Mehr Pharma wagen
Die pharmazeutische Industrie kann Teil der Lösung vieler grundlegender Probleme dieser Zeit sein
Die 2020er-Jahre stehen für den Beginn großer Veränderungen in Deutschland und Europa. Die Energiewende, die Digitalisierung und der demografische Wandel machen eine Transformation des Wirtschaftsmodells des „alten“ Kontinents notwendig. Gleichzeitig wird mit einer älteren Bevölkerung der Bedarf für eine gesundheitliche Spitzenversorgung weiter steigen. Die Pharmaindustrie ist eine Chance im bevorstehenden Wandel: Sie legt mit ihren Therapien den Grundstein für eine gesündere und produktivere Bevölkerung und gleichzeitig für wirtschaftliches Wachstum. Wenn die richtigen politischen Weichen gestellt werden, kann die pharmazeutische Industrie ihre Innovationskraft für eine gute Versorgung, für Wachstum und Beschäftigung entfalten und in moderne und nachhaltige Produktionstechnologien investieren.
Die Pandemie zeigt im Brennglas: Der Zusammenhang zwischen Gesundheit, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ist eng. Ohne wirksame Impfstoffe und Therapien kann die Coronakrise nicht überwunden werden, kann sich gesellschaftliches Leben nicht normalisieren. In der Pandemie zeigt sich auch die große Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie: Einerseits, indem sie die Weltbevölkerung schnell mit neuen Impfstoffen und Medikamenten versorgt – andererseits, indem sie damit die Grundlage für wirtschaftliche Erholung legt und zudem mit ihrer eigenen Wertschöpfung unmittelbar zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum beiträgt. Die Erfolge der Impfstoffentwicklung zeigen das wirtschaftliche und wissenschaftliche Zukunftspotenzial der Industrie – auch in kommenden Krisen sollte der Standort in der Lage sein, die benötigten Therapien zu entwickeln und die Welt damit zu beliefern.
Die Zukunft geht weit über die Coronakrise hinaus
Die Coronapandemie bestimmt das Hier und Jetzt – die zukünftigen Herausforderungen gehen aber weit über die akute Krise hinaus. Das kommende Jahrzehnt wird durch demografischen Wandel, Digitalisierung und einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft dominiert werden. Insbesondere der demografische Wandel erfordert weitreichende gesundheits- und wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Vielen mutet dies wie eine Quadratur des Kreises an, die unmittelbar in Verteilungskämpfen münden muss.
Sozialversicherungssysteme gerecht finanzieren
Die Sozialversicherungssysteme geraten unter Druck, weil eine alternde Bevölkerung eine umfangreichere Gesundheitsversorgung benötigt. Gleichzeitig müssen die notwendigen finanziellen Mittel durch eine geringere Zahl Erwerbstätiger getragen werden. Soll der Leistungskatalog der Krankenversicherungen nicht eingeschränkt werden, bedarf es entweder einer Stärkung der Einnahmen, einer Konsolidierung der Ausgaben oder beides. Wichtig dabei: Versicherungsfremde Leistungen dürfen nicht durch Versicherte, sondern müssen aus Steuermitteln finanziert werden. Gesellschaftliche Aufgaben sollten durch die gesamte Gesellschaft getragen werden und nicht allein durch die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ausgabenkürzungen stellen Spitzenversorgung in Frage
Ausgabenkürzungen – so sie nicht durch eine höhere Effizienz in den Strukturen des Gesundheitssystems, wie bspw. Einsparungen des Verwaltungsaufwands, erreicht werden – führen zwangsläufig zu Einschränkungen von Leistungen. Dies ist dort richtig, wo, wie in der Homöopathie, keine Evidenz für die Wirkung von Therapien gezeigt werden kann. Es ist allerdings kontraproduktiv, wo positive Wirkungen nachgewiesen sind. Deutschland ist derzeit in einer hervorragenden Situation: Innovative und wirksame Therapien stehen sofort zur Verfügung. Die Evidenz zu ihrer Wirkung ist Grundlage der Preisfindung, die den zusätzlichen Nutzen der Therapien honoriert. Dieses System ist nicht nur innovationsfreundlich, weil es Verbesserungen vergütet, es hat sich auch als Stabilitätsanker bewährt. Der Interessenausgleich im Gesundheitssystem hat in den vergangenen zehn Jahren nachweislich zu stabilen Arzneimittelausgaben geführt.
Zugang zu medizinischer Versorgung für alle
Werden Markteinführungen durch restriktivere Regulierungen hinausgezögert oder Vergütungen für Arzneimittel reduziert, hat dies langfristige Konsequenzen für die Patientenversorgung. Unternehmen werden ihre Forschungsanstrengungen auf die Bedürfnisse anderer Regionen mit besseren Perspektiven fokussieren und im Zweifel auf eine Markteinführung hierzulande verzichten. Neue Therapien stehen der breiten Bevölkerung dann nicht mehr oder erst viel später zur Verfügung – diejenigen, die es sich leisten können, werden neue Medikamente auf eigene Kosten beschaffen. Spitzenversorgung wird auf diese Weise aber zu einer Frage des Geldbeutels, obwohl bekannt ist, dass Patienten mit geringen Einkommen meist in einer schlechteren Gesundheitsverfassung sind.
Gesundheits- und Wirtschaftspolitik: keine parallelen Universen
Entscheidungen über den Marktzugang und die Vergütung schlagen sich in Unternehmensentscheidungen über den Fokus, die Standorte und den Umfang von Investitionen und Forschungsaktivitäten nieder. Geringere Umsätze beschneiden beide Budgets. Für eine Hightech-Industrie, deren Forschungsintensität im Vergleich mit allen anderen Wirtschaftszweigen die höchste ist, bedeutet dies für den Standort schmerzhafte Verschiebungen. Künftige Forschungsprojekte und die nachgelagerten Investitionen in die Produktion werden in andere, attraktivere Regionen verschoben. Auch hat eine schlechtere Gesundheitsversorgung unmittelbare Konsequenzen für die Produktivität und die Zahl der Erwerbstätigen. Gerade in einer alternden Gesellschaft ist dies ein Problem und verstärkt die Finanzierungsprobleme in den Sozialversicherungssystemen. Wird das geistige Eigentum in Frage gestellt gibt es weder Innovationen, Investitionen noch wird die Gesundheitsversorgung von Unternehmen am Standort verbessert.
Investitionen und Innovationen dringend benötigt
Klimafreundliche Technologien, Digitalisierung und der demografische Wandel werden die industrielle Landschaft in Deutschland erheblich verändern. Die Herausforderungen sind das größte industriepolitische Projekt seit über 100 Jahren. Unternehmen müssen nachhaltiger produzieren und dabei ihre Produktivität deutlich steigern, um den Alterungsprozess auszugleichen. Dies wird zu einem Strukturwandel führen, hin zu innovativen Wirtschaftszweigen mit hoher Wissensintensität und Wertschöpfungstiefe. Dies gelingt nur dann, wenn die Rahmenbedingungen für Forschung und Innovationen sowie Investitionen attraktiv sind und auf die richtigen Wirtschaftszweige im globalen Standortwettbewerb gesetzt wird. Dies hilft Verteilungskonflikte zu lösen und eine gute soziale Sicherung zu gewährleisten.
Pharmazeutische Industrie: wissensintensiv, innovativ und produktiv
Die pharmazeutische Industrie ist in Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen eine Schlüsselindustrie. Denn schon jetzt vereint sie wesentliche Eigenschaften, die zukünftig verlangt sind. Sie ist wissensintensiv, innovativ und weist eine hohe Produktivität auf. Gleichzeitig ist ihre Wertschöpfung deutlich „grüner“ als die anderer Wirtschaftszweige. Die Löhne und Gehälter sind weit überdurchschnittlich.
Die Forschungserfolge sorgen schon heute für ein kräftiges gesamtwirtschaftliches Wachstum: Die Herstellung der auf der neuen mRNA-Technologie basierenden Impfstoffe machten im abgelaufenen Jahr allein mindestens 0,5 Prozentpunkte des gesamtwirtschaftlichen Wachstums aus. Die Anwendung dieser Technologie in anderen Bereichen oder der breite Ausbau biotechnologischer Verfahren versprechen in den kommenden Jahren ähnliche Sprunginnovationen von vergleichbarer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Damit ist die pharmazeutische Industrie innovativer Motor der Gesundheitswirtschaft, mit guten Jobs und großer Ausstrahlung in andere Wirtschaftsbereiche, wie dem Maschinen- und Anlagenbau. Die Industrie zu stärken ist so eine große Chance im hart geführten internationalen Wettbewerb der Standorte.
Chancen ergreifen: mehr Pharma wagen
Die pharmazeutische Industrie kann Teil der Lösung vieler grundlegender Probleme dieser Zeit sein. Kurzfristig hilft sie, die Coronakrise zu beenden. Langfristig führt eine größere Bedeutung dieser Branche zu mehr und nachhaltigerer Wertschöpfung und so zu höheren Durchschnittseinkommen. Damit hilft sie, demografisch bedingte Verteilungskonflikte aufzulösen, das Produktionspotenzial mit produktiveren Beschäftigten zu stärken und so den Übergang in eine neue Wirtschaftsstruktur zu gestalten.
Damit die pharmazeutische Industrie diese Schlüsselrolle einnehmen kann, müssen die politischen Rahmenbedingungen stimmen. Gesundheits- und Wirtschaftspolitik sind dabei kommunizierende Röhren. Die Politik sollte mit einer klaren Agenda für eine breite Datennutzung, Erleichterungen in der Durchführung wissenschaftlicher Studien und einer ambitionierten Grundlagenforschung den Innovationsstandort boostern. Der Regulierungs- und Erstattungsrahmen sollte so gestaltet werden, dass innovative Therapien schnell und verlässlich vergütet in den Markt eingeführt werden können. Verwaltungsprozesse und die steuerlichen Rahmenbedingungen sollten so gestaltet werden, dass der Standort attraktiver für Investitionen und Innovationen wird. Und schließlich sollte die wirtschaftspolitische Bedeutung der Industrie in einem europäischen Großprojekt zur Förderung innovativer pharmazeutischer Technologien und Investitionen Niederschlag finden.
Han Steutel, Präsident, Verband forschender Arzneimittelhersteller e. V. (VFA)
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