Demokratie und unternehmerische Teilhabe
Unternehmerische denkende Mitarbeiter müssen Entscheidungen treffen dürfen und wollen
Die steigende Komplexität von Prozessen, die zunehmende Digitalisierung und die wachsende Bedeutung von Innovation in Unternehmen verändern die Aufgaben von Führungskräften. Dr. Andrea Gruß sprach mit Thomas Sattelberger, Sprecher der Initiative Neue Qualität der Arbeit sowie ehemaliger Vorstand der Konzerne Telekom, Continental und Lufthansa Passage, über die Herausforderungen an Führung in einer sich verändernden Arbeitswelt.
CHEManager: Der Schlüssel zum Erfolg sind unternehmerisch denkende und handelnde Mitarbeitende - heißt es in vielen aktuellen Strategiepapieren. Was macht einen unternehmerisch denkenden Menschen aus?
T. Sattelberger: Der Begriff ist oft nur eine Worthülse. Würden es die Unternehmen ernst meinen mit unternehmerisch denkenden Mitarbeitern, dann gäbe es Unternehmenskulturen, in denen Menschen - egal welcher Hierarchieebene - unter Risiko und unter unsicherer Information Entscheidungen treffen dürfen und können. Fehler zu begehen oder zu scheitern, wären dabei normale Prozesse. In vielen Unternehmen beobachten wir jedoch genau das Gegenteil von unternehmerischen Kulturen, nämlich Absicherungs- und Abstimmungskulturen, bis hin zu solchen, die sich von der Realität abschotten und sich selbst betrügen.
Welches Umfeld fördert unternehmerisches Denken?
T. Sattelberger: Um unternehmerische Kompetenzen zu entfalten, braucht es ein fehlertolerantes Umfeld, in dem man experimentieren kann. Es bedarf eines Umfelds ähnlich der Arbeitskulturen bei 3M oder Google, die ihren Mitarbeitern nicht nur einen Tag pro Woche für kreatives Denken „freigeben", sondern auch Freiraum für Souveränität des Einzelnen schaffen.
Lassen sich diese Entwicklungskulturen auf den Produktionsbereich von Industrieunternehmen übertragen?
T. Sattelberger: Vor dem Hintergrund von „Industrie 4.0" in angepasster Form definitiv. Denn Industrie 4.0 bedeutet Dezentralisierung von Verantwortung, Selbstsouveränität und Selbstmanagement.
Will die Mehrheit der Angestellten überhaupt mehr Verantwortung übernehmen?
T. Sattelberger: Ich beobachte seit einigen Jahren, dass die Entscheidungsspielräume in den Unternehmen enorm wachsen, sich aber die Entscheidungsfreude auch, und gerade der Führungskräfte verringert. Sicherheitsdenken dominiert. Eine Mehrzahl junger Absolventen will deshalb auch in den öffentlichen Dienst. Ein zweites Thema ist Vertrauen. Mitarbeiter müssen Vertrauen haben, dass sie auch entscheiden dürfen. Die eingangs beschriebene Angstkultur, die in vielen Unternehmen vorherrscht, muss in eine unternehmerische Entscheidungskultur Vieler verwandelt werden.
Welche Rolle kommt Führungskräften bei diesem Kulturwandel zu?
T. Sattelberger: Moderne Führungskräfte reduzieren Kontrolle und Mikromanagement. Sie delegieren zunehmend und systematisch Verantwortung und coachen ihre Mitarbeiter. Moderne Führung erfolgt nicht von Rolle zu Rolle, sondern von Mensch zu Mensch. Dazu muss die Führungskraft die formale Rollendistanz aufheben und auf Augenhöhe beraten.
Auch Zielvereinbarungen gewinnen wieder an Bedeutung. Beide Seiten müssen ihre Interessen und ihren Anspruch definieren und im wahrsten Sinne des Wortes eine Vereinbarung aushandeln.
Weiter muss es einen ständigen Feedback-Prozess, und zwar von beiden Seiten aus, geben. Insgesamt ist gute Führung nicht nur viel flacher in der Hierarchie, sondern auch deutlich demokratischer.
Heißt das, Mitarbeiter werden künftig ihre Führungskräfte wählen?
T. Sattelberger: Ja, ich glaube, dass es in zehn Jahren einen größeren Anteil an Unternehmen gibt, in denen Führungskräfte gewählt werden, d.h. auch abgewählt werden können. Erste Beispiele hierfür gibt es schon heute, wie Haufe-Umantis, Gore-Tex oder Semco.
Für diese Entwicklung gibt es mehrere Treiber. Zum einen die Zunahme an projektorientierten Organisationsformen. Denn Projektorganisation ist im Prinzip Führung auf Zeit. Zum zweiten steigt das Interesse von Menschen, ordentlich geführt zu werden und Einfluss darauf zu nehmen, wer sie führt. Denn die meisten Menschen verlassen ein Unternehmen wegen ihres Chefs und nicht, weil ihnen die Firma nicht gefällt.
Welche weiteren Treiber für die Demokratisierung von Unternehmen sehen Sie?
T. Sattelberger: Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung. Unternehmen haben heute schon zwei Strukturen: Die formale Struktur - sozusagen die Kästchen in der Pyramide - und die informale Struktur, die sich aus einem Netzwerk echter Kooperationsbeziehungen ergibt. Schon heute sehen wir, dass das Netzwerk in Unternehmen die formale Hierarchie schlägt. Leistung wird immer mehr darüber definiert, wer relevante Beiträge für eine Problemlösung bringt. Akzeptiert im Netzwerk ist der, der Schlüsselbeiträge zur gemeinsamen Problemlösung liefert. Welche Beiträge das sind, können ja nur die Mitarbeitenden beurteilen. Digitalisierung beschleunigt deren Entscheidung enorm.
Ein weiterer Treiber der Demokratisierung ist wachsende Bedeutung von Innovation. Entwicklungs- und Innovationskulturen beißen sich mit Hierarchien. Deswegen sollte Führung in diesen Bereichen möglichst wenig sichtbar sein, man spricht hier auch von Remote Leadership. Hier gewinnt Selbstführung und Selbstmanagement an Bedeutung.
Als Botschafter der Initiative Neue Qualität der Arbeit wollen Sie Unternehmen bei Wandel in der Arbeitswelt unterstützen. Wo sehen Sie hier den größten Bedarf?
T. Sattelberger: Der Mittelstand braucht erstens eine einfache Diagnostik, um zu sehen: Wo steht mein Unternehmen beim Thema Diversität, Lernen, Gesundheit und Führung. Zweitens braucht er eine niedrigschwellige Unterstützung im Sinne von Coaching von Veränderungsvorhaben. Und zum Dritten eine Personalplanung, die sich nicht nur auf Menge und Kosten beschränkt, sondern auch die Fähigkeiten von Mitarbeitern und die Altersstruktur der Belegschaft berücksichtigt. Im Kern geht es um die Professionalisierung von Führungs- und Personalmanagement.
Trifft dies auch für Großunternehmen zu?
T. Sattelberger: Bei den großen Konzernen liegen die Probleme weniger im Methodischen. Dort sind die Personalmanagement- und Planungssysteme teilweise so komplex, dass eigentlich der Ruf nach Vereinfachung kommen müsste. Hier ist die Revitalisierung von Führungsverhalten, von gutem Coaching, ein Schlüsselthema. Vereinfacht kann man sagen: Der Mittelstand führt und der Konzern managt. Der Mittelstand braucht ein Stück mehr Personalmanagement, ohne das Thema Führung aufzugeben. Der Großkonzern braucht mehr Führungsqualität, ohne sein methodisches Instrumentarium zu verwerfen. Die Initiative Neue Qualität der Arbeit setzt an beiden Punkten an.
Erfolgreiches Personalmanagement beginnt bei der Nachwuchsgewinnung. Wie finden Unternehmen den Nachwuchs, der am besten zu ihnen passt.
T. Sattelberger: Unternehmen brauchen nicht den Nachwuchs mit der besten Passung, sie brauchen den Unterschied. Unternehmen suchen oft „das Deckelchen aufs Töpfchen". Sie suchen leider nicht nach Mitarbeitern mit hoher Kreativität sondern mit hoher Fachkompetenz, die die Anforderungen in ihrem neuen Job schnell erfüllen sollen. So wie die Schulen wegkommen müssen von ihrer Instruktionsphilosophie, müssen Unternehmen wegkommen von ihrer Reproduktionsphilosophie.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Demokratisierung müssen sich Unternehmen sehr viel stärker öffnen für die Individualität derer, die zu ihnen finden. Je höher die Barrieren sind, die ein Unternehmen für Interessierte baut, desto größer werden dessen Talentprobleme in der Zukunft sein. Denn die Anpassungsleistung in dem sich verändernden Arbeitsmarkt liegt immer stärker auf Seiten der Unternehmen. Das Unternehmen bewirbt sich. Das ist ein einfaches Gesetz von Angebot und Nachfrage. Meine Botschaft lautet daher: Barrieren runter und Brücken bauen.