Über Deregulierung des europäischen Pharmamarkts
11.10.2011 -
Die Deregulierung des europäischen Pharmamarkts bewirkt eine Neuordnung der Wertschöpfungsketten. Vom Pharmahersteller über den Großhandel und die Apotheke bis zum Patienten – das ist der Weg, den auch heute noch ein Großteil aller Medikamente durchlaufen. Mit der Deregulierung des europäischen Marktes ergeben sich neue Möglichkeiten für die Pharmaproduzenten in Europa. Dr. Andrea Gruß sprach darüber mit Jürgen Peukert und Christoph Knoke, Unternehmensberater bei Ernst & Young, Adisory Services.
CHEManager: Die US-Wirtschaft ist für ihre stark deregulierten Märkte bekannt. Wo liegen die wesentlichen Unterschiede bei der Distribution von Pharmaka in Europa und in den USA?
Jürgen Peukert: In den USA können Sie Medikamente in der Apotheke, aber auch im Supermarkt, am Kiosk oder an der Tankstelle kaufen. Es gibt dort kein Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken wie beispielsweise in Deutschland, so dass auch Apothekenketten oder Supermarktketten wie Wal-Mart im Markt tätig sein können. Dies führt zu einer stärkeren Konsolidierung der Distributionskanäle für Pharmaka im US-Markt.
Christoph Knoke: Einen weiteren Unterschied gibt es auch bei der Verpackung von tablettenförmigen Arzneimitteln: In den USA sind in der Regel die Apotheker dafür verantwortlich, dass z. B. klassische Tabletten für den Endkonsumenten verpackt werden. Auch das unterstützt die Bildung großer Apothekenketten in den USA – im Jahr 2007 zählte der Markt 500 Ketten mit etwa 65.000 Apotheken – denn diese können das Umverpacken der Arzneimittel wirtschaftlicher betreiben. In Europa obliegt die Endverpackung der Medikamente den Pharmaherstellern, wobei wir feststellen, dass einige Hersteller diesen Prozess an entsprechend qualifizierte Dienstleister auslagern.
Welche Distributionsstrukturen dominieren derzeit am europäischen Pharmamarkt?
Christoph Knoke: Europaweit werden 66 % der pharmazeutischen Produkte über den Pharmagroßhandel vertrieben. In Deutschland liegt der Anteil sogar bei 70 %. 12 % ihrer Produktion liefert Europas Pharmaindustrie an Krankenhäuser und 6 % an Einzelhandelsapotheken. Im Vergleich zu den USA gibt es weniger und vor allem kleinere Apothekenketten in Europa: 2007 gehörten lediglich 15.000 von insgesamt 150.000 Apotheken einer Kette mit mehr als 10 Läden an. National unterscheiden sich die Distributionssysteme in Europa sehr stark: Während in Schweden die Apotheken rund 40 Jahre in einem staatlichen Monopol zusammengefasst waren, das zum 1. Januar 2009 fiel, gibt es in Norwegen ein vergleichbar dereguliertes System mit Apothekenketten wie in den USA. Europaweit ist hier derzeit einiges im Umbruch, dabei starten die Länder aus völlig verschiedenen Ausgangssituationen.
Welche Ziele verfolgt der europäische Gesetzgeber mit der Deregulierung des Pharmamarktes?
Jürgen Peukert: Durch die Deregulierung soll der Wettbewerb zwischen den Herstellern erhöht und so die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung reduzieren werden. Dabei müssen bestimmte Nebenbedingungen, wie die Versorgungsqualität und -sicherheit eingehalten werden. Letzteres spielt insbesondere eine Rolle, wenn man einen Blick auf den steigenden Anteil an Medikamentenfälschungen am weltweiten Markt für pharmazeutische Produkte wirft: Die WHO schätzt, dass inzwischen 7 % aller Medikamente illegale Nachahmungen sind mit einem Volumen von ca. 25 Mrd. €.
Wird es im Zuge der Deregulierung zu einer Vereinheitlichung der Distribution in Europa kommen?
Christoph Knoke: Nicht notwendigerweise, wie die jüngsten Stimmen in der EU belegen. Aktuell wird die Rechtskonformität des Fremdbesitz- und Mehrbesitzverbots von Apotheken in Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt. Hierzu hatte Generalanwalt Yves Bot in seinem Schlussantrag Mitte Dezember überraschend geäußert, dass er darin keinen Verstoß gegen das EU-Recht sehe, da die Gesundheitsversorgung nationalem Recht unterliege. Das EU-Recht habe lediglich sicherzustellen, dass es zu keiner Wettbewerbsbeschränkung kommt.
Welche Konsequenzen hätte eine Abschaffung des Fremdbesitzverbots für die Pharmahersteller?
Jürgen Peukert: Die Zahl der Apotheken in Deutschland würde abnehmen – wir rechnen damit, dass sie von derzeit 21.500 auf ca. 16.000 im Jahr 2011 sinkt. Durch eine Konsolidierung des Apothekenmarktes ergibt sich für die Hersteller zunehmend die Möglichkeit einer Direktbelieferung von Apothekenketten. Sie gewinnen dadurch eine stärkere Kontrolle über die Supply Chain. Auf der anderen Seite wächst durch die Einkaufsbündelungen und -kooperationen die Verhandlungsstärke der Kette, was eine Margeneinbuße bei den Herstellern zur Folge haben kann.
Christoph Knoke: Wenn das Verbot fällt und tatsächlich Supermarktketten in den Markt eintreten, wird sich auch die Herangehensweise bei den Verhandlungen ändern. Es wird vermehrt in Form von Jahresgesprächen verhandelt werden, wie es der Einzelhandel bislang mit der Konsumgüterindustrie macht. Dies erfordert eine völlig andere Vertriebsstruktur mit einem Key-Account-Management auf Seiten der Hersteller.
Auch die Rabattverträge, die Pharmahersteller mit Krankenkassen abschließen, haben sich bereits auf die Vertriebsstrukturen ausgewirkt...
Christoph Knoke: Ja, da die Krankenkassen seit Einführung des Arzneimittelversorgungs- Wirtschaftlichkeitsgesetz im Jahr 2006 direkt mit den Arzneimittelherstellern Rabattverträge für erstattungsfähige Arzneimittel verhandeln, ist keine Außendienstmannschaft im bisherigen Maße mehr nötig. Auch hier übernimmt die Verhandlung ein Key-Account-Management, an das andere Anforderungen gestellt werden als an Pharmareferenten.
Rabattverträge werden auf regionaler Ebene mit Herstellern, aber auch mit Internet- oder Großhändlern vereinbart. So hat beispielsweise die AOK jüngst 64 Produkte für Rabattverträge ausgeschrieben. Allein acht davon hat ein indisches Unternehmen, das mit Betapharm im deutschen Markt vertreten ist, bekommen. Hier zeigt sich demnach auch ein Trend zur Internationalisierung des Marktes.
Beobachten Sie Unterschiede bei dem Vertrieb von Generika und Originalpräparaten?
Christoph Knoke: Bei Originalpräparaten mit hohen Werten oder starken Marken, bei denen die Kontrolle über die Supply Chain eine besondere Bedeutung hat, beobachten wir einen Trend zu direct-topharmacy (DTP)-Programmen. Das heißt, der Großhandel wird umgangen und der Hersteller liefert das Produkt über einen Dienstleister wie trans-o-flex oder DHL direkt an die Apotheke. Pfizer ist beispielsweise bei den DTP-Konzepten sehr prominent, z. B. in UK zusammen mit Unichem, aber auch mit weiteren Initiativen in Europa.
Allgemein ist DTP in den einzelnen Ländern Europas sehr unterschiedlich ausgeprägt und UK kann als Vorreiter gesehen werden.
Welche Rolle wird künftig der Großhandel bei der Distribution übernehmen?
Christoph Knoke: Er gerät zunehmend unter Druck, konsolidiert sich weiter und entwickelt sich mehr und mehr zum Logistikdienstleister. Dabei muss sich die Dienstleistung nicht nur auf den Transport beschränken, sondern der Großhändler kann auch das Packaging & Labeling der Arzneimittel übernehmen. Hier gibt es interessante Entwicklungen bei der Verpackungssteuerung. Das Unternehmen Kohl Pharma bietet z. B. mit „7x4 Pharma“ ein individuelles Blistering für den Patienten an. Der Patient erhält in der Apotheke einen Blister, der genau seiner Einnahmeverschreibung durch den Arzt entspricht.
Welche weiteren Entwicklungen werden durch die Deregulierung forciert?
Jürgen Peukert: Durch die Deregulierung wird das Geschäft mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten, so genannten over-the-counter (OTC)-Produkten, wichtiger. Sie unterliegen keiner Preisregulierung und auch die Regularien bezüglich der Vermarktung bieten größeren Handlungsspielraum. Einige Pharmahersteller mit starken Marken, die bereits bei den Verbrauchern positioniert sind, versuchen, ihre Produkte daher bewusst in den verschiedenen Märkten in den OTCBereich zu verschieben, um die höhere Marktdynamik in diesem Segment zu nutzen und sich damit nachhaltig und besser im Markt zu positionieren. Außerdem werden im Zuge der Deregulierung und gleichzeitig zunehmender Information und Selbstbestimmung der Patienten diejenigen Unternehmen die Gewinner sein, die sich nachhaltig als Wertschöpfungspartner ganzer „Gesundheitsnetze“ versteht und sich entsprechend fokussiert und positioniert.
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