Chemie-Know-how in der Glasarchitektur
Flüssigkristalle machen Fenster zu intelligenten und energiesparenden Bauelementen
Transparenz und Licht – das sind die Kernthemen moderner Architektur. Die große Herausforderung besteht darin, die ästhetischen Möglichkeiten von Glas mit dem notwendigen Sonnenschutz sowie der Energieeffizienz zu verbinden. Eine innovative Lösung bieten Flüssigkristallfenster. Mit der neuen Technologie lässt sich die Menge des einströmenden Tageslichts auf Knopfdruck regulieren. Dabei trübt die Scheibe nicht ein, und man kann weiterhin hindurchsehen – auch im Dunkelzustand.
Bisher konnte sich keine schaltbare Glastechnologie durchsetzen. In langjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit hat Merck entsprechende Materialien entwickelt: Flüssigkristallfenster eröffnen vollkommen neue Möglichkeiten für Gestaltungen mit Glas, insbesondere auch großer Glasfassaden. Seit über 110 Jahren arbeitet das Darmstädter Unternehmen mit Flüssigkristallen und ist mit seiner umfangreichen Erfahrung auf diesem Gebiet der weltweit führende Lieferant für die Hersteller von Displays aller Art. Konzentrierte sich der Einsatz von Flüssigkristallen bislang auf Anwendungen wie Flachbildfernseher und Smartphones, forscht das Unternehmen seit einigen Jahren an Fenstern mit Flüssigkristallen.
Zusammen mit Partnern aus der Glas-, Fenster- und Fassadenindustrie wird Merck das schaltbare Glas zur vollständigen Marktreife entwickeln. Höhere Anforderungen an die Langzeitstabilität, Löslichkeit der Farbstoffe in den Flüssigkristallmischungen und der Einsatz in Außenanwendungen sind nur ein Bruchteil der Herausforderungen die in der Forschung und Entwicklung zu berücksichtigen waren.
Gestaltungsfreiheit pur
Die Menschen lieben Gebäude mit viel Glas, da die Räume hell sind und viel Ausblick bieten, aber kaum blendet die Sonne, werden die Jalousien heruntergelassen. Wie schafft man da ein perfektes Gleichgewicht zwischen dem notwendigen Lichtbedarf und einer blendfreien Umgebung? Und wie bezieht man in diese Überlegungen andere Themen wie Heizung, Kühlung, Ausblick oder Privatsphäre ein?
Flüssigkristallfenster regulieren den Lichteinfall nach Bedarf und schaffen auf Knopfdruck eine behagliche Atmosphäre. Das bietet eine außergewöhnliche Freiheit bei der Gestaltung interaktiver Fassaden und bei der Planung der Form, Größe und Farbe von Fenstern. Flüssigkristallfenster können extrem schnell zwischen hell und dunkel umschalten und fügen sich nahtlos ein; damit verbinden sie funktionale Effizienz und ästhetische Flexibilität. Gleichzeitig ist auch eine zentrale automatische Steuerung über Innen- und Außensensoren möglich. Derzeit werden Flüssigkristallfenster in einer Reihe von Pilotprojekten, Forschungsarbeiten und Studien getestet. Bekannte Architekturbüros führten Simulationen durch, um die vielfältigen Möglichkeiten für einen Einsatz bei Gebäuden zu prüfen. Analysiert werden Entwurfs- und Planungsprozesse wie auch die Langzeitwirkungen im Bereich Temperatur und die Optik. Erste Renderings zeigen Möglichkeiten für Fassadengestaltungen und dynamische Gestaltungselemente, wie segmentiertes Schalten, dynamische Farben, Gebäudemanagementfunktionen und Displaytechnologien. Flüssigkristallfenster können mit jedem konventionellen Glas verwendet werden und passen sich an jede Form, Größe und Farbe an.
Technologie von morgen
Flüssigkristallfenster sind schaltbare Glasscheiben mit einer Lage Flüssigkristalle, die die Lichtdurchlässigkeit verändern und so die Durchleitung von Licht und Wärme regulieren. Spezielle Flüssigkristallmischungen mit Farbstoffmolekülen bilden eine Zwischenschicht zwischen zwei Glasscheiben. Die Fenster arbeiten mit Flüssigkristallen, wie sie auch in Displays eingesetzt werden. Diese können später in eine Zwei- oder Dreischeiben-Isolierverglasung integriert werden. Flüssigkristallfenster können die Durchlässigkeit der Scheiben für sichtbares Tageslicht und die Sonneneinstrahlung durch einen molekularen Schaltprozess verändern. Beim Anlegen einer geringen Spannung schaltet das Flüssigkristallmaterial im Bruchteil einer Sekunde von dunkel nach hell und umgekehrt. Dieser Schaltvorgang beeinflusst nicht nur die Lichttransmission, sondern auch den Gesamtenergiedurchlass (g-Wert) der Verglasung.
Bei Tests mit über einer Million Schaltungen sowie Langzeitschaltwechseln zeigten sich keine Veränderungen der Produkteigenschaften. Dies macht das Flüssigkristallfenster zu einer Technologie, die ideal für dynamische Anwendungen ist. Die Ergebnisse von Temperaturwechselversuchen zeigen, dass Flüssigkristallfenster Temperaturen zwischen
-20°C und +100°C standhalten, während die Flüssigkristalle selbst für Temperaturen zwischen -40°C und +120°C ausgelegt sind. Derzeit laufen Temperatur- und Feuchtigkeitstests unter Bedingungen, wie sie an einer Fassade herrschen.
Energieeffizienz und Höchstleistungen
Die Vorhangfassade ist eines der Kernelemente der Moderne, aber nach wie vor problematisch aus energetischer Sicht. Sowohl bei neuen als auch bei älteren und historischen Bauten mit großen Glasflächen sind Energieverlust, Wärmeeintrag durch Sonneneinstrahlung und damit verbunden hohe Kosten für die Kühlung an der Tagesordnung. Flüssigkristallfenster ermöglichen Fassaden mit verbesserter Energieeffizienz und mehr Nachhaltigkeit, da der Energieverlust geringer ist und der Wärmeeintrag durch Sonneneinstrahlung besser reguliert werden kann. Dies schafft einfache, elegante und flexible Lösungen mit hohem Energiesparpotenzial. Der Reinigungs- und Wartungsaufwand ist nicht höher als bei einem normalen Fenster.
Untersuchungen haben ergeben, dass abhängig von Einbauort und Ausrichtung einer mit Flüssigkristallfenstern ausgestatteten Fassade, Energieeinsparungen von bis zu 16% bei der Beheizung im Winter, 13% durch Kühlung im Sommer, 28% durch Licht und 7% durch die Ventilation eingespart werden können. Insgesamt ist eine Reduzierung des Energieverbrauchs von ca. 30% möglich. Wählt man für die Fassadeverglasung einen neutralen Grauton, entsteht ein sehr angenehmes Raumgefühl. Der Farbwiedergabeindex liegt bei 94 bis 97%.
Als eines der ersten großen Pilotprojekte wurde vor kurzem das modulare Innovationszentrum von Merck in Darmstadt mit dieser neuen Fenstertechnologie ausgestattet. Die hier eingesetzte Flüssigkristallfenster-Technologie erlaubt eine Lichttransmission von 53% im hellen und 11% im dunklen Schaltzustand bei einem Gesamtenergiedurchlass zwischen 0,4 und 0,25. Der hier nach europäischer Normung geforderte Wärmeschutz (Ug-Wert) konnte mit 1,1 W/m²K erreicht werden.
Kreative Zukunft
Das im modularen Innovationszentrum eingesetzte Flüssigkristallmaterial steht nur exemplarisch für eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die bauphysikalischen Anforderungen an eine Fassade zu erfüllen. Die Anpassung zu mehr Lichttransmission (bis maximal 70%) oder weniger (bis minimal 3,5%) sind möglich – bei gleichzeitiger Veränderung des Gesamtenergiedurchlassgrades. Wählt man eine Dreischeiben-Isolierverglasung kann die Wärmedämmung des Flüssigkristallfensters auf 0,7 W/m²K erhöht werden. Auch bei der Farbe ist das Flüssigkristallfenster variabel: Eine Palette mit den Farben grün, blau, rot violett und gelb steht zur Verfügung.
Die Entwicklung der Flüssigkristallfenster-Technologie für die Architektur hat gerade erst angefangen: Die Steigerung der Energieeffizienz, sowie die Weiterentwicklung des Farbspektrums und die Erhöhung des Kontrastverhältnisses sind nur einige Themen die auf der Forschungsagenda stehen. Auch kann die Fassade in naher Zukunft zu einem überdimensionalen und transparenten Display werden, welches Design und Funktionalität bietet und gleichzeitig Information weitergibt.