Die Zukunft der Pharmaindustrie liegt in der Vereinfachung
Für mehr Wachstum und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit müssen Pharmaunternehmen die Komplexität ihrer Betriebsmodelle reduzieren
Die pharmazeutische Industrie war und ist hoch komplex. In den vergangenen Jahren ist die Komplexität bei einigen führenden Konzernen nochmals angestiegen und hat ein Besorgnis erregendes Niveau erreicht: Statt ihr Betriebsmodell kontinuierlich anzupassen, reagieren Unternehmen mit kurzfristigen Maßnahmen, etwa auf Akquisitionen, Portfoliobereinigungen oder regulatorische Anforderungen.
Führende Unternehmen der Gesundheitsbranche transformieren derzeit ihre Geschäftsmodelle, um das volle Potenzial aus Digitalisierung und der Monetarisierung therapierelevanter Patientendaten zu erschließen. Dabei sind Flexibilität, Skalierbarkeit und Agilität die neuen Treiber leistungsfähiger Betriebsmodelle. Doch ohne eine radikale Vereinfachung werden sich stärkeres Wachstum und höhere Wettbewerbsfähigkeit nicht einstellen.
Komplexität der Pharmaindustrie bremst potenzielles Wachstum
Nach langen Jahren stagnierender Umsätze wächst der Pharmasektor wieder. So hat die US- Gesundheitsbehörde FDA zwischen 2014 und 2016 insgesamt 108 neue Wirkstoffe zugelassen – ein Anstieg von mehr als 12 % im Vergleich zum Zeitraum 2011 bis 2013.
Auch die Erträge vieler großer Player aus der Pharmabranche sind 2016 erstmals wieder seit den durch Patentabläufe bedingten Profitabilitätseinbrüchen gestiegen. Die Pipelines zur klinischen Entwicklung neuartiger Therapien sind gut gefüllt, z.B. in der Immun-Onkologie, bei monoklonalen Antikörpern auf Anti-Interleukin-Basis und neuen Therapieformen wie DNA Damage Repair.
Um dieses Wachstumspotenzial jedoch voll ausschöpfen zu können, müssen Pharmaunternehmen zunächst Komplexität reduzieren. Ineffiziente Geschäftsprozesse, begrenzte Transparenz für das Management und höhere Compliance-Risiken stellen eine unmittelbare Bedrohung für Leistungsfähigkeit, Innovationskraft, Profitabilität und letztlich Wettbewerbsfähigkeit dar.
In einer Welt, in der die einzelnen Segmente des Gesundheitswesens konvergieren und moderne Technologien Geschäftsmodelle fundamental neu definieren, besitzen schlanke, agile Pharmaunternehmen einen substanziellen Wettbewerbsvorteil. Gerade die Reduktion von Komplexität befähigt Branchenvertreter neue Geschäftsfelder zu adressieren—wie etwa Fokussierung auf Patientenservices, Diagnostika und Kooperationen mit neuen digitalen Marktteilnehmern.
Komplexität reduzieren statt bewältigen
Eine aktuelle Studie von Accenture Strategy zeigt, dass sich viele der großen, forschenden Pharmaunternehmen eher auf Komplexitätsbewältigung konzentrieren als auf Komplexitätsreduktion. Nahezu die Hälfte aller großen globalen Pharmaunternehmen haben Komplexitätsniveaus erreicht, die in keinem gesunden Verhältnis mehr zur aktuellen Profitabilitätssituation stehen.
Von den 59 von Accenture befragten Entscheidern aus der Pharmabranche betrachten daher 75 % Komplexitätsreduktion als Schlüsselfaktor für nachhaltige Kostensenkungen. Doch gleichzeitig bescheinigen nur 19 % der Befragten ihrem eigenen Unternehmen die Kompetenz, überflüssige Geschäftsaktivitäten auf konsistente Art und Weise zu identifizieren und zu beseitigen.
Ganz offenbar sind komplexe Strukturen heute sowohl in den Geschäftsmodellen als auch den Köpfen der Entscheider tief verwurzelt. Vor allem das mittlere Management der Unternehmen hat kein Interesse an Komplexitätsabbau, da er ihre Daseinsberechtigung in Frage stellt.
Häufig entsteht Komplexität durch Akquisitionen, neue Kollaborationsformen und Allianzen, wissenschaftliche Innovationen oder zunehmende regulatorische Vorgaben. Sie manifestiert sich entlang aller wichtigen Pharmafunktionen und wirkt produktivitätsmindernd insbesondere in der präklinischen Forschung, der klinischen Entwicklung, der Produktion und der Supply Chain. Komplexität betrifft Standard Operating Procedures, Richtlinien und Vorgaben sowie Geschäftsprozesse, IT-Systeme, die Architektur der Wertschöpfungskette, das Governance-Modell und die Organisationsform.
Von Lean Six Sigma zur radikalen Simplifizierung
In der Vergangenheit haben viele Pharmaunternehmen versucht, ihre Betriebsmodelle durch Portfoliobereinigungen oder die Straffung einzelner Prozesse zu vereinfachen – etwa mithilfe bewährter Methoden wie Lean Six Sigma. Dieser Ansatz mag zwar weiterhin einen gewissen Wert haben, letztlich ist er aber zu eindimensional und ineffektiv im Hinblick auf die Transformation in einfache und agile Betriebsmodelle. Obwohl Lean Six Sigma beim Prozess-Design helfen kann unnötige Variationen zu verringert, die Prozesskontrolle verbessert und Verluste reduziert, müssen Pharmaunternehmen zunächst ihre Prozesse an sich in Frage stellen, um echte Vereinfachungen zu erzielen.
Radikale Vereinfachung erfordert unternehmerisches Denken und folgt am besten einem Zero-Based-Ansatz unter Nutzung moderner Technologien wie Automation, Robotik und künstlicher Intelligenz. Zudem müssen Führungskräfte für Start-up-Spirit sorgen und nach innovativen Wegen suchen, um schneller am Patienten zu sein sowie Qualität, Compliance und Kostenbasis zu optimieren.
Pharmaunternehmen sollten zunächst mit einer detaillierten Betrachtung ihres Risiko- und Renditeportfolios beginnen. Viele Spieler haben bisher kein genaues Bild ihrer Risikosituation und der Ergebnistreiber entlang ihrer Wertschöpfungskette. Doch die Identifikation und Bewertung potenzieller Chancen und Risiken in Bezug auf Patientensicherheit, regulatorischer Anforderungen sowie rechtlicher Rahmenbedingungen und finanzieller Risiken kann eine wertvolle Ausgangsbasis bilden. Im nächsten Schritt lässt sich ableiten, welche Maßnahmen das resultierende Risiko- und Renditeportfolio optimal adressieren. Das Ergebnis ist häufig nicht mehr nur inkrementell besser, sondern fundamental einfacher und effektiver als die Ausgangssituation. Fast immer dürfte es zielführender sein, die Kernelemente des Betriebsmodells neu zu denken als ein überkomplexes Modell in kleinen Schritten zu verbessern.
Unternehmen, die auf Vereinfachung setzen, müssen für die Nachhaltigkeit der erzielten Effekte sorgen. Ein einfaches und agiles Pharmaunternehmen zu erhalten, ist genauso schwer wie sein Aufbau. Und die fortlaufende Arbeit an der Unternehmenskultur, den Governance-Mechanismen und Modellen zur kontinuierlichen Verbesserung sind der entscheidende Schritt in Richtung eines langfristig wettbewerbsfähigen und wirklich Patienten zentrierten Pharmaunternehmens.