Wirtschaft braucht biologische Vielfalt
Verlust der Biodiversität hat Rohstoffverknappung, rechtliche Anpassungskosten oder Reputationsschäden zur Folge
Immer mehr Chemieunternehmen stellen sich die Frage, welchen Einfluss die Biodiversität auf das eigene Geschäftsmodell hat und wie sich ihr Geschäftsmodell umgekehrt auf Biodiversität auswirkt. Zu Recht, denn die schnelle Abnahme der biologischen Vielfalt birgt erhebliche Risiken für die Wirtschaft – von der wirtschaftlichen Flächennutzung über den Umgang mit Wasser bis hin zu regulatorischen Anforderungen für Unternehmen zum Schutz der Biodiversität.
Andrea Gruß sprach darüber mit Thomas Wagner, Senior Manager und Experte für Biodiversität und Regulatorik bei Accenture.
CHEManager: Welchen wirtschaftlichen Nutzen stiftet uns die Natur?
Thomas Wagner: Wirtschaftswachstum hängt maßgeblich davon ab, welche natürlichen Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Dazu zählen sowohl Rohstoffe, die für die Produktion benötigt werden, als auch regulierende Ökosystemdienstleistungen der Natur, die oftmals als selbstverständlich angesehen werden, wie die Reinigung von Wasser und Luft. Hierfür braucht es funktionierende Ökosysteme, die von vielen Faktoren abhängen. Durch die schwindende Biodiversität gehen diese intakten Ökosysteme verloren. Das bringt zum einen physische Risiken für Unternehmen mit sich, wie Überschwemmungen oder die geringere Fruchtbarkeit von Böden. Auf der anderen Seite entstehen transitorische Risiken, zum Beispiel durch regulatorische Initiativen für die Nutzung von Land oder Wasser, die mit höheren Kosten für die Wirtschaft verbunden sind.
Was versteht man unter dem Begriff Biodiversität?
T. Wagner: Biodiversität, auch bekannt als biologische Vielfalt, bezieht sich auf die Vielfalt der Lebewesen in verschiedenen Umgebungen. Sie umfasst die Vielfalt von Ökosystemen, die Vielfalt von Arten – tierische wie pflanzliche – sowie die Vielfalt von Genen innerhalb einer Art. Letztere ist insbesondere mit Blick auf die Evolution wichtig.
Welches sind die wesentlichen Treiber für den Biodiversitätsverlust?
T. Wagner: Das ist zum einen die zunehmende Umweltverschmutzung, und zwar in allen Formen: Luft- und Bodenverschmutzung ebenso wie die Wasserverschmutzung durch Chemikalien oder Partikel, die sich in der Nahrungsmittelkette anreichern. Zudem gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Klimawandel und schwindender Artenvielfalt. Durch die Klimaerwärmung verändern sich die Ökosysteme, denn manche Arten kommen mit den höheren Temperaturen nicht mehr zurecht. Ein weiterer großer und von Menschen verursachter Einfluss auf die schwindende Artenvielfalt ist die Entnahme von Arten und von Ressourcen, wie Bäumen, sowie die Nutzung von Flächen.
Haben Unternehmen die Risiken des Biodiversitätsverlusts im Blick?
T. Wagner: Vor zwei bis drei Jahren hat die Aufmerksamkeit für dieses Thema stark an Fahrt aufgenommen. Unter anderem aufgrund des breiten Diskurses, inwieweit Biodiversität auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Verstärkt wurde dies durch plastische Beispiele: Obstplantagen, die von Hand bestäubt wurden, weil keine Insekten mehr dafür zur Verfügung standen. Hinzu kommen die Erwartungen des Kapitalmarkts. Ratingagenturen von ISS ESG über MSCI bis Sustainalytics haben das Thema in ihre Fragebögen aufgenommen, die Fragen dazu erweitert und den möglichen Score erhöht. Und das Thema wird auch verstärkt regulatorisch angegangen. Im Rahmen der europäischen Berichtspflicht CSRD gibt es zum Beispiel einen eigenen Standard zu Biodiversität in Ökosystemen.
Welche Risiken sollte ein Unternehmen analysieren?
T. Wagner: Ein Unternehmen sollte sich zum einen der Auswirkungen bewusst sein, die die eigene Produktion, aber auch die der Lieferkette auf die Biodiversität hat. Auf der anderen Seite sollte es sich anschauen, wie stark das Geschäft von den eingangs beschriebenen Dienstleistungen der Natur abhängt. Diese Abhängigkeit kann zum Beispiel bei einem Spezialchemieunternehmen, das in hohem Maße natürliche Rohstoffe verarbeitet, sehr hoch sein.
„Wirtschaftswachstum hängt maßgeblich davon ab,
welche natürlichen Ressourcen dafür
zur Verfügung stehen.“
Welche konkreten regulatorischen Vorgaben gibt es derzeit bezüglich der Biodiversität?
T. Wagner: Biodiversität ist ein komplexes Thema, deshalb zögert die Regulatorik, ganz spezifisch etwas vorzugeben oder zu verbieten. Stattdessen geht man eher den Weg, Unternehmen zur Transparenz zu verpflichten, wie zum Beispiel im Rahmen der CRSD. Hier wird gefordert, dass Unternehmen ihre positiven wie negativen Auswirkungen auf die Biodiversität, aber auch die mit diesem Thema verbundenen Risiken und Chancen für ihr Geschäft offenlegen. Sie müssen über ihre Ziele und Maßnahmen berichten und darüber, welche Managementsysteme sie nutzen und mit welchen Kennzahlen sie ihre Wirkung messen.
Wie lässt sich die Wirkung eines Unternehmens auf die Biodiversität messen?
T. Wagner: Hierfür werden Kennzahlen auf verschiedenen Ebenen benötigt. Einige der Zahlen werden von Unternehmen bereits erfasst: Dazu zählen zum Beispiel die Menge an Schadstoffen, die in Wasser, Boden oder Luft abgegeben werden oder der Wasserverbrauch eines Standorts. Doch während es bei klimarelevanten Kennzahlen egal ist, wo Kohlenstoffdioxid in die Luft abgeben wird – maßgeblich ist allein die Menge – muss für die Bewertung der Biodiversität auch der spezifische Ort erfasst werden, wo das Wasser verbraucht oder die Chemikalie in die Umwelt abgegeben wird: Erfolgt die Wasserentnahme in einem Gebiet mit Wasserstress? Findet die Wasserverschmutzung in einer Region mit hoher Artenvielfalt statt? Erst durch die Kombination der Kennzahlen mit den Geodaten und dem „State of Nature“, dem lokalen Zustand der Natur, kann die Wirkung auf die Biodiversität bewertet werden.
Das klingt nach einem aufwändigen Prozess…
T. Wagner: Genau. Zumal die Zahlen und Daten nicht nur für das eigene Unternehmen, sondern auch für die gesamte Lieferkette benötigt werden. Denn die Biodiversitätswirkung ist oft am Anfang der Lieferkette am größten, dort, wo die Rohstoffe in Minen aus dem Boden entnommen oder auf Feldern angebaut werden.
Unternehmen müssen daher notwendigerweise priorisieren und sich vorerst fokussieren, zum Beispiel auf die Analyse bestimmter Warengruppen, bei denen ein hohes Biodiversitätsrisiko besteht. Oft sind ihnen auch die Standorte nicht bekannt, an denen Lieferanten die Waren produzieren. Hier können zur Vereinfachung Input-Ouput-Kennzahlen genutzt werden. Sie geben unter anderem Auskunft darüber, wo ein Produkt herkommt – sprich, wenn eine Warengruppe in Deutschland gekauft wird, dann kommt diese beispielsweise zu 80 % aus bestimmten Ländern.
Welche weiteren Tipps haben Sie für Unternehmen, die das Thema Biodiversitätsanalyse angehen wollen?
T. Wagner: Bei knappen Ressourcen sollten sie mit einer High-Level-Analyse beginnen. Welche Standorte und Warengruppen des Unternehmens sind betroffen? Wo schlummern hohe Risiken in der Lieferkette? Die Antworten auf diese Fragen reichen meist schon, um unternehmensintern Bewusstsein für das Thema zu schaffen und die Unterstützung des Managements für eine eingehendere Untersuchung der Biodiversitätswirkung zu bekommen. Hierbei können ihnen spezifische Frameworks helfen, den Prozess zu professionalisieren.
Ein großes Problem, auf das viele Unternehmen dabei vermutlich stoßen werden, sind ihre Daten. Ihnen fehlen schlichtweg die notwendigen Daten für eine wissenschaftlich basierte Analyse. In diesen Fällen kann es sinnvoll sein, sich basierend auf der High-Level-Analyse Ziele zu setzen.
Es ist mir wichtig, an der Stelle noch einmal zu betonen: Auch wenn die Unternehmen große Herausforderungen zu bewerkstelligen haben, sollten sie sich nicht entmutigen lassen: Wir sprechen hier von teils unwiderruflichen Schäden, wenn wir jetzt nicht aktiv werden. Das Thema birgt auch hohe Risiken für Unternehmen – sei es durch eine potenzielle Rohstoffverknappung, rechtliche Anpassungskosten oder Reputationsschäden.
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ZUR PERSON
Thomas Wagner ist Senior Manager Sustainability Strategy & Consulting bei Accenture mit einem Schwerpunkt auf Biodiversität und Natur. In dieser Funktion begleitet und berät er Unternehmen unterschiedlicher Branchen zu entsprechenden Impactanalysen, Reportingframeworks, Zielsetzungen sowie Strategieimplementierung. Wagner absolvierte ein Studium der Soziologie und hält ein Certificate in Sustainable Business des Cambridge Institute for Sustainability Leadership.