Berufswahl Chemie: Ein Funke genügte
VAA-Serie Lebenswege (Teil 4): Ahmad Shaaban, Forscher bei 3M
Es fehlt an qualifiziertem MINT-Nachwuchs. Um zur Popularisierung dieser Berufsfelder beizutragen, lassen wir in Kooperation mit dem VAA junge Wissenschaftler zu Wort kommen. Im vierten Teil der Serie berichtet der deutsch-syrische Polymerchemiker Ahmad Shaaban von 3M über seinen Lebensweg.
Ahmad Shaaban, Advanced Specialist Chemist R&D, 3M Deutschland
MINT-Berufe, die Kompetenzen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik erfordern, sind von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft. Sie bilden die Grundlage für viele wichtige Entwicklungen und Innovationen. Doch in Wissenschaft und Industrie fehlt es an qualifiziertem MINT-Nachwuchs. Um zur Popularisierung dieser Berufsfelder beizutragen, lassen wir in Kooperation mit dem VAA, der Vertretung der Fach- und Führungskräfte in Chemie und Pharma, sechs junge Wissenschaftler zu Wort kommen. Im vierten Teil der Serie berichtet Ahmad Shaaban, Forscher bei 3M, über seinen Lebensweg.

Aktuellen Studien zufolge fehlt der Mehrheit der Jugendlichen der Durchblick bei der Berufswahl. Sie haben keine Ahnung, was sie werden möchten – oder wie die Gen Z zu sagen pflegt: Die Berufsorientierung der Gen Z ist einfach nur „lost“. Auch ich hatte damals keine Vorstellung davon, was ich einmal werden möchte oder wie meine berufliche Zukunft aussehen soll. Sich für einen Beruf zu entscheiden war noch nie leicht, wobei permanente Veränderungen der Arbeitswelt die Entscheidung vermutlich noch schwerer macht.
Meine Meinung änderte sich je nach äußeren und inneren Einflüssen. Ingenieur, Arzt, Wissenschaftler oder IT-Experte? Oder vielleicht doch lieber Polizist? Je nach Jahrgangsstufe und Alter hatte ich unterschiedliche unbewusste, schnell wechselnde Vorstellungen, welche Berufe zu mir passen könnten. Sie wurden geprägt von spannenden Kriminalserien, faszinierenden Experimenten in der Schule, ein paar Stunden in Computerkursen oder dem Besuch beim Arzt. Neugierig auf meine Umgebung war ich schon immer. Doch trotz der Neugier kam ich mit meiner Berufswahl nicht weiter und befriedigende Antworten waren selten zu finden.
„Chemie ist die Wissenschaft, die all diese Objekte, mich und die Natur vereint und erforscht.“
Der entscheidende und bewusste Moment kam für mich kurz nach dem Abitur: Als es ernst wurde und ich mich für ein Studium und später für eine Berufsrichtung entscheiden musste, die ich täglich ausüben möchte, und auch muss. Ich erinnere mich immer noch daran, wie ich in Syrien (Damaskus) im Wohnzimmer meines Elternhauses saß, mir die Frage stellte, was ich studieren möchte und dabei meine Umgebung betrachtete: die weiße Wandfarbe aus Pigmenten und Bindemittel, der Lack auf dem Holztisch, der seine Härte und seinen Glanz durch Polymerisation erhält, die Taschentücher, deren Zellstoff durch chemische Prozesse gebleicht wird, die Fernseher- und Telefongehäuse aus langkettigen Kunststoffen, unzählige kleine Teile und Materialien im Inneren dieser Geräte sowie Batterien, die durch elektrochemische Reaktionen Energie speichern und abgeben. Trotz des intensiven langsamen Denkens kam ich nicht sofort darauf, dass Chemie die Wissenschaft ist, die all diese Objekte, mich und die Natur vereint und erforscht. Doch ein paar Stunden später, nachdem ich viele Pro- und Kontra-Listen erstellt, ein kurzes Nickerchen gemacht und mehrere Tassen Kaffee getrunken hatte, wurde mir immer klarer, welch großen Einfluss Chemie auf unseren Alltag hat.
Natürlich brauchte es mehr als nur diesen Moment, um die Entscheidung für ein Chemiestudium zu treffen. Stärken, Interessen und Neugier spielten eine große Rolle, doch für mich persönlich war dies der Funke, mit dem alles begann. Das war es, was mich beschäftigte: was all diese Objekte verbindet, wie sie hergestellt werden und wie ich daran teilhaben kann. Und natürlich haben nicht zuletzt auch die Versprechungen nach einem gut bezahlten Beruf, mit dem man später seine Brötchen verdienen kann, eine Rolle gespielt.
Deutschland – ein attraktiver Standort für ein Chemiestudium
Doch warum ausgerechnet in Deutschland? Nach knapp 15 Jahren in Deutschland stelle ich mir diese Frage. Mein Chemiestudium habe ich in Damaskus, Syrien, begonnen und nach dem Bachelorstudium festgestellt, dass meine Neugierde gerade erst geweckt wurde. Daraufhin habe ich mich 2010 dazu entschlossen, nach Deutschland zu gehen, um meinen Master zu absolvieren. Damals, vor dem Bürgerkrieg in Syrien, war für mich die Entscheidung klar: Ein Masterstudium muss es sein – die Frage war nur: Wo? Die Möglichkeiten in Syrien fand ich nicht ansprechend. Eine kurze Google-Recherche zeigte mir damals, dass u. a. die Vereinigten Staaten, Deutschland und Kanada führende Länder in der chemischen Forschung sind und eine solide chemische Industrie besitzen. Obwohl die Vereinigten Staaten noch heute als das Land der Träume und unendlichen Möglichkeiten gelten, wurde mir schnell klar, dass ich ohne eine finanzielle Unterstützung meiner Eltern keinen Tag als Student überleben, geschweige denn die Studiengebühren bezahlen könnte. Da dies für mich aufgrund meiner Ambitionen zur Selbstständigkeit nicht in Frage kam, war ein Auslandsstudium in den Vereinigten Staaten weniger attraktiv. Kanada, bekannt für seine sehr kalten, schneereichen Winter, war für mich keine Option. Es blieb Deutschland: Autoland, das Land der Dichter und Denker, des Qualitätssiegels „Made in Germany“. Zudem gelten Deutsche als gründlich, pünktlich und diszipliniert (ebenfalls Eigenschaften, die ich mir angeeignet habe – sagen mir meine Freunde...).
"Deutschland ist ein attraktiver Studien- und Wirtschaftsstandort!"
Schon während meines Bachelorstudiums fiel mir auf, wie viele spannende Publikationen und Entdeckungen aus Deutschland stammen. Deutsche Universitäten im Bereich der Wissenschaft gehören zu den besten der Welt und die Infrastruktur für Wissenschaftler sowie die Industrie ist hervorragend ausgebaut. In Deutschland hergestellte Produkte stehen Umfragen zufolge für herausragende Qualität und Langlebigkeit; es gilt sogar eine Art Haftung und Garantie! Und sie haben mit Abstand den besten Ruf weltweit. Ob es um die Innovationsleistung geht, basierend auf Faktoren wie Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen, die Qualität der Forschungseinrichtungen, die Anzahl der Patentanmeldungen oder um die Sicherheit, wirtschaftliche Stärke und Lebensqualität – Deutschland schneidet im Vergleich immer gut ab und gilt als eine der führenden Nationen weltweit. Deutschland ist ein attraktiver Studien- und Wirtschaftsstandort! So hat sich für mich herauskristallisiert, dass ich für ein Masterstudium nach Deutschland gehen möchte.
Heute weiß ich, in Deutschland lässt es sich sehr gut aushalten. Selbst wenn die ganze Welt in existenziellen Krisen versinkt, merken wir das in Deutschland meist nur in Form einer negativen Nachrichtenflut, die über unsere Smartphones hereinprasselt. Doch wir stehen heute an einem entscheidenden Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: Klimawandel, Energiekrisen und ein endloser globaler Wettbewerb prägen unsere Zeit. Die Müllberge der Chemie überfluten die Meere und die Verbrennungsgase verdrecken die Luft. Klimakatastrophen und Energiekrisen scheinen unausweichlich zu sein – der Point-of-no-Return der Klimakrise scheint überschritten. Doch auch wenn das 1,5-Grad-Ziel nicht gehalten werden kann, weisen Wissenschaftler darauf hin, dass alles getan werden sollte, jedes Zehntelgrad mehr zu vermeiden. Vor allem gilt dies mit den Mitteln, die wir heute haben.

Zur Person
Ahmad Shaaban wurde 1987 in Syrien geboren und ist ein deutsch-syrischer Polymerchemiker. Nach seinem Bachelor in Damaskus zog er 2010 nach Deutschland und absolvierte an der Universität zu Köln seinen Master mit dem Schwerpunkt auf selbstheilenden Elastomeren. Dort promovierte er auch im Bereich magnetischer Komposite und wiederauflösbarer Klebeverbindungen. Seit 2018 ist er bei 3M tätig und leitet internationale F&E-Projekte in der Polymerchemie und Isolationsmaterialien für die Automobilindustrie.
Chemie als Teil der Lösung
Naturwissenschaften wie die Chemie sind ein Teil der Lösung. So kann die Chemieindustrie mit ihren Produkten zu den notwendigen Lösungen von heute beitragen: Wasserstoff und Batterien, Isolationen für Elektromotoren, Verbundwerkstoffe für Rotorblätter von Windkraftanlagen und Solarmodulen oder Wärmedämmung. In der Energiewende und Dekarbonisierung steckt viel Chemie! Chemie sehe ich somit als treibende Kraft und als Innovationsmotor, um den Herausforderungen unserer Zeit – u. a. dem Klimawandel und damit verbundenen irreversiblen Schäden – entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang halte ich es für besonders wichtig, mutig zu sein, vertraute Denkmuster zu hinterfragen und bereit zu sein, Risiken einzugehen und manchmal auch zu scheitern.
Heute ist klar: Ohne Chemie und Forschung gibt es keine Zukunft. Entgegen manchen Negativschlagzeilen bin ich fest davon überzeugt, dass die Chemie in Deutschland und auch in anderen Ländern die Schlüsselindustrie für nachhaltige Entwicklungen und Innovationen bleibt. Die Politik sowie die Industrie tragen die Verantwortung, alles zu tun, um die Infrastruktur sowie Lieferkettensicherheit zu gewährleisten, Forschung und Entwicklung zu stärken sowie eine gute Ausbildung von Fachkräften zu fördern. Und eines ist klar: Ob Polymer-, Molekular- oder Biochemie – der Durchbruch gelingt nur gemeinsam! Die Wissenschaft von heute benötigt interdisziplinäre Teams, Investitionsbereitschaft und starke Kooperation, um das nächste Kapitel der Menschheit zu schreiben.
VAA-Jahrbuch 2024 „Lebenswege“
Den ungekürzten Beitrag lesen sie im VAA-Jahrbuch 2024 „Lebenswege“, in dem rund 30 Frauen und Männer der jüngeren Generation berichten, warum sie sich für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Beruf auf dem Gebiet der MINT-Fächer entschieden haben. Das Jahrbuch kann kostenfrei im Internet heruntergeladen werden.
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