14.05.2025 • NewsCHEMonitorTrendbarometerSantiago Advisors

CHEMonitor - Chemiestandort Deutschland unter Druck

Die deutsche Chemieindustrie investiert trotz Krisenstimmung strategisch – aber zunehmend im Ausland.

Photo

Nur noch ein Drittel der Entscheider in der Chemieindustrie bewerten den Standort Deutschland positiv. Im Jahr 2019 war dies noch bei vier Fünftel der Befragten der Fall. Als Ursachen werden vor allem hohe Energie- und Arbeitskosten sowie die Unternehmensbesteuerung genannt. Dennoch investieren die Unternehmen und setzen gleichermaßen auf Maßnahmen für Wachstum und zur Kostensenkung. Das ergab die aktuelle CHEMonitor-Befragung vom März 2025, des gemeinsamen Trendbarometers von CHEManager und Santiago Advisors (vgl. Titelbeitrag CHEManager 4/2025). Andrea Gruß befragte Hermann Schiegg, Partner bei Santiago Advisors und Mit-Autor des CHEMonitors, zu den Ergebnissen der aktuellen Umfrage. 

CHEManager: Herr Schiegg, die Stimmung unter deutschen Chemie- und Pharmamanagern hat einen neuen Tiefpunkt erreicht? Wie wirkt sich dies auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen aus?

H. Schiegg: Trotz Krisenstimmung ist die Investitionsbereitschaft in der Chemie­industrie insgesamt ausgewogen. Bei der aktuellen ­CHEMonitor-Umfrage antworteten 35 % der befragten Chemiemanager, ihr Unternehmen wolle mehr investieren als in der Vergangenheit, ebenso viele, 32 %, planen dagegen geringere Investitionen. Das zeugt angesichts der aktuellen konjunkturellen Lage von Zuversicht. Deutliche Unterschiede sehen wir allerdings in der Frage, wo investiert wird: Über die Hälfte der Manager antworteten, ihr Unternehmen wolle vermehrt im Ausland investieren, nur jedes fünfte Unternehmen plant höhere Investi­tionen im Inland. Dieser Trend wird untermauert durch die Befragung zu Ressourcenplanung für unterschiedliche Unternehmensfunktionen: Mit 29 % ist der Anteil der Befragten, die einen Personalabbau in der Produktion planen, am größten.

Welche Rolle spielen die Standortbedingungen in Deutschland konkret für die Verlagerung von Investitionen ins Ausland?

H. Schiegg: Die Verlagerung der Investi­tionen ist das Symptom, die Standortbedingungen die zugrundeliegende Ursache. Die Entscheider bewerten die Energie- und Arbeitskosten am Standort Deutschland zu 85 % beziehungsweise 57 % als schlecht. Weitere Faktoren, bei denen die negativen Bewertungen überwiegen, sind die Unternehmensbesteuerung mit 43 % der Nennungen und die digitale In­­frastruktur mit einem Anteil von 37 % an schlechten Bewertungen. Positiv bewertete Faktoren, wie die Qualifikation des Personals oder die gute Qualität der Forschung und Entwicklung, können die Abwanderung kurzfristig nicht kompensieren.

CHEMonitor 1/2025, KI und Demografie
CHEMonitor 1/2025, KI und Demografie
© CHEManager / Santiago Advisors

„Trotz Krisenstimmung ist die Investitionsbereitschaft in der Chemieindustrie insgesamt ausgewogen.“

Welche strategischen Antworten gibt es für Unternehmen der Branche auf die aktuellen Herausforderungen am Standort Deutschland?

H. Schiegg: Die Analyse der eigenen Fähigkeiten und die Konzentration auf die eigenen Stärken sind die Basis für die strategischen Antworten. Deutschland ist nach wie vor von hoher Innovationskraft und einer hohen Qualifikation der Mitarbeitenden geprägt. Daraus lassen sich grundsätzlich eine Fokussierung auf Innovation und Spezialisierung als mögliche Strategien ableiten. Erfolgsfaktoren sind dabei eine optimierte Organisation der Forschung und die Nutzung technologischer Instrumente wie KI sowie Innovationspartnerschaften. Auch die Verknüpfung mit benachbarten Wertschöpfungsketten kann ein Baustein sein, etwa in der Batteriefertigung oder der Zulieferung von Betriebsstoffen in der Halbleiterproduktion. Darüber hinaus gibt es gerade für die World-­Scale-Produzenten Optionen, weiterhin auf Effizienz zu fokussieren und Partnerschaften in den kritischen Bereichen wie Energie einzugehen, wie zum Beispiel die BASF bei regenerativen Energien. Gezielte Standortschließungen innerhalb des Standortportfolios sind allerdings genauso Teil der Realität.

Welche Chancen bietet der Standort Deutschland für die Umsetzung dieser Strategien?

H. Schiegg: Deutschland ist Teil des immer noch zweitgrößten Binnenmarktes der Welt, in einem relativ stabilen Umfeld und mit breit diversifizierten Zuliefer- und Abnehmerindustrien. Dazu kommt zuletzt ein wieder deutlich erhöhtes Verständnis der Politik für die Belange der Industrie. Das betrifft Ankündigen hinsichtlich Strompreissenkungen, Erleichterungen in der Regulatorik wie der nationalen Ausprägung des Lieferkettengesetzes, aber auch die angekündigten Investitionspakete. Das grundlegende Potenzial der Branche ist mit ihren qualifizierten Mitarbeitern vorhanden. Deutschland ist mit 0,9 % Anteil der Beschäftigten in der Chemieindustrie „das“ Chemieland der Welt – einen höheren Anteil hat kein anderes großes Industrieland.

Wie könnten künftige wettbewerbsfähige Wertschöpfungsketten in der deutschen Chemieindustrie aussehen?

H. Schiegg: Die enge Verzahnung der Wertschöpfungsketten mit den Kundenbranchen ist der kritische Erfolgsfaktor für Chemieunternehmen. Welche Kundenbranche? Das sollte eine strategische Analyse der Zukunftsfelder ergeben. Aktuell sehen wir in der Chemieindustrie vielfach eine hohe Abhängigkeit von der Automobilindustrie mit den verbundenen Unsicherheiten. Sind zum Beispiel nachhaltige Produkte ein Trend für die Chemieindustrie als Vorlieferant, der sich als ausreichend stabil erweist? Hier muss jedes Unternehmen für sich die Abnehmerindustrien strategisch bewerten und enge Kooperationen forcieren – zum Beispiel auch durch Ansiedlungen der nächsten Wertschöpfungsstufe am eigenen Chemiestandort oder Chemiepark.


Santiago

Hermann Schiegg

Partner, Santiago Advisors 
© Santiago

Anbieter

Santiago Advisors

Jagdschlößchen Anrath
47877 Willich
Deutschland

Kontakt zum Anbieter