Deutscher Chemiehandel: Mit hoher Agilität und Innovationskraft
Chemiedistributoren begegnen aktiv den sich verändernden Marktanforderungen
Der Verband Chemiehandel (VCH) vertritt seit 120 Jahren die Interessen des deutschen Chemikaliengroß- und -außenhandels. Die rund 140 überwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigen etwa 7.900 Mitarbeiter, unterhalten über 220 Standorte und haben 2023 einen Gesamtumsatz von über 19 Mrd. Euro erwirtschaftet. Ein ausführliches Gespräch im April diesen Jahres mit den Mitgliedern des Verbandsvorstands und die aktuelle Mitgliederumfrage des Verbands zum ersten Quartal 2024 zeigen, dass die Branche überzeugt ist, auch zukünftig ein wichtiger Partner für ihre Kunden zu sein und mit ihren Aufgaben wachsen zu können. Dennoch gibt es zahlreiche Herausforderungen, denen sich die Chemiedistributoren stellen müssen.
Laut der VCH-Umfrage „Stimmungsbild – Der Chemiehandel Q1/2024“ steht mit 71 % der Mitarbeiter- und Fachkräftemangel an erster Stelle der genannten beeinflussenden Faktoren, gefolgt von regulatorischen Themen (54 %), geopolitischen Unsicherheiten (51 %) und Logistikproblemen (43 %). Aber auch die Inflation (32 %) und steigende Finanzierungskosten/Zinsen (25 %) wirken sich auf die Geschäfte der Unternehmen aus. Trotz all dieser Herausforderungen zeigte sich der deutsche Chemiehandel im letzten Jahr resilient (vgl. CHEManager 4/2024). Dennoch erwiesen sich einige Entwicklungen als Geschäftshemmnisse und es deutet sich an, dass diese sich auch durch das Jahr 2024 ziehen werden.
Fehlende Nachfrage und sinkende Preise
Eines der größten Probleme, das derzeit sowohl die Basis- als auch die Spezialchemikalien in allen Bereichen betrifft, ist die fehlende Nachfrage. So gaben in der VCH-Umfrage 36 % der Mitgliedsunternehmen an, dass sich die Mengen negativ entwickelt haben. Bei 4 % der Unternehmen entwickelte sich die Mengennachfrage sogar stark negativ. Demgegenüber stehen 32 %, die eine positive Entwicklung, und 29 %, die keine Veränderung verzeichnet haben. Nur die Hälfte der Befragten erwartet einen leichten Anstieg in den kommenden Monaten und rechnet erst im Jahr 2025 oder später mit einer Erholung des Chemiegeschäfts.
Diese Zahlen untermauerte VCH-Präsident Christian Westphal während des Gesprächs: „Es gibt derzeit überhaupt keine Anzeichen für eine Erholung. Wir stehen vor einem Markt, der Nachfrageprobleme und strukturelle Probleme aufweist.“ Die Industrie habe insbesondere in Deutschland, aber auch in ganz Europa mit steigenden Energie- und Lohnkosten und einer erdrückenden Bürokratie zu kämpfen.
Allerdings waren und sind nicht nur die fehlenden Mengen problematisch: „Seit vielen Monaten befinden sich die Preise mehr oder weniger im freien Fall. Das heißt, weniger Menge und geringerer Preis spiegeln sich im Umsatz und natürlich auch in der Marge wider“, berichtete Thomas Dassler, Vorsitzender der Fachabteilung Binnenhandel im VCH. Neben der sinkenden Nachfrage ist ein weiterer Grund für den Preisverfall die Tatsache, dass insbesondere chinesische Lieferanten ihre Ware zu niedrigsten Preisen in Europa absetzen, weil sie auf ihrem Heimatmarkt selbst lokale Probleme haben. Um die beschriebenen Umsatz- und Mengenrückgänge zu überstehen, sei ein ausgewogener Branchenmix der entscheidende Vorteil der Chemiehändler, so Westphal.
Unterschiedliche Spartenentwicklung
Nach Angabe der Unternehmen im Rahmen der VCH-Umfrage konnte sich im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum vierten Quartal 2023 der Bereich Automobil ausgehend von einem schwachen und der Bereich Bauchemie von einem sehr schwachen Niveau leicht verbessern, während sich bei Lacken & Farben ein deutlicher Negativtrend abzeichnete. Etwa jeweils die Hälfte der Unternehmen bewertete die Bereiche Kunststoffe, Schmierstoffe und Wasserchemie als stabil. Positiv gesehen wurden die Sparten Lebens- und Futtermittel, Wasch- und Reinigungsmittel, Kosmetik und allen voran Pharma.
Bastian Geiss, der als Vorsitzender der Fachabteilung Chemiehandel & Kreislaufwirtschaft im Verband die Recyclingbranche vertritt, bestätigte, dass auch das Lösemittelrecycling von einem drastischen Rückgang der Mengen betroffen sei – mehr oder weniger durch alle Bereiche hindurch, in denen Lösemittel in der Anwendung sind. Nach einem niedrigen Preisniveau im letzten Jahr konnten die Recycler ein wenig von den stockenden Lieferketten infolge der Ereignisse rund um den Suezkanal bzw. im Roten Meer und im Golf von Aden profitieren. Ein weiterer Vorteil ist die Unabhängigkeit von Produkten aus China, weil das Sourcing komplett in Europa stattfindet. Eine große Herausforderung für die Recyclingunternehmen ist naheliegend: CO2-Bilanzen und das Thema Nachhaltigkeit. „Was uns teilweise fehlt, ist die Umsetzung bei den einzelnen Lösemittelverwendern. Es ist wunderbar, wenn man heute Recyclingprodukte einsetzt, wodurch sich der CO2-Footprint um 50 bis 80 % reduzieren kann. Oftmals haben aber die Verwender noch gar keinen richtigen Ansatz, wie sie das in ihrer Bilanz oder dem Marketing umsetzen können. Anfragen dazu erhalten wir inzwischen täglich“, so Geiss.
Lieferketten im Wandel
Auf Seiten der Beschaffung muss sich die Branche den sich wandelnden Märkten anpassen. Die Umfrageergebnisse unter den Verbandsmitgliedern liefern entsprechende Zahlen: Bei Spezialchemikalien sehen 71 %, bei Industrie- und Basischemikalien 38 % und bei Verpackungen 17 % der Mitgliedsunternehmen Beeinträchtigungen.
Ein generelles Problem – nicht nur im Sourcing – ist die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland. Es besteht die Gefahr, dass durch die hohen Energie- und Rohstoffkosten in Deutschland bzw. Europa nicht mehr wettbewerbsfähig produziert werden kann. Ein Trend der Abwanderung von Chemieunternehmen findet seit einigen Jahren statt und wird zunehmend beobachtet. Deshalb werden zukünftig Distributoren benötigt, die große Volumina aus anderen Märkten nach Europa bringen, um dort im Downstream-Bereich die fehlenden Rohstoffe zu liefern. „Ich glaube, der Importanteil der Basischemie wird größer werden und der funktionelle Teil in der Spezialitätenchemie wird verstärkt werden im Sinne von zusätzlichen Dienstleistungen, die der Distributionsmarkt für die Produzenten erbringen wird“, bemerkte Dassler. Die Chemiehändler müssen folglich ihre Geschäftsstrategien anpassen, um weiterhin erfolgreich zu sein.
VCH-Vorstandsmitglied Christopher Erbslöh fasste diesen Aspekt zusammen und wies darauf hin, dass die Produktionsverlagerung kein neues Thema sei: „Der globale Chemiehandelsmarkt ist europäisch geprägt und der europäische Chemiemarkt wird maßgeblich von deutschen Unternehmen geprägt. Ich bin überzeugt, dass sich fast alle Unternehmen seit mindestens zehn Jahren mit den Produktionsverlagerungen beschäftigen und in ihrer jeweiligen Subbranche des Chemiehandels die Lösungen finden, um ihre Kunden überall da zu bedienen, wo sie sind. Das ist unser tägliches Geschäft.“ In der Möglichkeit, Kunden dort zu beliefern, wo sie hingehen, sieht VCH-Vorstandsmitglied Thorsten Harke eine Chance: „Es ist strategisch vorteilhaft, wenn man die Produktion in die Länder begleiten kann, in die sie verlagert wird. Mit einem guten Netzwerk, Verbindungen, Niederlassungen und Mitarbeitenden vor Ort geht das.“
Laut Oliver Leptien, stellvertretender Präsident und Vorsitzender der Fachabteilung Außenhandel, ist das große Plus der Chemiedistribution, dass sie sich durch eine hohe Agilität und Innovationskraft auszeichnet: „Wir stellen uns sehr schnell auf neue Umstände ein und sind als Industrie in der Lage, Antworten auf die Herausforderungen zu finden, die gerade da sind.“ So könnten Distributoren bspw. eine wichtigere Rolle bei der Beschaffung, Lagerung, Veredelung und Abfüllung von Chemikalien übernehmen, die vermehrt aus dem Ausland importiert werden müssten.
Zu berücksichtigen bleibt bei allen Argumenten, dass die genauen Auswirkungen stark von den spezifischen Umständen abhängen werden, einschließlich der Art von Chemikalien, die von den Unternehmen produziert werden, und der spezifischen Rolle, die der Distributor in der Lieferkette spielt.
‚Gesetzes-Tsunami‘ überrollt Unternehmen
Den Herausforderungen, die Unternehmen durch neue Gesetze und Vorschriften wie z. B. dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) oder dem Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) entstehen, sieht der Verbandsvorstand sehr kritisch und spricht über einen regelrechten ‚Gesetzes-Tsunami‘. „Ungeachtet der geopolitischen Situation und der Marktprobleme macht die Maschinerie in Brüssel und Berlin ohne Rücksicht ungebremst weiter“, kommentierte Ralph Alberti, geschäftsführendes VCH-Vorstandsmitglied. Auch wenn zunächst oft nur die großen Unternehmen angesprochen werden, sind Befürchtungen in der Hinsicht wahr geworden, dass die Pflichten und Aufwände, die durch die Regelungen entstehen, in der Lieferkette ungeprüft an die KMUs durchgereicht werden. Er bemängelte zudem, dass insbesondere die öffentlichen Institutionen, die eigentlich dafür zuständig seien, die Unternehmen zu unterstützen, selbst nicht nachkommen, weil entsprechende Strukturen fehlen: „Ein prominentes Beispiel aktuell ist CBAM. Es musste erstmals für das letzte Quartal 2023 gemeldet werden und Deutschland ist meines Wissens der einzige Mitgliedsstaat der EU, der es nicht geschafft hat, die entsprechenden Strukturen hierfür rechtzeitig auf die Beine zu stellen.“
Beim Thema Regulierung wurde vom Chemiehandelsverband zudem die mangelnde Kommunikationsbereitschaft und das Ignorieren von Problemen durch politische Entscheidungsträger kritisiert. Es wurde der Wunsch geäußert, wieder einen Dialog aufzunehmen und die Themen anzugehen, anstatt die Gesetze einfach durchzudrücken.
Betont wurde auch, dass die Unternehmen immer mehr Stellen für Arbeitskräfte schaffen müssten, um den bürokratischen Aufwand bewältigen zu können. Dies führt zu steigenden Kosten, die an die Kunden weitergegeben werden und die Vertriebskosten in verschiedenen Märkten erhöhen. Harke wies ergänzend darauf hin, dass die Bürokratie nicht nur die klassischen Chemiebereiche, sondern auch das Zahlungswesen betreffe: „Das weltweite Bankwesen und der internationale Zahlungsverkehr ist durch internationale Organisationen und Regierungen stark bürokratisiert worden und wird dadurch zum Teil erheblich behindert, was zu Verzögerungen und Schwierigkeiten bei Transaktionen führt.“
Die Komplexität der bürokratischen Strukturen stellt ein riesiges Problem dar: „Die Behörden sind maßlos überfordert, weil alles zu komplex ist, aber dort wo entbürokratisiert wird und versucht wird, pragmatisch Dinge durchzusetzen, sind es oft die unteren Behörden, die dazu nicht bereit und nicht darauf vorbereitet sind“, schilderte Robert Späth, stellvertretender VCH-Präsident und Schatzmeister, seine Erfahrungen und fügte noch einen Wunsch hinzu: „Pragmatik in den örtlichen lokalen Behörden, Pragmatik was Genehmigungsverfahren oder überhaupt die Handhabung von Bürokratie angeht, das wäre vielleicht ein Ansatz, um voranzukommen.“
Chemiehandel bleibt optimistisch
Die Hürden werden nicht kleiner und alle angesprochen und weitere Themen werden die Chemiehandelsunternehmen nachhaltig beschäftigen. Trotzdem glaubt die Branche fest daran, dass sie in Zukunft wachsen kann und noch mehr Funktionen übernehmen wird. „Der negative Effekt der Entwicklung der Gesamtindustrie hat sicherlich einen positiven Effekt auf die Funktionalitäten, die wir in den nächsten Jahren anbieten dürfen. Wer sich vernünftig positioniert, hat auch Möglichkeiten, langfristig erfolgreich zu wirtschaften und Arbeitsplätze nicht nur zu erhalten, sondern auch weitere zu schaffen“, so Leptien.
Birgit Megges, CHEManager
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