EU-Taxonomie – ein Kompass für die Nachhaltigkeit
Das Regelwerk ist ein Meilenstein bei der Umsetzung des EU Green Deals
Die Taxonomie der Europäischen Union definiert, ob Unternehmen nachhaltig wirtschaften. Das Regelwerk ist Teil eines umfassenden Wandels zu einer nachhaltigeren Ökonomie. Anfang dieses Jahres trat der erste Teil der EU-Verordnung in Kraft. Ein wichtiger Meilenstein für die Umsetzung des Green Deals. Andrea Gruß sprach mit Silke Stremlau, Vorständin der Hannoverschen Kassen und Expertin für nachhaltige Finanzen, über die Bedeutung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft für die sozial-ökologische Transformation.
CHEManager: Frau Stremlau, mit dem Green Deal hat die Europäische Kommission ihren Plan für ein nachhaltiges und wettbewerbsfähiges Europa vorgelegt. Welche Rolle spielt dabei eine nachhaltige Finanzwirtschaft?
Silke Stremlau: Um den Green Deal umzusetzen, brauchen wir sehr viel Kapital. Allein für das Erreichen der Klimaziele schätzt die EU den Finanzbedarf auf 180 Mrd. EUR pro Jahr bis 2030. Auch für die Energie-, Verkehrs-, Agrar- und Konsumwende sind massive Investitionen erforderlich. Der Finanzmarkt ist sozusagen der Ermöglicher, der Enabler, dieser Transformationen. Sustainable Finance kann entscheidend zur Umlenkung von Geldern beitragen, von nicht nachhaltigen Branchen in zukunftsfähige Bereiche. Denn jeden Tag werden in Banken Kredite für Investitionen vergeben und dabei über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entschieden.
Welchen Beitrag kann hier die EU-Taxonomie leisten?
S. Stremlau: In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele unterschiedliche Kriterien für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten entwickelt. Es gab keine einheitliche Definition und es wurde immer wieder auch Greenwashing betrieben. Das wird sich durch die EU-Taxonomie ändern. Sie setzt einen Goldstandard für nachhaltige Geschäftsaktivitäten und definiert sehr detailliert, was nachhaltig ist und was nicht. Damit schafft sie Planungssicherheit für Unternehmen, wohin Politik und Gesellschaft in den kommenden 20 Jahren steuern werden.
An wen richtet sich die Taxonomie-Verordnung?
S. Stremlau: Unternehmen und Finanzindustrie sind die Hauptzielgruppen der EU-Taxonomie. Für Unternehmen gibt sie die Leitplanken für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten vor, nach denen diese ihre Geschäftsmodelle in den nächsten Jahren ausrichten sollten. Die Finanzindustrie ist sowohl im Kreditwesen als auch im Anlagegeschäft und Versicherungswesen betroffen. Banken sollen sich künftig bei der Kreditvergabe an der Taxonomie orientieren und darüber berichten, wieviel Prozent ihrer Kredite Taxonomie-konform sind. Das Gleiche gilt für Investmentfonds. Je höher der Anteil der Taxonomie-konformen Investitionen, desto weniger Risiko birgt die Anlage in der Zukunft.
Die EU-Taxonomie definiert Nachhaltigkeitskriterien für die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Environmental Social Governance, ESG). Welche Inhalte umfasst der erste Teil der Verordnung, die zum 1. Januar 2022 in Kraft trat?
S. Stremlau: Hier wurden zunächst sechs Umweltziele festgelegt: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung von Wasser, Kreislaufwirtschaft, keine Umweltverschmutzung und Schutz der Biodiversität und Ökosysteme. Eine Aktivität, die nachhaltig sein soll, muss auf eines dieser Umweltziele einzahlen – und das, ohne nach dem DNSH-Prinzip, Do No Significant Harm, einem anderen Ziel zuwiderzulaufen. Zugleich müssen gewisse soziale Mindestanforderungen erfüllt sein. Allein für das Thema Klimaschutz wurde eine 460 Seiten lange Erklärung verfasst. Sie nennt im Detail alle Wirtschaftsaktivitäten, die auf den Klimaschutz einzahlen, zum Beispiel die Stahlherstellung für Rotorblätter, die Herstellung von Rotorblättern, die Installation eines Windparks, die Herstellung von Batterien und vieles mehr.
Stark umstritten ist die Einordnung von Erdgas und Atomkraft als nachhaltige Technologie. Wie bewerten Sie das Vorgehen?
S. Stremlau: Ich halte die Entscheidung der EU-Kommission für unklug und falsch. Der Kriterienkatalog der Technical Expert Group on Sustainable Finance besagte klar: Atomenergie und Erdgas sind nicht nachhaltig. Beides sind Übergangstechnologien und man hätte sie in eine Transformations-Taxonomie aufnehmen können, aber in einem Goldstandard für Nachhaltigkeit haben sie nichts zu suchen.
Bei der Aufnahme der Technologien ging es allein um politische Interessen von Frankreich und Deutschland. Das stellt die Glaubwürdigkeit der gesamten Taxonomie in Frage und öffnet Tür und Tor für weitere nicht nachhaltige Industrien. So fordert zum Beispiel aktuell die deutsche Rüstungsindustrie, als nachhaltig im Bereich Soziales eingestuft zu werden, mit der Begründung sie sei Garant dafür, dass Frieden herrscht in Europa. Dies wird zu einer nicht minder kontroversen Diskussion wie bei Atomenergie und Gas führen.
„Eine Finanzwende muss dazu beitragen,
dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen
und nicht umgekehrt.“
Welche Kriterien wird der soziale Bereich der Taxonomie umfassen?
S. Stremlau: Analog zu den sechs Kernzielen der Umwelttaxonomie soll die soziale Taxonomie drei Kernziele enthalten: Und zwar menschenwürdige Arbeitsbedingungen, einen annehmbaren Lebensstand und Wohlergehen von Verbrauchern sowie inklusive und nachhaltig aufgestellte Gemeinschaften und Gesellschaften. Die Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens sollen demnach Grundbedürfnisse von Menschen befriedigen; dazu zählen Gesundheit, Wohnen, gesunde Nahrung und Bildung. Gleichzeitig geht es um die Auswirkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit auf unterschiedliche Interessensgruppen. Wie geht das Unternehmen mit seinen Mitarbeitenden um? Achtet es Menschenrechte? Werden die Arbeits- und Sozialstandards der internationalen Arbeitsorganisation ILO umgesetzt? Die Kriterien für die soziale Taxonomie sollten bis Mitte dieses Jahres verabschiedet werden.
Bleibt noch das G, die Governance, als dritter Bereich der Taxonomie. Welche Themen werden hier betrachtet?
S. Stremlau: Die Debatte um Governance-Kriterien befindet sich noch ganz am Anfang. Hier gibt es noch keinen konkreten Zeitplan. Themen in diesem Bereich werden sein: Wie werden Unternehmen geführt? Wie ist die Machtbalance zwischen Aufsichtsrat und Vorstand? Wie ist die Mitbestimmung geregelt? Oder welche ethischen Leitlinien hat ein Unternehmen, zum Beispiel im Hinblick auf Korruption?
In vielen der genannten Nachhaltigkeitsthemen in der EU-Taxonomie ist die deutsche Chemieindustrie bereits sehr gut aufgestellt. Welche Chancen ergeben sich hierdurch für die Branche?
„Geld hat immer eine Wirkung.
Sie hängt davon ab, wofür wir es einsetzen.“
S. Stremlau: Das Selbstbild der Chemie – wir sind wichtig und nachhaltig – deckt sich nicht mit dem externen Bild der Branche. Die breite Öffentlichkeit verbindet ein eher negatives Image mit der Chemieindustrie. Mit der Taxonomie werden die Beiträge der Chemieunternehmen messbar und transparent. Damit hat die Branche die Chance, ihren essenziellen Beitrag zur großen Transformation darzustellen, ohne die Gefahr, des Greenwashings bezichtigt zu werden.
Sie waren stellvertretende Vorsitzende des Sustainable-Finance-Beirats der Bundesregierung. Wie kommt die Finanzwende in Deutschland voran?
S. Stremlau: Die Bundesregierung hat ihre Sustainable-Finance-Strategie basierend auf unseren Empfehlungen im Mai 2021 veröffentlicht. Dann kam der Regierungswechsel. Zwar sieht der Koalitionsvertrag die Fortsetzung des Beirats vor, aktuell sind wir jedoch in Warteposition. Die Ministerien erarbeiten gerade eine neue Satzung und klären das Mandat. Mein Eindruck ist, dass die Macht des Hebels einer Finanzwende noch nicht überall in der Politik angekommen ist. Ich wünsche mir, dass wir die Kraft des nachhaltigen Finanzmarktes für die sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft erkennen und nutzen.
Was braucht es, damit die Finanzwende gelingen kann?
S. Stremlau: Wir stehen vor gewaltigen Transformationen unserer gesamten Wirtschaft. Eine Finanzwende muss dazu beitragen, dass die Finanzmärkte wieder den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Damit sie gelingt, braucht es im Wesentlichen drei Dinge: Zum einen die Transparenz darüber, wie nachhaltig sind Unternehmen und wie kompatibel ist ihre Geschäftstätigkeit mit dem Pariser Klimaschutzabkommen und den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. Das Zweite: Wir brauchen Leitplanken, die vorgeben, was geht und was geht nicht. Diese werden aktuell durch die Taxonomie geschaffen. Und drittens bedarf es des Bewusstseins und der Haltung der Finanzakteure: Geld hat immer eine Wirkung. Sie hängt davon ab, wofür wir es einsetzen.
Das Interview mit Silke Stremlau führte Andrea Gruß.
ZUR PERSON
Silke Stremlau ist seit 2018 Mitglied des Vorstands der Hannoverschen Kassen, ein Unternehmensverbund für betriebliche Altersvorsorge und nachhaltige Kapitalanlage. Im Vorstand verantwortet sie die Bereiche Kapitalanlage, Nachhaltigkeit und Personal. Die Sozialwissenschaftlerin und Diplom-Bankbetriebswirtin war stellvertretende Vorsitzende des Sustainable-Finance-Beirats der Bundesregierung und ist Aufsichtsrätin bei der Umweltbank.