Wie wirkt Familienpolitik?
Einfluss von familienpolitischen Maßnahmen auf die demografische und wirtschaftliche Entwicklung
Für Betreuungs- und Elterngeld, Ehegattensplitting oder Kitaplätze - rund 3% des Bruttoninlandprodukts, und damit vergleichsweise so viel wie für Forschung und Entwicklung, gibt Deutschland pro Jahr für ehe- und familienpolitische Maßnahmen aus. Doch die ökonomische Wirkung der 156 Maßnahmen und über 200 Mrd. EUR sozialstaatlichen Leistungen ist noch wenig erforscht.
„Die Familienpolitik ist ein tragender Baustein der sozialen Marktwirtschaft und der Wettbewerbsfähigkeit der Chemieunternehmen in Deutschland. Wir haben dieses Thema aufgegriffen, um die wissenschaftliche und die wirtschaftliche Diskussion dieses Themas nach vorne zu bringen", sagt Dr. Axel Schack, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands HessenChemie, des Veranstalters der Wiesbadener Gespräche zur Sozialpolitik zum Thema „Familienpolitik im Unternehmensfokus". Dies ist auch ein Anliegen von Prof. Michael Hüther, Direktor am Institut der deutschen Wirtschaft Köln und Referent der Tagung. Familienpolitik sei noch nicht lange ein Thema der Ökonomen, erklärt der Experte. Vor etwa zehn Jahren, unter Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, fand ein Motivwechsel statt und Familienpolitik wurde zunehmend unter ökonomischen Gesichtspunkten und im Kontext der Demografievorsorge diskutiert. 2006 wurde erstmals eine breit akzeptierte Bestandsaufnahme aller familien- und ehebezogenen Leistungen in Deutschland veröffentlicht und seitdem fünf Mal aktualisiert (vgl. Grafik). In einem internationalen Vergleich aus dem Jahr 2009 waren die Familienleistungen in Deutschland mit 3,1% des Bruttoinlandsproduktes bereits überdurchschnittlich hoch: Der Schnitt über alle 33 OECD-Länder lag bei 2,6%. Und durch die vor kurzem eingeführte Mütterrenteerhöhen sich die in der Grafik dargestellten Sozialleistungen im Jahr 2015 nochmals um etwa 6,7 Mrd. EUR.
Unübersichtliche Vielfalt an Leistungen
„Bisher folgen die ehe- und familienpolitischen Maßnahmen in Deutschland keinem einheitlichen Gesamtkonzept. Vielmehr wurden sie von verschiedenen politischen Akteuren zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Zielsetzungen eingeführt und seither keiner umfassenden Prüfung mehr unterzogen", sagt Hüther. Familienpolitik in Deutschland ist eine unübersichtliche Vielfalt an Leistungen mit teilweise langer Historie. So geht z.B. das vielfach unter Kritik stehende Ehegattensplitting, auf das heute ein Volumen von über 20 Mrd. EUR entfällt, auf einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1957 zurück. Kindergeld gibt es bereits seit 1938: Die Nationalsozialisten zahlten Eltern 10 Reichsmark - ab dem fünften Kind. Erst 1975 wurde diese Sozialleistung in Höhe von 50 DEM auch für das erste Kind gezahlt. Zeitgleich entfiel der Kinderfreibetrag, der jedoch 1989 aufgrund einer Entscheidung des Verfassungsgerichts wieder eingeführt wurde.
Familien brauchen Geld, Infrastruktur und Zeit
Seit dem siebten Familienbericht aus dem Jahr 2006 werden die vielfältigen Familienleistungen in drei Kategorien „Geld", „Infrastruktur" und „Zeit" zusammengefasst. Zu den monetären Leistungen zählen Steuervorteile und Vergünstigungen bei den Sozialversicherungen. Infrastruktur umfasst u.a. die öffentliche Förderung von Betreuungseinrichtungen. Und zeitpolitische Maßnahmen sind z.B. Eltern- und Familienpflegezeit. Letztere belasten zwar die öffentlichen Haushalte nicht, sind aber mit Mehraufwendungen für Unternehmen verbunden.
In dem genannten Familienbericht werden erstmals die vier folgenden Ziele definiert: Vereinbarkeit von Beruf und Familie
- wirtschaftliche Stabilität von Familien
- Wohlergehen und gute Entwicklung von Kindern
- Erfüllung von Kinderwünschen
Zwar sind diese nicht ökonomisch motiviert, doch stehen sie im engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. So wirkt sich bspw. eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie positiv auf die Geburtenrate und die Erwerbstätigkeit von Frauen aus und erweitert die Basis für Fachkräfte. Und das Wohlergehen von Kindern ist Grundvoraussetzung für gute Bildung und entscheidet, welches Qualifikationsniveau sie erreichen.
Nichts wirkt so positiv wie Infrastruktur
Aber längst nicht alle der zahlreichen Maßnahmen sind auch erfolgreich: „Während Familien hierzulande vor allem monetär über Gebühr gefördert werden, wäre es familienpolitisch ratsam, in Deutschland weiter eine qualitativ und quantitativ gut ausgestattete Kinderbetreuungsinfrastruktur voranzubringen", fordert Prof. Hüther. Trotz aller Anstrengungen in Deutschland fehle es nach seiner Auffassung immer noch an Kitaplätzen für die unter Dreijährigen und Ganztagsbetreuung. Derzeit liegt die Betreuungsquote bei den unter Dreijährigen bei 32,3% (2006: 13,6%). Trotz des Anstiegs ist der Bedarf, insbesondere in städtischen Gebieten, noch nicht gedeckt. Deshalb werden mittlerweile Unternehmen als Betreiber von Kindertagesstätten aktiv. Und auch sonst versuchen Arbeitgeber die Vereinbarkeit von Beruf und Familien zu fördern, wo der Staat keine Lösung anbietet.
Gut angelegte Investitionen, denn die wissenschaftliche Forschung belegt einen positiven Beitrag der öffentlichen und öffentlich geförderten Betreuungsinfrastruktur auf alle oben genannten familienpolitischen sowie demografiepolitischen Ziele. Insbesondere Betreuungsangebote für unter Dreijährige wirken positiv auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Die Wahrscheinlichkeit, dass Mütter erwerbstätig sind, ist um 35% höher, wenn ihre Kinder unter drei Jahren in einer Einrichtung betreut werden. Ihre durchschnittliche Arbeitszeit steigt mit dem Kitabesuch ihrer Kinder 12,2 h pro Woche. Damit verbessert sich nicht nur die wirtschaftliche Stabilität der Familien, dies hat auch zur Folge, dass das Familieneinkommen um etwa 700 EUR brutto pro Monat steigt und die Wahrscheinlichkeit, Sozialgeld zu beziehen, um 7,7% sinkt. Das steigert Steuereinnahmen, sichert die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme und entlastet die öffentlichen Haushalte.
Betreuungsgeld setzt falsche Anreize
„Oberste Priorität muss sein, den Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben und die Qualität der institutionellen Betreuung in den Krippen und Kindertagesstätten zu verbessern", fordert daher auch der Bundesarbeitgeberverband der Chemischen Industrie (BAVC). Das im August 2013 in Kraft getretene Betreuungsgeld setze dagegen bildungs- und arbeitsmarktpolitisch falsche Anreize. Während z.B. das Unternehmen B. Braun Melsungen Müttern, die nach weniger als einem Jahr nach der Geburt ihres Kindes mit 50% ihrer Arbeitszeit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, 65% ihres Entgelts zahlt, um die frühe Rückkehr ihrer Mitarbeiterinnen zu fördern, bewirkt das Betreuungsgeld, besonders in Kombination mit dem Ehegattensplitting und der beitragsfreien Familienkrankenversicherung, genau das Gegenteil: Es schafft einen finanziellen Anreiz für Mütter, länger als ein Jahr aus dem Berufsleben auszusteigen. Nach einer Statistik aus dem zweiten Quartal 2014 beziehen rund 225.000 Eltern Betreuungsgeld. Die durchschnittliche Bezugszeit liegt bei über 19 Monaten.
Längere Unterbrechungszeiten in der Erwerbsbiografie beeinträchtigen jedoch die Verdienstchancen und tragen zu einer unterschiedlichen Einkommensentwicklung von Frauen und Männern bei. „Die Einführung des Betreuungsgeldes wirkt so auch den Maßnahmen zum Erreichen von Chancengleichheit im Berufsleben entgegen", kritisiert der BAVC und wird hierbei von seinem Sozialpartner, der IG BCE unterstützt. Und nicht nur das, es vermindert auch die Entwicklungschancen von Kindern aus bildungsfernen Schichten, den eine qualifizierte Betreuung und Förderung im frühkindlichen Alter eröffnet insbesondere ihnen Chancen und reduziert den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsbiografie.
Mehr Leistungen für Familien mit Doppelverdienern
Der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für Kinder von zwölf Monaten bis zwölf Jahren ist nicht nur nachweislich effektiv ist, sondern führt auch nicht zu unerwünschten Nebeneffekten. Dagegen können monetäre und steuerliche Leistungen negative Auswirkungen auf die demografiepolitischen Ziele und die Fachkräftesicherung in Deutschland haben, insbesondere, wenn sie sich stark am Alleinverdienermodell orientieren. Doch genau dies gilt für einen Großteil der familienpolitischen Leistungen: Von den 200 Mrd. EUR ehe- und familienbezogenen Leistungen leisteten nur 24 Mrd. EUR einen großen Beitrag zur Fachkräftesicherung und 74 Mrd. EUR kämen vor allem dem Alleinverdienermodell zu Gute, analysiert Prof. Hüther und fordert vor diesem Hintergrund eine stärkere Ausrichtung der monetären Leistungen an Doppelverdiener-Paaren. „Auch müssen Einzelleistungen über die Grenzen der Ministerien hinweg besser miteinander verzahnt werden", sagte Prof. Hüther in Wiesbaden.