Märkte & Unternehmen

Deutsche Chemieproduktion bricht 2022 ein

Talsohle erreicht, aber Lage weiter kritisch

09.03.2023 - Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat im vierten Quartal 2022 ihre Talfahrt fortgesetzt. Die Produktion brach weiter ein und die Kapazitäten waren nicht ausgelastet.

Die sinkende Nachfrage der industriellen Kunden sowie rückläufige Erzeugerpreise bescherten der deutschen chemisch-pharmazeutischen Industrie im letzten Quartal des Jahres 2022 auch zu einem Umsatzrückgang im In- und Ausland.

Der Blick in die Zukunft hat sich in Deutschlands drittgrößter Industriebranche dagegen etwas aufgehellt. Die deutlich gesunkenen Energie- und Rohstoffpreise der vergangenen Monate haben die Situation inzwischen stabilisiert. Die Talsohle scheint erreicht. Der Verband der Chemischen Industrie rechnet aber nicht mit einer kraftvollen Erholung. Im internationalen Vergleich hohe Energiekosten, der Auftragsmangel und Standortprobleme sprechen dagegen. Die Lage am Chemie- und Pharmastandort Deutschland bleibt damit schwierig.

VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup kommentierte die aktuelle Situation: „Die Energiekrise hat es offenbart: Deutschland hat ein enormes Standortproblem. Ob Energie, Infrastruktur, Fachkräfte, Digitalisierung oder ein effizientes, leistungsfähiges Staatswesen: Wir glauben uns vorne, spielen aber im Ranking der Wirtschaftsstandorte inzwischen gegen den Abstieg. Nur ein industriepolitischer Neustart hält uns im Wettlauf um die Märkte der Zukunft in der ersten Liga. Dabei gilt: Weniger ist mehr. Weniger Regulation für mehr Transformation. Unsere Antwort auf den IRA (Inflation Reduction Act) der USA sollte ein RRA sein – ein Regulation Reduction Act.“

Die wirtschaftlichen Zahlen im Überblick:
1. Die Produktion ging im Vergleich zum Vorquartal um 5% zurück. Im Vorjahresvergleich entsprach dies einem Minus von 14%. Die Kapazitätsauslastung der Branche sank erneut und lag zuletzt bei 76,5%.

2. Die Erzeugerpreise sanken erstmals seit dem 2. Quartal 2020 wieder: im Vergleich zum Vorquartal um 0,3%. Damit waren chemische und pharmazeutische Erzeugnisse immer noch fast 18% teurer als ein Jahr zuvor.

3. Sinkende Nachfrage, starke Produktionsdrosselungen und rückläufige Erzeugerpreise führten im letzten Quartal des Jahres auch zu einem Rückgang der Umsätze. Der Gesamtumsatz der Chemie- und Pharmaindustrie sank saisonbereinigt um 3,7% auf insgesamt 59,2 Mrd. EUR.

4. Die Zahl der Beschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 0,5% gestiegen. Aktuell sind rund 475.560 Menschen in der Branche beschäftigt.

5. Betrachtet man das Gesamtjahr 2022, ging die Produktion um 6,6% zurück. Rechnet man das Pharmageschäft heraus, ist das Minus mit 11,9% sogar zweistellig. Das Umsatzplus in Höhe von 16,6% ist vor allem auf die Preissteigerungen von knapp 22% zurückzuführen. Hohe Preise führten wiederum dazu, dass die Verkaufsmengen um mehr als 5% zurückgegangen sind. Bei gleichzeitig rasant steigenden Energie- und Rohstoffkosten schrumpften letztendlich die Gewinne der Unternehmen.

Die schwierige Lage der Branche ist nicht nur auf massive Preissteigerungen und Versorgungsengpässe bei Strom- und Gas zurückführen. Zum bestehenden Kostenproblem kommt ein Nachfragemangel: Vielen Chemieunternehmen fehlen mittlerweile die Aufträge. Denn die Wirtschaft ist inzwischen weltweit im Abschwung. Das belastet nicht nur die Exporte, auch im Inlandsgeschäft bekommen die Unternehmen die wirtschaftliche Schwäche zunehmend zu spüren. Dabei sind die Rückschläge nicht allein auf die energieintensiven Industrien beschränkt. Zunehmend kämpfen auch andere Branchen mit den Folgen der Inflation und steigenden Zinsen.

Dass der befürchtete massive Einbruch der deutschen Wirtschaft ausgeblieben ist, liegt vor allem daran, dass eine akute Gasmangellage und ein Blackout verhindert werden konnten. Große Entrup: „Der Winter war für uns alle ein Ritt auf der Rasierklinge. Aber wir sind mit einem blauen Auge davon gekommen.“

Einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung leisteten dabei die energieintensiven Industrien, indem sie ihre Produktion drosselten und dadurch viel Gas und Energie einsparten. Viele Chemieanlagen stünden inzwischen still. Aber“, so warnte Große Entrup, „die Frage ist, ob sie angesichts der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit wieder angefahren werden.“

Zudem sei der Winter ungewöhnlich warm gewesen. Mittlerweile sind auch neue LNG-Terminals einsatzbereit, sodass Deutschland seine Gaslieferungen weiter diversifizieren kann.

2023 bleibt schwierig
Die deutlich gesunkenen Energie- und Rohstoffpreise der vergangenen Monate dürften die Situation im ersten Quartal 2023 stabilisieren. Das spiegelt sich auch in einem zuversichtlicher werdenden Geschäftsklima wider. Doch Große Entrup warnt: „Auch wenn sich die Stimmung aufhellt, die Sorgen bleiben und anders als in der Pandemie oder der Weltwirtschaftskrise wird es diesmal keine kraftvolle Erholung geben.“

Folgende vier Faktoren sprechen dagegen:
1. Die Inflation wird über mehrere Jahre erhalten bleiben.
2. Die Schwäche der Weltwirtschaft setzt sich fort.
3. Die Energiekrise in Deutschland und Europa ist noch nicht gelöst.
4. Deutschland hat ein massives Standortproblem.

Eine genaue Prognose ist angesichts volatiler Rahmenbedingungen weiterhin schwierig. Der VCI rechnet für das Gesamtjahr 2023 mit einem Produktionsrückgang von rund 5 Prozent. Rechnet man das Pharmageschäft heraus, dürfte die Produktion in diesem Jahr 8% niedriger liegen als 2022. Bei rückläufigen Preisen wird der Branchenumsatz in diesem Jahr voraussichtlich um gut 7% sinken.

Neuordnung im Chemiegeschäft
Welche Auswirkungen die aktuellen Entwicklungen auf die Unternehmensstrategien haben, zeigt eine Mitgliederbefragung des VCI. Viele Unternehmen planen, die Energieversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen, unter anderem durch Investitionen in die Eigenerzeugung (z.B. Solaranlagen oder Windparks) und energieeffiziente Produktionsverfahren. Ziel ist es, die nachhaltige Transformation weiter zu beschleunigen. Knapp 70% der Unternehmen gaben an, ihre Abhängigkeit von Vorprodukten aus Ländern mit hohem Risikopotenzial reduzieren zu wollen und ihre Lieferketten global zu diversifizieren. Zwar stellt fast jedes zweite Unternehmen seine Globalisierungsstrategie auf den Prüfstand, doch unterm Strich bleibt es dabei, dass die Unternehmen vom globalen Wachstum sowohl durch Exporte als auch durch Produktion vor Ort profitieren möchten.

Für die deutsche Chemieindustrie wird entscheidend sein, wie sich Kostenstrukturen und Energiepreise mittelfristig einpendeln. Erst dann wird man sehen, welche Anlagen hierzulande noch rentabel betrieben werden können. Es wird zu einem Strukturwandel kommen, denn nicht alle Produktionsanlagen, die im Zuge der Energiekrise stillgelegt wurden, werden wieder ans Netz gehen.

Industriepolitische Weichen für die Zukunft stellen
Schnelles Handeln ist gefragt, denn der globale Wettbewerb um die Märkte der Zukunft hat längst begonnen. „Unsere Branche kann einen Strukturwandel meistern, Wertschöpfung in Deutschland erhalten und die Versorgung der Industrie mit innovativen und nachhaltigen Materialien sicherstellen“, erklärt Wolfgang Große Entrup. Dazu braucht es jetzt ein industriepolitisches Sofortprogramm. „Heute werden die Weichen dafür gestellt, dass der Industriestandort Deutschland und Europa wieder gestärkt wird und der Klimaschutz hier und weltweit vorankommt.“

Deshalb setzt sich der VCI für folgende Punkte ein
1. Für eine wettbewerbsfähige Stromversorgung müssen weiterhin alle Energieträger ans Netz. Gleichzeitig muss der Ausbau erneuerbarer Energien sowie der Netzinfrastruktur und Speichersysteme massiv vorangetrieben werden. Das allein wird aber nicht ausreichen. Es braucht einen Industriestrompreis, um der Wirtschaft Planungssicherheit für die erfolgreiche Transformation zu bieten.

2. Für ein starkes und wettbewerbsfähiges Europa braucht es einen industriepolitischen Neustart. Statt mit Verboten, Grenzwertverschärfungen und Regulierung für Planungs-, Rechts- und Investitionsunsicherheiten zu sorgen, braucht es bessere Governance und Priorisierung. Der Fokus muss auf nachhaltiges Wachstum gelegt werden.

3. Für Freihandel statt Protektionismus: Von CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) über das Lieferkettengesetz bis hin zum Ökodesign – viele Regulierungen stoßen unsere Handelspartner vor den Kopf. Das verteuert Importe, lenkt Handelsströme von Europa weg und schneidet uns die Rohstoffzufuhr ab. Besser wäre es aus unserer Sicht, sich mit den Handelspartnern im Rahmen von Freihandelsabkommen auf gemeinsame Regeln für den Handel zu verständigen.

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