Schneller, stärker, grüner: KI in der Chemie
Künstliche Intelligenz hilft bei der Entwicklung von neuen Wirkstoffen und modernen Werkstoffen
Die jüngste Kooperation zwischen Microsoft und dem Pacific Northwest National Laboratory (PNNL) hat ein neues Kapitel in der Chemie und Materialwissenschaft eröffnet. Durch die innovative Verbindung von künstlicher Intelligenz (KI) und High-Performance Computing (HPC) wird der Forschungsprozess revolutioniert, indem Entdeckungen, die einst Jahrzehnte dauerten, nun in wenigen Wochen und Monaten realisiert werden können.
Die Grundlagenforschung der beiden Partner führte bereits zu ersten konkreten Anwendungen, dazu gehört die Identifizierung neuer Materialien für fortschrittliche Batterietechnologien aus Millionen von Kandidaten. Mit der Realisierung theoretisch vorhergesagter, bislang unbekannter Verbindungen hat nun die praktische Erprobung begonnen. Neben der enormen Zeitersparnis geht es also schneller in die Produktion. Wir stehen erst am Anfang einer neuen Epoche, einer neuen Ära der Forschung, in der die Grenzen des Machbaren neu definiert werden. Um das nun Machbare besser zu verstehen, möchte ich im Folgenden die Grundzüge der neuen Technologie erklären. Für mich entscheidend ist: Ab jetzt verfügen wir über ein ebenso verlässliches wie vielseitiges Verfahren.
Durchbrüche beschleunigen und Forschungsprozesse neugestalten
Unsere Zusammenarbeit mit dem PNNL steht exemplarisch für die transformative Kraft der Digitalisierung in der wissenschaftlichen Forschung. Im Zentrum steht die Nutzung von KI und Hochleistungsrechnern, um den Prozess der Materialentdeckung und -entwicklung zu beschleunigen. Ein Schlüsselprojekt dieser Kooperation ist die Suche nach neuen Materialien für Batterietechnologien, ein Bereich, der für die Energiewende von entscheidender Bedeutung ist.
Mit dem Einsatz avancierter KI-Algorithmen und der Rechenleistung von Hochleistungscomputern konnte das Forschungsteam aus über 32 Millionen möglichen Materialkandidaten jene herausfiltern, die das Potenzial für verbesserte Batterien besitzen.
Diese Herangehensweise verändert den traditionellen Forschungsprozess radikal: Bislang wurde in langwierigen experimentellen Phasen und mit einer hohen Rate an Trial-and-Error-Verfahren gearbeitet; jetzt ermöglicht die Kombination aus KI und Computing eine präzise und schnelle Vorauswahl, wodurch die Zeit von der ersten Idee bis zum Labortest signifikant verkürzt wird.
Ein konkretes Ergebnis ist die Entdeckung eines neuen Materials, das die Effizienz und Langlebigkeit von Batterien erheblich verbessern könnte. Das Material verwendet sowohl Lithium als auch Natrium sowie einige andere Elemente. Dadurch könnte der Lithiumgehalt der resultierenden Zellen um bis zu 70 % gesenkt werden. Der Prozess befindet sich noch in einem frühen Stadium, die chemische Zusammensetzung muss noch optimiert werden.
Die Vorteile des neuen Materials sind immens. Heute wird unsere Welt zunehmend mit Lithium-Ionen-Batterien angetrieben – nach Schätzungen des US-Energieministeriums wird der Lithiumbedarf bis 2030 um das Fünf- bis Zehnfache steigen. Lithium ist schon jetzt knapp und damit teuer. Seine Gewinnung ist zudem ökologisch und geopolitisch problematisch. Und schließlich: Herkömmliche Lithium-Ionen-Batterien sind ein Sicherheitsproblem, weil sie in Brand geraten oder explodieren können. Viele Forschende sind deshalb auf der Suche nach Alternativen.
„Wir stehen am Anfang einer neuen Ära der Forschung, in der die Grenzen des Machbaren neu definiert werden.“
Wie pharmazeutische Wirkstoffe wirksamer und verträglicher werden
Ein weiteres Beispiel für den erfolgreichen Einsatz modernster Technologien ist das Molecular Modelling Laboratory (MML) in der Schweiz.
MML nutzt Hochleistungscomputer, um die Aufnahme von Medikamenten im menschlichen Körper zu untersuchen. Menschen haben oft Schwierigkeiten, chemisch komplizierte Verbindungen zu verstoffwechseln, da diese eine zu geringe Löslichkeit im menschlichen Verdauungstrakt besitzen. Deswegen verwenden Arzneimittelhersteller die sog. Amorphous Solid Dispersion (ASD), eine Formulierungstechnik, bei der pharmazeutische Wirkstoffe mit organischen Polymeren gemischt werden, um die Löslichkeit und damit die Bioverfügbarkeit (Wirksamkeit) von Arzneimitteln zu verbessern. Hierbei die komplexen Interaktionen auf molekularer Ebene zu verstehen, erfordert rechenintensive Simulationen, die ohne die Kapazitäten von HPC kaum realisierbar wären.
Durch cloudbasiertes HPC kann MML umfangreiche Datenmengen, die bei klinischen Tests neuer Medikamente anfallen, schneller durchsuchen und klassifizieren. Dies beschleunigt nicht nur die Identifizierung potenzieller Wirkstoffkandidaten, sondern ermöglicht auch eine präzisere Vorhersage ihrer Stabilität, Verträglichkeit und Wirksamkeit. Die Fähigkeit, komplexe Simulationen durchzuführen und große Datenmengen effizient zu analysieren, verkürzt die Entwicklungszyklen von Medikamenten erheblich und bringt innovative Therapien schneller zu den Patienten.
Cloud Computing, Datenanalyse und maschinelles Lernen spielen eine zentrale Rolle in diesem Prozess. Sie ermöglichen es den Forschenden, Experimente virtuell durchzuführen und Hypothesen zu testen, ohne auf physische Labortests angewiesen zu sein.
Der Mix aus KI, High-Performance- und Quantencomputing
Die computergestützte Datenverarbeitung hat die Prozesse wissenschaftlicher Forschung bereits enorm beschleunigt. Jetzt aber erhöht die Kombination aus generativer KI und Cloud Computing der nächsten Generation das Forschungstempo noch einmal immens. Immer deutlicher zeichnen sich die Konturen einer künftigen Forschungslandschaft ab.
Dabei kommt es auf den richtigen Mix an: Wie das Beispiel bei PNNL verdeutlichen sollte, filterte KI zunächst aus 32 Millionen Materialkandidaten etwa 500.000 vielversprechende aus und reduzierte diese Zahl weiter auf 800. Weil KI zwar schnell, aber oft noch nicht genau genug ist, kamen Molekulardynamiksimulationen zum Einsatz, die KI und HPC kombinierten und die Liste auf 150 Kandidaten reduzierten.
nschließend bewerteten Wissenschaftler mithilfe von HPC die Praxistauglichkeit der einzelnen Materialien – Verfügbarkeit, Kosten usw. –, um die Auswahl auf die 23 aussichtsreichsten Kandidaten zu verfeinern. So ermöglichte die Kombination aus menschlichen Kompetenzen sowie KI und HPC eine rasche Identifizierung der besten Materialkandidaten in nur 80 Stunden.
Die intensive Rechenleistung ist der Engpass, selbst an Universitäten und Forschungseinrichtungen, die über Supercomputer verfügen. Denn als wertvolle Ressource werden sie hier gemeinsam genutzt, weswegen Forschende unter Umständen warten, bis sie an der Reihe sind. Auch dafür gibt es eine Lösung: KI-Tools wie bei Azure HPC stellen in der Cloud auch kleineren Forschungseinrichtungen und Unternehmen die richtigen Rechnerkapazitäten zur Verfügung.
Für die weitere Zukunft erwarte ich die ersten Anwendungsfälle fürs Quantencomputing. Dafür schaffen wir heute die Voraussetzungen und bieten eine technologische Plattform an, die vor allem für die Chemie und die materialwissenschaftliche Forschung im Hinblick auf das spätere Quantencomputing entwickelt wurde.
„Immer deutlicher zeichnen sich die Konturen einer künftigen Forschungslandschaft ab.“
Die Zukunft der Forschung im Zeitalter von KI und Quantencomputing
Bei der Implementierung dieser fortschrittlichen Technologien ergeben sich auch Risiken. Dazu gehören Fragen des Datenmanagements und der Sicherheit, da die Verarbeitung und Speicherung sensibler Forschungsdaten hohe Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit stellen. Das lässt sich mit einem Cloud-System realisieren, indem bspw. mittels Confidential Computing sensible Daten im Arbeitsspeicher verschlüsselt und erst dann verarbeitet werden, wenn die Cloudumgebung überprüft wurde.
Trotz der Herausforderungen sollten wir die immensen Chancen nicht aus den Augen verlieren. Die neuen Technologien erhöhen die Leistungsfähigkeit und Zielgenauigkeit in Forschungs- und Entwicklungsprozessen erheblich, indem sie es ermöglichen, anspruchsvolle Simulationen und Analysen in einem verkürzten Zeitrahmen durchzuführen: Dies führt neben einer Beschleunigung der Materialentdeckung und der Entwicklung neuer Medikamente auch zu einer Reduzierung der Kosten und Ressourcen.
Darüber hinaus tragen diese Technologien zur Nachhaltigkeit bei, indem sie die Entwicklung umweltfreundlicher Materialien und Prozesse unterstützen.
Innovation ist ein weiterer Vorteil: Grenzen des Machbaren werden erweitert und bahnbrechende Entdeckungen möglich, die mit herkömmlichen Methoden nicht realisierbar wären und vor einigen Jahren noch undenkbar waren.
Gartner erwartet, dass schon 2025 über 30% aller neuen Medikamente und Materialien systematisch mit Hilfe generativer KI-Technologien entdeckt werden. Mit allen notwendigen Vorbehalten, dürfen wir dennoch an diese Zukunft glauben: Sie hat gerade erst begonnen und wir nutzen bisher nur einen Bruchteil der zukünftigen Möglichkeiten generativer KI.
Wir werden die Produktion von biologischen Materialien und Verfahren ausweiten. Insbesondere bei der Suche nach Ersatzstoffen für umwelttechnisch oder gesundheitlich bedenkliche Stoffe in Rezepturen (z.B. Farben) bzw. Materialmischungen kann die Kombination von KI und Simulation mittels HPC einen wertvollen Beitrag leisten.
Ungeahnte Möglichkeiten! Seien wir also vorbereitet – mit hinreichender Vorsicht, aber viel Entdeckerlust.
Autor: Wolfgang Lippert, Chemicals & Energy Industry Lead, Microsoft Deutschland, München
„Die Fähigkeit, komplexe Simulationen durchzuführen und große Datenmengen effizient zu analysieren, verkürzt die Entwicklungszyklen von Medikamenten erheblich.“
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Zur Person
Wolfgang Lippert promovierte in Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und arbeitet seit mehr als 25 Jahren mit Kunden aus der chemischen Industrie. Er ist Teil des Führungsteams für das Industriekundengeschäft bei Microsoft Deutschland und verantwortet die Vertriebsaktivitäten für die Chemieindustrie und die Energiewirtschaft. Vor seiner Tätigkeit bei Microsoft war er im Führungsteam bei Google Cloud Germany und u.a. verantwortlich für die Branchen Chemie, Energie, Gesundheitswesen, Life Sciences und Technologie. Davor war er bei Salesforce für das Life-Sciences-Geschäft in EMEA verantwortlich. In früheren Jahren war er Unternehmensberater bei Accenture, Capgemini und CSC.
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