beispiel: Die Übernahme von Millipore durch Merck. Durch die Akquisition ergänzte das Darmstädter Unternehmen sein Portfolio um innovative Technologien und Dienstleistungen für Pharma- und Biotechnologieunternehmen.
Die Grenze „Wo hört die Chemieindustrie auf und wo fängt die Applikationsindustrie an?" wird zunehmend verwischen. Dies zeigt sich z.B. auch im Bereich der Batterien für E-Mobilität. Während Chemieunternehmen hier zunächst nur als Zulieferer für Anoden- oder Kathodenmaterialien oder Membranen von Batterien agierten, gibt es heute bereits Kooperationen zur Herstellung ganzer Batteriesysteme.
Geht damit nicht eine zunehmende Komplexität des Geschäfts einher?
Dr. Udo Jung: Ja, aber solange „erforderliche" Komplexität - im Gegensatz zu unnötiger Kompliziertheit - mit einem differenzierten Marktangebot korreliert, kann sie zu einer höheren Profitabilität beitragen. Denn Geschäfte, die eine Komplexitätsanforderung haben, erzeugen Kundenbindung und sind Grundlage für Innovationen. Die Fähigkeit, unterschiedliche Geschäftsmodelle in einem Konzern zu steuern, zeichnet europäische und einige amerikanische Chemieunternehmen aus. Unsere Analysen zeigen, dass gerade europäische Chemieunternehmen gelernt haben, in sehr unterschiedlichen und differenzierten Segmenten Wert zu schaffen, indem sie komplexe Geschäfte unkompliziert steuern.
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