Anlagenbau & Prozesstechnik

Der Lastfall Erdbeben in Chemieanlagen

Neuer Erdbeben Eurocode: Risiken müssen neu bewertet und bei der Konstruktion berücksichtigt werden

16.08.2022 - Mit der Einführung des Erdbeben Eurocodes müssen Gefahren neu bewertet und bei der Konstruktion berücksichtigt werden.

Schadensberichte nach Erdbeben sind hauptsächlich aus Südeuropa und Übersee bekannt. Aber auch in bestimmten Regionen Deutschlands kann die Erde beben. Befindet sich dort eine Chemieanlage, so ist der Lastfall Erdbeben bei der Konstruktion zu berücksichtigen. Mancherorts müssen nun die Gefahren und deren Auswirkungen auf die Tragstrukturen, Einbauten und Versorgungsbauwerke neu bewertet werden. Grund dafür ist die Einführung des Erdbeben Eurocodes DIN EN 1998-1/NA.

Bislang war der Lastfall Erdbeben zu berücksichtigen, wenn der Standort einer Chemieanlage in einer der vier Erdbebenzonen Deutschlands nach DIN 4149 lag. Damit waren aber zahlreiche Regionen keiner Erdbebenzone zugeordnet. Inzwischen wurden die Erdbebengefährdungen auf Basis aktueller europaweiter Erkenntnisse neu berechnet und im nationalen Anhang NA:2021 des Erdbeben Eurocodes DIN EN 1998-1 normativ festgelegt. Die starre Zonen­einteilung entfällt und statt abrupter Zonengrenzen ergeben sich nun fließende Übergänge zwischen verschiedenen Intensitätsbereichen. Als Folge davon kommt es zu Verschiebungen der ursprünglichen Grenzverläufe der Erdbebenzonen sowie teils zu einer deutlichen Erhöhung der für den Erdbebenfall anzusetzenden horizontalen Beschleunigungen und den daraus resultierenden Ersatzlasten.

 

Untergrundverhältnisse haben mehr Einfluss

Aus der Neubewertung können örtlich stark veränderte Erdbebenlasten hervorgehen, teils auch drastische Erhöhungen. Der Bodenparameter S zur Beschreibung des sog. elastischen horizontalen Antwortspektrums wird in Abhängigkeit des Untergrundverhältnisses und der Höhe der Spektralbeschleunigung neu zugeordnet. Aus den bisher sechs entstehen nun 18 mögliche Antwortspektren. Die höhere Anzahl der Antwortspektren bewirkt, dass die Untergrundverhältnisse neu bewertet und auch stärker berücksichtigt werden. Die baurechtliche Einführung des Erdbeben Eurocodes, d.h. die Umsetzung in den Landesbauordnungen, wird vielerorts zu Herausforderungen bzgl. des Erdbebennachweises führen. Dafür sollten Betreiber von Chemieanlagen gut gerüstet sein. Fachgerechte Erdbebenauslegungen im Anlagenbau werden deshalb in Deutschland weiter an Bedeutung zunehmen.

Welche Chemiestandorte sind betroffen?

Neu zu bewerten sind bspw. die Anlagen der Chemieparks in der Niederrheinischen Bucht im Großraum Köln sowie im Bereich des Oberrheingrabens zwischen Frankfurt und Basel. Durch den Wegfall der starren Zoneneinteilung kann es sogar sein, dass innerhalb eines Chemieparks weitere Anlagen und Gebäude hinzukommen, die nun auch bewertet und gegebenenfalls für den Lastfall Erdbeben ausgelegt werden müssen. Das betrifft z.B. den Industriepark Frankfurt-Höchst (großes Foto): Die Anlagen südlich des Mains sind nach DIN 4149 bereits für den Erdbebenfall ausgelegt. Anders im nördlich des Mains gelegenen Teil des Industrieparks: Hier war gemäß DIN 4149 keine nennenswerte Grundbeschleunigung vorhanden. Auf Basis des Erdbeben Eurocodes kommt nun aber der Nordteil des Industrieparks wegen der neu berechneten Grundbeschleunigung hinzu (Tab. 1). Die hier befindlichen Anlagen sind jetzt ebenso für den Lastfall Erdbeben auszulegen. Die Neubewertungen zeigen, dass die ermittelten Beschleunigungen und daraus resultierenden Ersatzlasten an nahezu allen Standorten höher sind. In der Niederrheinischen Bucht im Chempark Krefeld-Uerdingen zeigt sich bspw. eine prozentuale Erhöhung der Grundbeschleunigung um 60 %, die bei zusätzlicher Berücksichtigung des neu zugeordneten Bodenparameters sogar auf 86 % anwächst.

© TÜV

Gegenüberstellung der Grundbeschleunigungen nach DIN 4149 und der Spektralbeschleunigungen sowie der berechneten Grundbeschleunigungen nach DIN EN 1998-1/NA für verschiedene deutsche Chemiestandorte (Datenquellen und Berechnungen: TÜV Süd Chemie Service)

 

Erdbebensicher auslegen – aber wie?

Chemieanlagen sind so konstruiert, dass sie das vertikal wirkende Eigengewicht und die variierenden Füllungs- und Betriebslasten sicher in den Untergrund weiterleiten. Da die Anlagen oftmals im Freien stehen, müssen sie aber auch für horizontale Lasten wie bspw. Wind bemessen werden. Auch Erdbeben führen zu einer horizontalen Bewegung der Anlagen. Dieser Lastfall wird aber im Rahmen eines anzusetzenden semiprobabilistischen Sicherheitskonzepts wiederum anders bewertet, weil die Auftrittswahrscheinlichkeit geringer ist als der Lastfall Wind. Grundsätzlich sind bestimmte, den örtlichen Gegebenheiten angepasste Bemessungs- und Konstruktionsregeln erforderlich. Diese gelten sowohl für die Tragstrukturen einer Chemieanlage als auch für die nichttragenden verfahrenstechnischen Einbauten und die Versorgungsbauwerke, so z. B. für freistehende Tanks und Silos.

Bei der Neubeurteilung werden kritische Punkte in der Auslegung und Konstruktion von Komponenten und Systemen identifiziert. Daraus lassen sich geeignete Maßnahmen zur Ertüchtigung herleiten. Die Ertüchtigungen können rein konstruktiver Art sein oder aber rechnerische Nachweise und gegebenenfalls sogar Umbaumaßnahmen einbeziehen.

Zudem wird beurteilt, ob und wie sich benachbarte Komponenten und Systeme gegenseitig beeinflussen, ob Verformungen an Bauteilen oder starke Bewegungen des Inhalts von Behältern kritisch werden können. Des Weiteren sind Apparate, Pumpen, Rohrleitungen und Fittings zu betrachten, weil auch diese im Erdbebenfall horizontal beschleunigt werden. Hintergrund dabei ist die potenzielle Gefahr, dass Risse und Leckagen entstehen, über die toxische oder entzündliche Stoffe entweichen. Die Maßnahmen zur Ertüchtigung können auch bei bereits geplanten Instandhaltungen oder Revisionen umgesetzt werden, sofern kein akutes Sicherheitsrisiko die sofortige Behebung erfordert.

Erdbeben Eurocode und VCI-Leitfaden stets im Blick

Experten mit langjähriger Prüfroutine sorgen dafür, dass alle Komponenten und Systeme einer Chemieanlage für den Lastfall Erdbeben rechnerisch richtig ausgelegt sind. Das Vorgehen ist bereits auf den neuen Erdbeben Eurocode DIN EN 1998-1/NA abgestimmt und orientiert sich an dem im März 2022 erschienenen, überarbeiteten Leitfaden „Der Lastfall Erdbeben im Anlagenbau“ des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Die aktuelle, dritte Fassung des Leitfadens gibt Empfehlungen für den erdbebengerechten Bau von Anlagen nach aktuellem Stand der Technik, stellt vereinfachte Berechnungsmethoden zur Verfügung und gibt Hinweise für die Beurteilung bestehender Anlagen.

Autor: Stefan Wirth, TÜV Süd Chemie Service

 

„Fachgerechte Erdbebenauslegungen im Anlagenbau werden in Deutschland weiter an Bedeutung zunehmen.“

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