08.09.2010 • NewsAusbildungBauchemieChemie

Klassische Anorganik war gestern

Die Chemie ist die einzige Naturwissenschaft, die seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert eine eigene Industrie hervorgebracht hat - im Gegensatz zur Physik und zur Biologie. Deutschland hat in der Chemie von Anfang an eine Führungsrolle übernommen, obwohl eigentlich Frankreich mit Antoine de Lavoisier das Erfinderland der Chemie ist. Dr. Birgit Megges befragte Prof. Wolfgang A. Herrmann, Präsident der Technischen Universität München (TUM), zur heutigen Position der Chemie in Deutschland und zur Weiterentwicklung der Chemikerausbildung an den Universitäten.

CHEManager: Herr Prof. Herrmann, warum war die Chemie in Deutschland so erfolgreich und welche Position nimmt sie heute in unserem Land ein?

Prof. W. A. Herrmann: Hierzulande war die Chemie deshalb so erfolgreich, weil frühzeitig aktive Allianzen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft entstanden sind und gepflegt wurden. Diese Allianzen gingen anfangs so weit, dass sich Professoren in den entstehenden Industrien in die Laboratorien einmieteten oder diese kostenlos zur Verfügung gestellt bekamen. Nur durch diesen unmittelbaren Austausch war es möglich, dass Deutschland damals zur „Apotheke der Welt" wurde. Von dieser Zusammenarbeit ist die deutsche chemische Industrie auch heute noch geprägt. Über alle strukturellen Umbauten zwischen 1990 und 2000 hinweg ist die deutsche Chemie einer der großen Wirtschaftsfaktoren des Landes geblieben.

Wird die deutsche Chemie auch in Zukunft eine tragende Rolle spielen? Schließlich wird der globale Wettbewerb in der Wirtschaft wie auch in der Wissenschaft immer stärker.

Prof. W. A. Herrmann: Die Chemie hat die besten Voraussetzungen, um auch weiterhin als Innovationstreiber zu wirken. Allerdings wird es nötig sein, viel stärker als bisher auf die benachbarten Disziplinen Bezug zu nehmen. Fleißig sind die Menschen auch anderswo, denken wir nur an China oder Indien. Wir müssen aus unserer Wissenschaftstradition, die uns prägt, und aus unseren Qualitätsstandards heraus fähig sein zu dem nächsten großen Schritt, der interdisziplinären Verschränkung, die schon in der Ausbildung beginnen muss. Hier haben wir in der deutschen Chemie noch zu viele unzeitgemäße Denkgewohnheiten. Eine Fakultät, die in der herkömmlichen Gliederung Anorganische Chemie - Organische Chemie - Physikalische Chemie verhaftet bleibt, nimmt sich alsbald ihre Existenzberechtigung. Die Wagenburgmentalität muss endlich überwunden werden, so wichtig die Kernkompetenzen in den klassischen Disziplinen auch sind.

Was muss zum Beispiel bei der Ausbildung getan werden, um die Chemie zukunftsfähiger zu machen?

Prof. W. A. Herrmann: Was der deutschen Chemikerausbildung fehlt, ist der weitgehende Bezug zu den Ingenieurwissenschaften und die intensive Auseinandersetzung mit deren Kultur - und umgekehrt. Ingenieure ticken anders als Naturwissenschaftler; Chemiker haben andere Denk-, Entscheidungs- und Arbeitsmuster im Umgang mit wissenschaftlichen Fragestellungen als Maschinenbauer. Trotzdem muss die Chemikerausbildung vom Ansatz her generalistisch bleiben. Unsere Studenten müssen die Grundkenntnisse der klassischen Disziplin anorganische Chemie beherrschen, organische Synthesemethoden und Reaktionsmechanismen sowie die Laserspektroskopie in der physikalischen Chemie ebenso wie die Elektrochemie grundsätzlich verstehen - wenn auch nicht in allen Fußnoten. Doch gleichzeitig müssen wir die jungen Leute frühzeitig auf fachübergreifende Themen einstimmen. Es weitet die Chemie auf, wenn sie die Weiße Biotechnologie gestaltet und wenn sie über die Batterieforschung der Elektromobilität von morgen auf die Sprünge hilft.

Was tut die TUM, um diesem Ziel näher zu kommen?

Prof. W. A. Herrmann: Mit der Exzellenzinitiative 2006 haben wir an der TU München u.a. die „TUM International Graduate School of Science and Engineering" gegründet. Dort bearbeiten ausgewählte Gruppen von Nachwuchs-Chemikern gemeinsam mit Physikern, Biologen, Medizinern und Ingenieuren komplexe Fragestellungen, die sowohl den naturwissenschaftlichen wie auch den ingenieurwissenschaftlichen Denk- und Methodenansatz erfordern. In der Regel handelt es sich um Gruppen von fünf bis sieben Doktoranden, die bei entsprechender Betreuung über die Fakultätsgrenzen hinweg an fachübergreifenden Themen forschen. Mittlerweile hat diese Graduate School mehr als 200 Doktoranden aus 30 Ländern, und wir sehen, dass die Idee, überdisziplinär die Kompetenzen zusammenzubringen, bei den jungen Wissenschaftlern sehr gut ankommt.

Sind auch Veränderungen in der Fakultätsstruktur nötig?

Prof. W. A. Herrmann: Bei einer interdisziplinären Neuausrichtung sind natürlich die Neuausrichtung bzw. die Schaffung neuer Lehrstühle und die Berufung exzellenter Wissenschaftler entscheidend. Vor 10 Jahren haben wir mit Hilfe des damaligen Degussa-Vorstandsvorsitzenden Utz-Helmuth Felcht einen Stiftungslehrstuhl für Bauchemie eingerichtet. Das habe ich damals gegen den Widerstand einer ganzen Fakultät für Chemie durchgesetzt. Man war der Meinung, dass die Bauchemie „eigentlich keine Chemie" sei, weil man die Themenmischung aus Polymerchemie und anorganischer Chemie keiner der klassischen Disziplinen zuordnen könne. Dennoch haben wir den Lehrstuhl gegründet, denn wir können das Bauen nicht nur den konstruktiven Ingenieuren überlassen - sonst würden wir uns in der Werkstofftechnologie ja nicht weiterentwickeln. Zugeordnet haben wir den Lehrstuhl sowohl der Fakultät für Chemie wie auch der Fakultät für Bauingenieurwesen. Natürlich hat das Zusammenwachsen gedauert, aber heute sind Chemie- und Bauingenieurfakultät eng miteinander verbunden, auch über die Bauchemie hinaus. Diese fachübergreifende Konstellation befruchtet die beiden unterschiedlichen Wissenschaftskulturen.

Welche Rolle können denn Stiftungslehrstühle bei diesem Konzept spielen?

Prof. W. A. Herrmann: Stiftungslehrstühle sind eine gute Möglichkeit, um Universitäten zeitgemäß zu einer Veränderung zu bewegen. Die Diskussion über die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen in einer Fakultät dauert bisweilen sehr lange, weil verschiedene Befindlichkeiten berücksichtigt werden. Wenn aber durch die Stiftung schon einmal für fünf bis zehn Jahre Geld da ist, kann der neue Lehrstuhl mit einem neuen Thema starten und sich profilieren. Bis dahin haben sich hochschulinterne Wege zur Weiterfinanzierung gefunden. Die TUM hat in nur fünf Jahren im Rahmen ihrer Umbauinitiative „innovaTUM-2008" rund 420 Personalstellen, und damit etwa 10% des Gesamtbestands, hochschulweit neu zugeordnet, zumeist in neue Ausrichtungen und Forschungscluster.

Gibt es neben der Bauchemie weitere Beispiele dafür, dass die Chemie interndisziplinärer werden muss?

Prof. W. A. Herrmann: Ein weiteres Beispiel ist die Elektrochemie. In der elektrochemischen Forschung war Deutschland vor 30 Jahren Spitze, und es gab kaum ein Institut für Physikalische Chemie, in dem die Elektrochemie nicht als Fach gelehrt wurde oder gar mit einem Lehrstuhl vertreten war. Durch die wichtige Entwicklung der Physikalischen Chemie hin zur modernen Spektroskopie mit Laser-, Echtzeit- und Femtosekundenspektroskopie hat die Chemie vor allem Anschluss an die Biowissenschaften gefunden - gleichzeitig aber die Elektrochemie ruiniert. Die Elektrochemie ist aber entscheidend für den Erfolg der Elektromobilität, und der Elektromobilität soll Deutschland nicht nur Leitmarkt, sondern möglichst auch Leitanbieter werden. An der TUM haben wir uns dazu entschlossen, die Elektromobilität zu einem großen Querschnittsthema zu gestalten, an dem 50 Professoren aus acht Fakultäten beteiligt sind. Schließlich geht es nicht nur darum, den Benzintank durch eine Batterie zu ersetzen, sondern es geht um die Entwicklung völlig neuer Fahrzeuge und Energieversorgungskonzepte. Aus diesem Grund haben wir drei neue Lehrstühle eingerichtet: Der Lehrstuhl für Technische Elektrochemie ist in der Chemie angesiedelt, gleichzeitig aber auch den Fakultäten Maschinenwesen und Elektrotechnik zugeordnet und schließt eine Lücke in der Batterieforschung. Weiter haben wir Lehrstühle für Energiespeichertechnik und Brennstoffzellentechnologie gegründet. Die neuen Lehrstühle werden flankiert durch Kooperationsverträge mit Singapur, das ein Testfeld für die Elektromobilität werden möchte, und mit der Tsinghua Universität in Peking zur Batterieforschung. Auf der Internationalen Automobilausstellung IAA 2011 stellen wir das TUM-Elektroauto vor. Es hat auch ein neues Stromversorgungskonzept.

Wie sehen Sie die Chancen, dass auch andere Universitäten diese Entwicklungen nachahmen?

Prof. W. A. Herrmann: Die Beispiele Bauchemie und Elektromobilität und übrigens auch die Industrielle oder Weiße Biotechnologie, die ein enormes Potential in der Effizienzerhöhung chemischer Prozesse bis hin zur dem Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe hat, zeigen einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der chemischen Industrie an. Da dürfen die Universitäten nicht schlafen. Der Chemie stehen neue interdisziplinäre Felder offen, in denen sie sich erneut als Innovationsmotor bewähren kann. Bei so viel Zukunft würde ich, vor die Wahl gestellt, heute wieder Chemie studieren. Die Chancen der Chemie als interdisziplinärer Innovationstreiber sind fantastisch, wenn das Neue, das entdeckt wird, auch in Technologien umgesetzt wird. Deshalb brauchen wir die noch engere Zusammenarbeit zwischen Chemikern und Ingenieuren, und dieser Entwicklung dürfen sich die Universitäten nicht verschließen. 

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