Sinnvolle Arbeit
Potenzialentwicklung motiviert Mitarbeiter und stiftet Sinn
Ein Großteil der Beschäftigten in Deutschland wünscht sich, dass Arbeit nicht nur Geld verdienen, sondern auch Sinnstiftung bedeutet. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Realität: Jeder dritte Arbeitnehmer hält seinen Job für sinnlos. Andrea Gruß sprach mit Mario Kestler, Geschäftsführer der Haufe Akademie, über die Ursachen für mangelndes Sinnempfinden und mögliche Wege zu einer besseren Sinn-Passung zwischen Mitarbeitern und Unternehmen in einer digitalisierten Arbeitswelt.
CHEManager: Herr Kestler, warum stellen sich heute mehr und mehr Arbeitnehmer die Frage nach dem Sinn der Arbeit?
Mario Kestler: Die Arbeitswelt 4.0 ist ein Katalysator für Schnelligkeit, Vernetzung und Agilität, aber auch für eine Menge Stress. Die Zunahme an Komplexität und die Beschleunigung setzen Mitarbeitern, insbesondere Führungskräften, zu. Hinzu kommt die Unsicherheit: Kann ich noch mithalten? Was kommt auf mich zu? Wie beziehe ich einen klaren Standpunkt vor dem Hintergrund einer Vielfalt an Positionen? Und wie gehe ich mit Widersprüchen um? Der Begriff VUCA – er steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity – bringt die Situation sehr gut auf den Punkt.
In diesem Szenario lohnt es sich für Menschen das Thema Sinn in den Fokus zu nehmen und sich Fragen zu stellen: Wo stehe ich und in welchem Kontext erbringe ich meine Arbeit? Welchen Nutzen stiftet sie für andere? Denn das Empfinden, die eigene Arbeit leiste einen bedeutsamen Beitrag, reduziert Stress und lässt Mitarbeiter im Zweifel eine Extra-Meile gehen.
Sind es eher jüngere oder ältere Mitarbeiter, die die Sinnfrage stellen?
M. Kestler: Ich erlebe den Trend generationsübergreifend. Die Motive, sich mit der Sinnfrage zu beschäftigen, mögen jedoch abhängig vom Lebensalter und Erfahrungsgrad unterschiedlich sein. Berufseinsteiger wählen heute oft sehr bewusst ihren Arbeitgeber aus. Sie wollen wissen, welchen gesellschaftlichen Beitrag das Unternehmen leistet oder welchen Wertbeitrag die Produkte einer Firma stiften. Aber auch erfahrene Mitarbeiter möchten nicht für den Papierkorb arbeiten oder sich wie Sisyphus abstrampeln, nur um eine Gehaltszahlung auszulösen. Sie wollen sichergehen, dass die Arbeit, für die sie einen Großteil ihrer Lebenszeit aufwenden, sinnvoll ist.
Sehen Sie eine Abhängigkeit vom Bildungsabschluss beim Empfinden der Sinnhaftigkeit?
M. Kestler: Ich kann mir vorstellen, dass sich Menschen, die sich länger aus- und fortgebildet haben in der Regel stärker Gedanken machen: In welche Richtung möchte ich gehen? Welche Arbeit ist für mich stimmig, auch in Bezug auf meine privaten Ziele? Aber das Empfinden mangelnden Sinns bei der Arbeit ist nicht nur das Luxusproblem von höher Qualifizierten. Auch wer einfache Tätigkeiten verrichtet und dabei nicht den Eindruck hat, dass er einen wichtigen Beitrag leistet, gerät in die Frustfalle.
Der Einfacharbeitsindex des Instituts der deutschen Wirtschaft besagt, Akademiker erledigen wie alle anderen Beschäftigten heute häufiger Routinejobs als vor 30 Jahren. Wie wirkt sich dies auf die Motivation der Mitarbeiter aus?
M. Kestler: Ich kann diese Entwicklung aus eigener Erfahrung bestätigen. Es müssen heute viel mehr Dinge beachtet und einfachere Handgriffe erledigt werden, um ein Projekt voranzubringen. Ich glaube aber, solange man sich des Sinns dieser Tätigkeiten bewusst ist, scheut sich niemand, einfache Prozesse zu bedienen oder Daten in Formularfelder einzufüllen. Fehlt das Sinnempfinden, dann verspüren Mitarbeiter jedoch einfache Tätigkeiten als Unterforderung, langweilig oder gar demotivierend. Es kommt nicht darauf an, ob es sich um eine simple Tätigkeit handelt, sondern die Kopplung der Arbeit an einen Sinn ist wichtig.
Warum ist es so wichtig, einen Sinn bei der Arbeit zu empfinden?
M. Kestler: Es ist erfüllend, motiviert Mitarbeiter und wirkt sich positiv auf ihre Gesundheit aus. Das belegt auch der der aktuelle Fehlzeiten-Report 2018 des Wissenschaftlichen Institutes der AOK. Befragt nach ihren Arbeitswerten, antworteten 93 %, ihnen sei es wichtig, etwas Sinnvolles zu tun. Ein hohes Einkommen war dagegen nur für 61 % der Studienteilnehmer bedeutend. Sinnempfinden wirkte sich direkt auf die Fehlzeiten aus: Befragte mit guter Sinn-Passung hatten im Schnitt zehn krankheitsbedingte Fehltage weniger pro Jahr als ihre Kollegen.
Was können Unternehmen zu einer Steigerung der Sinn-Passung beitragen?
M. Kestler: Unternehmen haben lange Zeit versucht, aus Mitarbeitern Mitunternehmer zu machen. Alignment-Prozesse sollen dazu beitragen, dass Mitarbeiter die Unternehmensziele verinnerlichen. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Denn jeder Mitarbeiter hat sein eigenes Warum, was ihn begeistert, warum er morgens aufsteht – sein „Individual Why“. Unternehmen sollten viel stärker die Whys ihrer Mitarbeiter berücksichtigen. Denn wenn beide Seiten, die Organisation und die Menschen darin, ihre eigenen Ziele verfolgen und darin Schnittmengen – das sogenannte Shared Why – finden, profitieren sowohl Mitarbeiter als auch Unternehmen davon.
Wie kann das gelingen?
M. Kestler: Unternehmen benötigen hierfür einen Markenkern, der für alle Mitarbeiter transparent ist. Wenn sich alle Unternehmensbereiche, vom Marketing über die Produktphilosophie bis hin zum gesellschaftlichen Engagement, anhand des vom Markenkern ausgehenden Sinns ausrichten ist das der beste Katalysator dafür, dass sich ein Unternehmen gut entwickelt, sowohl auf Personal- als auch auf Organisationsebene. Bei vielen Unternehmen sind jedoch gerade die Aktivitäten im Bereich Corporate Social Responsibility entkoppelt vom Zweck des Unternehmens. Für Mitarbeiter ergibt sich kein Zusammenhang. Das gesellschaftliche Engagement wirkt dann wie eine Alibiveranstaltung.
Was sind die Hauptursachen dafür, dass Mitarbeiter ihre Jobs für sinnlos halten?
M. Kestler: Oft versäumen es Führungskräfte, einen Kontext herzustellen und Mitarbeitern die Vision aufzuzeigen, zu der sie einen Beitrag leisten. Ein Management der heruntergebrochenen Ziele, wie es vielfach praktiziert wird, führt jedoch dazu, dass ein Mitarbeiter nur noch weiß, die Daten müssen bis Freitagmittag im System sein. Er erfährt nicht, wer diese benötigt oder wie sie weiterverarbeitet werden. Dieses Nicht-über-den-Tellerrand-hinausschauen-können beziehungsweise das Nicht-Wissen, welchen Beitrag die eigene Arbeit in der arbeitsteiligen Welt leistet, frustriert.
Die zunehmende Digitalisierung fördert agile Arbeitsweisen. Inwieweit wirken sich diese sinnstiftend aus?
M. Kestler: Im herkömmlichen Projektmanagement werden Ergebnisse top-down vorgegeben. Wo agil gearbeitet wird, gibt dagegen das Why, also der Sinn des Projekts, bei Projektstart einen Rahmen vor. Es wird teilweise ergebnisoffen gearbeitet beziehungsweise Ergebnisse können sich im Laufe des Prozesses verändern solange sie noch das Why erfüllen. Es geht also nicht mehr darum, genau vereinbarte Ziele mit den zur Verfügung stehenden Mitteln im vorgegebenen Zeitraum zu erreichen. Agiles Projektmanagement bietet Mitarbeitern ein höheres Ausmaß am Prozess, aber auch an der Definition und der Abstimmung der Ergebnisse mitzuwirken, Es findet eine Demokratisierung statt. Das beginnt schon bei der Zusammenstellung der Projektteams: Projekte werden ausgeschrieben und Mitarbeiter können sich gemäß ihrer Leidenschaft und Motivation für eine Aufgabe bewerben. Ihre Mitarbeit wird nicht mehr top-down verordnet.
Führungskräfte sollten bei der Zusammenstellung dieser Teams darauf achten, nicht nur diejenigen für ein Projekt auszuwählen, die zwecks Position oder Erfahrung am nächstliegenden sind. Denn Mitarbeiter mit weniger Erfahrung, die die Gelegenheit bekommen, sich im Projekt weiterzuentwickeln, bringen oft eine noch größere Leidenschaft mit.
Wie verändert sich Führung im Kontext der agilen Arbeitsweisen?
M. Kestler: Die neuen Arbeitsweisen, bei denen man gemeinsam plant, gemeinsam Rechenschaft ablegt und auch eine höhere Transparenz hat, wer welche Beiträge leistet, erfordern ein hohes Maß an Disziplin. Das gelingt nur, wenn man sich gegenseitig stützt und Einzelne immer wieder temporär Führungsrollen übernehmen. Für agiles Arbeiten ist daher in Summe mehr Führung notwendig, aber die Führung ist breiter verteilt. Für die Teammitglieder bedeutet das einen dynamischen Wechsel zwischen Führen und Folgen. Auch die formale Führungskraft kommt in die Rolle des Folgens. Wir erleben oft in Führungstrainings, dass die meisten Führungskräfte mit dem Führen kein Problem haben, sondern mit dem Folgen. Ihnen fällt es schwer, den Kollegen im Team die Verantwortung wirklich vollständig zu übertragen und zuzulassen, dass Dinge anders gelöst werden als man es selbst gemacht hätte.
Warum Menschen davon überzeugt sind, dass die eigene Arbeit einen sinnvollen Beitrag zu den individuellen Zielen oder denen des Unternehmens leistet, ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Wie kann vor dem Hintergrund der vielfältigen „Whys“ eine sinnvolle Personalentwicklung gelingen?
M. Kestler: Unternehmen sollten der Potenzialentfaltung ihrer Mitarbeiter einen höheren Stellenwert geben. Menschen werden heute oft auf einen bestimmten Zweck hin ausgebildet, nach dem Motto: Das musst du in acht Wochen können, also gehst du morgen zu diesem Training. Wenn Unternehmen mehr darauf achten, wofür einzelne Menschen brennen, wohin sie sich entwickeln möchten, dann können sie die Mitarbeiter entsprechend fördern und ihr ganzes Potenzial freisetzen. Welche enorme Energie dabei entsteht, konnten wir eindrucksvoll bei unserem S.mile-Projekt erleben. Unternehmen, die auch in Zukunft erfolgreich sein wollen, dürfen Menschen nicht als Objekte behandeln und für einen betriebswirtschaftlichen Nutzen verzwecklichen, sondern stattdessen auf ihre Potenzialentfaltung setzen.
Sie erwähnten eingangs, dass die Digitalisierung unsere Arbeitswelt stark verändert und dies zu Unsicherheit und Stress führen kann. Was gibt Menschen und Unternehmen Halt vor dem Hintergrund des rasanten Wandels?
M. Kestler: Ich begegne in der Arbeitswelt, zum Beispiel in der Personal- oder Organisationsentwicklung oder bei den neuen Arbeitsweisen, immer wieder zwei gemeinsamen Motiven von Menschen und Organisationen: Dem Streben nach Autonomie und dem nach Verbundenheit.
Autonomie, das heißt Gestaltungsfreiheiten zu nutzen und die Fäden selbst in der Hand zu haben, ist nicht nur das Bestreben des einzelnen Menschen, sondern auch einer Organisation, die trotz aller Komplexität für sich unabhängig bleiben will.
Daneben steht der Wunsch nach Verbundenheit von Menschen, zum Beispiel innerhalb eines Unternehmens oder über die Unternehmensgrenzen hinweg zwischen Kunden und Partnern. Viele vernetzen sich über LinkedIn oder Xing oder andere Netzwerke, aber eine tiefe menschliche Verbundenheit oder gelingende Beziehungen entstehen dadurch nicht. Dies kann Digitalisierung nicht leisten.
Aus meiner Sicht bilden Autonomie und Verbundenheit keinen Widerspruch, sondern tragen sich gegenseitig. Denn Verbundenheit ermöglicht es erst, Gestaltungsfreiheiten nutzen zu können. Beides zusammen schafft Freude am Neuen, am Experimentieren und sichert so Innovation.
Das Menschliche ist unsere Stärke. Es wird nicht durch künstliche Intelligenz zu ersetzen sein. Diese Stärke müssen wir in die digitalisierte Arbeitswelt von morgen einbringen.
S.mile – Entwicklung erleichtern, Sinn fördern
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie Mitarbeiter dem Sinn ihrer Arbeit näherkommen, ist das Projekt S.mile (= smart mile) der Haufe Akademie. Zwei Ausgangsfragen standen dabei im Zentrum: Erstens, wie kann der Mehrwert der eigenen Arbeit für alle Mitarbeiter der Haufe Akademie greifbar werden – selbst wenn der einzelne nur einen scheinbar kleinen Beitrag zum großen Ganzen leistet? Und zweitens: Welches Potenzial können Menschen entfalten, wenn man vorbehaltslos an sie glaubt und uneingeschränkt fördert? Um dies zu erkunden, wurden 15 ausgewählten Menschen mit ganz eigenen beruflichen und persönlichen Hintergründen über zwei Jahre das volle Entwicklungsprogramm der Haufe Akademie zur Verfügung gestellt. Dazu zählten auch die individuelle Beratung und Begleitung durch persönliche Coaches. Die Entwicklung des Projekts und seiner Teilnehmer wurde während des gesamten Zeitraums durch den Filmemacher Kristian Gründling dokumentarisch begleitet.
Das Projekt ist im Juni 2018 zu Ende gegangen. Die Ergebnisse zeigen den Mitarbeitern der Haufe Akademie, welchen Beitrag sie wirklich leisten und führen den Teilnehmern neue Fähigkeiten und Kompetenzen und vielleicht auch Interessen und Talente vor Augen, die sie zuvor womöglich gar nicht erahnt hatten. Das Resultat: Neue Motivation und Perspektiven sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Mitarbeitern.