Losgelöst von fremden Erden?
Im Jahr 2020 wurde die Europäische Rohstoffallianz ins Leben gerufen. Sie soll die Abhängigkeit von problematischen Lieferregionen reduzieren. Wie kommt das Vorhaben voran?

Magnesit wird zur Herstellung von feuerfesten Materialien verwendet. Mit ihnen können Öfen auf über 1.200 °C erhitzt werden. China kontrolliert zwei Drittel des Weltmarktes für Magnesit. Von der Gefahr, dass „Lieferungen in Geiselhaft Chinas“ gerieten, sprach kürzlich Stefan Borgas, Vorstandsvorsitzender bei RHI Magnesita, einem internationalen Lieferanten von Feuerfestprodukten, -systemen und -dienstleistungen. Dabei gebe es in europäischer Erde genug Magnesit, um die Versorgung der europäischen Schwerindustrie zu sichern. Allerdings seien die Bergbaukapazitäten auf dem Kontinent in den letzten 50 Jahren vernachlässigt worden. Das Mineral müsse in die Liste der Rohstoffe aufgenommen werden, die besonderen Versorgungsrisiken unterliegen.
Magnesit-Verarbeiter Borgas adressiert seine Forderung an den Critical Raw Materials Act (CRMA) der EU. In diesem vor einem Jahr in Kraft getretenen Gesetz sind aktuell 34 „kritische“ Rohstoffe gelistet, z.B. Aluminium, Nickel, Lithium oder Kobalt. Ziel ist es, bis 2030 mindestens 10 % des jährlichen Verbrauchs in der EU durch eigene Förderung, 40 % durch eigene Verarbeitung und 25 % durch Recycling zu decken. Zudem gibt es eine Liste von zurzeit 16 „strategisch wichtigen“ Rohstoffen, die für neue Technologien wie erneuerbare Energien, Elektromobilität oder für die Verteidigungs- und Raumfahrtindustrie unverzichtbar sind. Aber Papier ist bekanntlich geduldig – und die Industrie das genaue Gegenteil davon. „Unternehmen der chemischen Industrie klagten im Jahr 2024 über eine deutliche Zunahme von Lieferengpässen“, so Hilmar Heithorst, Partner der ERA Group, eines internationalen Beratungsunternehmens für strategischen Einkauf und Kostenoptimierung. Konjunkturbedingte Produktionsrückgänge sorgten für ein wenig Entspannung. Wäre umgekehrt ein Aufschwung zugleich der Worst Case? Eine geradezu perverse Vorstellung.
Gemeinsame Einkaufsplattform
Die zunächst wichtigste Maßnahme des CMRA ist deshalb die Gründung einer Plattform für den gemeinsamen Einkauf von Mineralien und Energie. Mit der Umsetzung wurde ein Konsortium aus der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PWC) und der slowakischen Softwarefirma Sféra beauftragt. Die Plattform soll noch in diesem Jahr einsatzbereit sein. Umstritten ist allerdings, welche Rohstoffe im Einzelnen gehandelt werden sollen.
„Der CRMA konzentriert sich nur auf Rohstoffe, die als ‚kritisch‘ eingestuft wurden. Somit werden andere, für unsere Branche nicht weniger relevante Rohstoffe, wie beispielsweise Silber, Zink, Kalziumsulfat oder Quarz als Hauptbestandteil des Sandes, nicht berücksichtigt“, so Matthias Belitz, Leiter des Bereichs Nachhaltigkeit, Energie- und Klimaschutz beim Verband der chemischen Industrie (VCI). Man schlage vor, auch diese Rohstoffe aufgrund ihrer Bedeutung in die Liste der strategisch wichtigen Rohstoffe aufzunehmen. Rohstoffpolitik müsse zudem weitergedacht werden und auch organische Rohstoffe in den Blick nehmen. Dies auch mit Blick auf einen EU Critical Chemicals Act, der sich zurzeit noch in der Diskussionsphase befindet. Denn Maßnahmen zum Erhalt der Chemieproduktion dürften nicht auf wenige zentrale und staatlich festgelegte Produkte verengt werden, so Belitz. Das Ziel höherer Resilienz müsse über Produktionsverbände und Wertschöpfungsstufen hinweg angestrebt werden.
14 Industrieprojekte
Gebündelte Nachfrage im globalen Einkauf ist das eine. Auf fremde Erden so wenig wie möglich angewiesen zu sein, das andere. Eine der wichtigsten Aufgaben der ERMA ist es, den Abbau wichtiger Rohstoffe auf dem Kontinent voranzutreiben. Sie soll Entwickler, Unternehmen, staatliche Stellen und Investoren zusammenbringen sowie für Fördermittel und vereinfachte Genehmigungsverfahren sorgen. Stand März 2025 sind 14 Industrieprojekte zur Sicherung des Abbaus Seltener Erden in ganz Europa ermittelt. In Schweden, Norwegen und Portugal wurden Vorkommen Seltener Erden entdeckt, deren Abbau sich nach Berechnungen lohnen würde. Ebenso in Grönland und in der Ukraine. Wie es hier weitergeht, liegt auch zu einem großen Teil in den Händen einer handlungsfähigen EU.
Dabei wird das Thema Versorgungssicherheit hauptsächlich mit Seltenen Erden in Verbindung gebracht. „Abhängigkeiten bestehen aber nicht nur bei den Rohstoffen, sondern häufig auch bei weiterverarbeiteten Produkten. Die Wertschöpfungsketten in Deutschland setzen oft erst auf dieser Stufe ein“, so Heithorst. Somit gehe es auch um den Aufbau neuer Lieferketten. Erforderlichenfalls müssten neue Werke gebaut werden, was bis zu zehn Jahre in Anspruch nehmen könne. Es ließen sich aber auch einzelne neue Produktionsstufen in bestehende Fabriken integrieren. Womöglich könnten ausländische Lieferpartner dazu bewogen werden, sich in Europa niederzulassen. Gemeinsame Entwicklungen würden einfacher und der administrative Aufwand geringer.
China, Indien oder Pakistan sind regelrechte Vorbilder für ein sog. Nearshoring. Förderstätten und Fabriken liegen Tür an Tür. Niedrige Löhne und geringe Transportkosten bestimmen den Preis, weshalb Fernost für viele als Lieferregion der Wahl gilt – auch für nicht monopolisierte Produkte. Vom Preis ab Werk ließen sich Einkäufer nicht selten täuschen, so der ERA-Experte. Doch es gebe eine Reihe versteckter Kosten, etwa für Wareneingangsprüfungen oder Reklamationen. Vom Soll abweichende Zusammensetzungen oder Verunreinigungen von Produkten seien keine Seltenheit. Dies erfordere regelmäßige Abstimmungen und Qualitätskontrollen vor Ort. Dies und mögliche Kompensationskosten beim Ausfall von Chargen gehörten in eine ehrliche Gesamtkostenanalyse, bevor europäische Alternativen als zu teuer verworfen würden.
Die Risiken streuen
Reshoring, Nearshoring oder Offshoring – nichts davon sei im Augenblick der Königsweg. Die letzten fünf Jahre hätten vielmehr gezeigt, wie wichtig eine breite Aufstellung in der Lieferkette sei, so Heithorst. Es bedürfe eines diversifizierten Netzwerks an Zulieferern. Eine geografische Verteilung trage dazu bei, die Fertigungsflexibilität zu erhöhen und Risiken besser zu streuen. Ebenso wichtig seien dynamische Vertragsstrukturen mit Lieferanten und Produzenten. Diese ermöglichten es, Produktionsorte und -mengen schnell anzupassen und somit flexibel auf Engpässe zu reagieren.
Die Lieferengpässe bei Medikamenten und pharmazeutischen Rohstoffen adressiert der Critical Medicines Act. Vor wenigen Wochen, im März 2025, legte die Kommission den Entwurf vor. Projekte zur Herstellung kritischer Arzneimittel oder ihrer Inhaltsstoffe sollen als „strategisch“ eingestuft werden, was den Zugang zu Finanzierungen und beschleunigten Zulassungsverfahren erleichtert. Unter anderem sollen „auf Anfrage der Mitgliedstaaten“ gemeinsame Beschaffungsinitiativen unterstützt werden.
Lieferkettenprobleme waren nicht die einzige Ursache dafür, dass die Chemie- und Pharmaproduktion im Jahr 2024 beinahe stagnierte. Verantwortlich waren auch Kapazitätsengpässe und hohe Kosten am Standort Deutschland. „Inzwischen erwägen vier von zehn Industrieunternehmen, die Produktion weiter zu drosseln oder gar ins Ausland abzuwandern“, warnte der VCI Ende 2024. Allerdings wisse man bei einigen Lieferländern nicht, ob einem die Fabrik, die man dort heute baue, morgen noch gehöre, so ein Manager aus der Chemiebranche.