Personal & Karriere

Kein Abschluss ohne Anschluss!

Nicht Akademisierung, sondern mangelnde Integration ist das Problem unseres Ausbildungssystems

13.09.2023 - Rund 850.000 junge Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren sind in keiner qualifizierenden Ausbildung.

Die Generation Z – junge Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren sind – drängen auf den Arbeitsmarkt. Angesichts des Fachkräftemangels in vielen Branchen können sie sich ihren Job aussuchen. Und sie scheuen sich dabei nicht, Vier-Tage-Woche, Homeoffice oder mehr Gehalt zu fordern – so hört man es zumindest immer wieder. Doch die Wirklichkeit ist differenzierter. Denn ein viel größeres Risiko für die Wirtschaft als hochqualifizierte, aber vermeintlich arbeitsfaule Jugendliche, birgt die steigende Zahl derer, die vom Arbeitsmarkt gar nicht mehr erreicht werden. Andrea Gruß sprach zu diesem Thema mit dem Bildungsexperten Dieter Dohmen, Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie.

CHEManager: Herr Dohmen, die Generation Z tritt in den Arbeitsmarkt ein und trifft auf die Babyboomer. Was unterscheidet sie?

Dieter Dohmen: Babyboomer sind analog aufgewachsen, sie denken in weiten Teilen analog und sind digital sehr unterschiedlich aufgestellt. Ein Teil der Babyboomer ist digital fit, andere sind digitale Analphabeten. Die Generation Z lebt und denkt digital. Sie kennt eine Welt ohne Smartphones nicht. Während Babyboomer eher eine Zeitung oder eine andere gedruckte Quelle in die Hand nehmen, informiert sich die Gen Z im Netz. Das Internet ist für sie die wichtigste Informationsquelle. 

Was prägte die Nachkriegsgeneration der 1946 bis 1964 Geborenen, die sogenannten Babyboomer?

D. Dohmen: Die Welt zur Jugendzeit der Babyboomer war eine andere. Sie konnten sich gefahrloser durch diese bewegen. Der Autoverkehr war geringer und wesentlich weniger aggressiv. Bis Anfang der 1970er Jahre gab es im Prinzip keine Arbeitslosigkeit. Es war die Zeit der Bildungsexpansion. Immer mehr Jugendliche besuchten das Gymnasium und begannen ein Studium. Die Generation wuchs auf mit dem Leitspruch „Ihr sollt es mal besser haben“.

In welchem Umfeld wird die Generation Z erwachsen?

D. Dohmen: In der Welt von heute stehen wir permanent unter Einflüssen von außen, die wir in Teilen nicht mehr selbst steuern können. Das Smartphone ist fast wichtiger als die Kommunikation mit den Mitmenschen in der Umgebung. Über das Internet, Instagram oder TikTok erhalten Jugendliche häufig brutale oder sexistische Videos. Die Welt heute ist viel aggressiver. Die Generation Z wächst heute in erheblichen Teilen internationaler auf als die Babyboomer. Das gilt nicht nur für Jugendliche aus bildungsnahen Familien, die durch die Welt reisen, sondern auch für den Jugendlichen, der zum Beispiel einmal im Jahr seine Verwandten in der Türkei besucht. 

Die Generation Z wird oft mit mangelnder Arbeitsmoral in Verbindung gebracht. Die Jugendlichen stellten Forderungen, bevor sie etwas geleistet haben, kritisieren insbesondere Babyboomer. Teilen Sie diese Beobachtung?

D. Dohmen: Studien, wie „Jugend in Deutschland“ oder unsere Nachwuchskräftestudie für die Deutsche Telekom zeigen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die sich jedoch sehr unterschiedlich in verschiedenen Milieus widerspiegelt. Vieles, was man pauschal der Generation Z zuschreibt, gilt hier eher für die Gruppe mit Abitur und abgeschlossenem Studium. Meist stammen sie auch aus bildungsnahen Familien. Diese Jugendlichen können sich mit einem anderen Selbstbewusstsein am Arbeitsmarkt bewegen und Dinge austesten. Die Gruppe der Jugendlichen mit Haupt- und Realschulabschluss dagegen hat ein anderes Selbstverständnis. Sie sind zum Teil froh, wenn sie überhaupt einen Ausbildungsplatz bekommen und fallen zum Teil aus dem System. 

„In den vergangenen zehn Jahren ist der
Anteil derer, die mit Abitur eine duale Ausbildung beginnen, deutlich gestiegen.“

Welcher der beiden Trends stellt die größere Gefahr für den Arbeitsmarkt der Zukunft dar?

D. Dohmen: Nicht die Akademisierung ist das Problem des Ausbildungssystems, sondern die mangelnde Integration von Jugendlichen mit niedriger Schulbildung – das ist ein zentraler Befund unseres Monitors Ausbildungschancen 2023. Woran machen wir das fest? In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil derer, die mit Abitur eine berufliche Ausbildung beginnen, deutlich gestiegen, auf rund die Hälfte eines Jahrgangs. Der Anstieg ist fast nur auf die duale Ausbildung zurückzuführen. Von einer mangelnden Attraktivität der dualen Ausbildung für Studienberechtigte kann also nicht die Rede sein. Gleichzeitig sehen wir aber, dass es Schulabgängern mit Hauptschulabschluss immer schwerer fällt, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Es sinkt nicht nur die Zahl Hauptschulabsolventen insgesamt, sondern auch der Anteil unter ihnen, die eine Ausbildung beginnen. Darüber beobachten wir einen weiteren Trend in der Gruppe von Jugendlichen mit Haupt- und Realabschluss: Hier gibt es rund 300.000 mehr 20- bis 24-Jährige als vor der Pandemie, die weder das Abitur noch einen Ausbildungsabschluss haben, sondern oft einer Erwerbstätigkeit nachgehen. 

Worauf führen Sie dies zurück?

D. Dohmen: Es kann darauf hindeuten, dass sie keine Ausbildungsplätze finden. Ein Teil entscheidet sich auch bewusst für eine Erwerbstätigkeit, weil es attraktiver für sie ist, 40 Stunden zum Mindestlohn zu arbeiten, statt eine Ausbildungsvergütung von etwa 1.000 EUR zu beziehen. 
Wir beobachten in unserer Studie noch einen weiteren alarmierenden Trend: Es gibt immer mehr Jugendliche, die sich weder in Ausbildung noch in der Schule oder in Arbeit befinden. Im Jahr 2021 wurden in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen 630.000 Personen zu den sogenannten NEETs, die Abkürzung steht für „Not in Employment, Education or Training“, gezählt; im Jahr 2019 waren es noch 492.000. Diese Jugendlichen lassen sich keiner der üblichen Kategorien, also Ausbildung, Bildung oder Beschäftigung zuordnen.

Was machen diese Jugendlichen?

D. Dohmen: Das kann sehr unterschiedlich sein. Dazu zählt ein Jugendlicher, der für ein Jahr zum Work and Travel nach Australien geht, genauso wie ein türkischer Jugendlicher aus Neukölln, der bei seinen Eltern jobbt und nicht als Beschäftigter registriert ist. Es gibt aber auch Jugendliche, die nach der Pandemie psychisch so belastet sind, dass sie kaum aus dem eigenen Zimmer rausgehen und nur schwer erreichbar sind. 
 

„Rund 850.000 junge Menschen im Alter
von 15 bis 24 Jahren sind in keiner
qualifizierenden Ausbildung.“

Was können wir für sie tun?

D. Dohmen: Wir brauchen funktionierende Programme, um die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu adressieren. Es gibt zu wenig Kinder- und Jugendtherapeuten. Auch jenseits der psychosozialen Gesundheit haben die Jugendlichen heute einen deutlich höheren Unterstützungsbedarf, denn die Welt, in der sie sich bewegen – wir haben eingangs darüber gesprochen – ist viel komplexer als früher. Um sich in ihr zurechtzufinden, benötigen sie Unterstützung auf Augenhöhe, und zwar eher ein Coaching als eine reine Berufsorientierung.

Welche Strukturen braucht es dafür?

D. Dohmen: Eine Idee für die Umsetzung ist eine zweiseitige Plattform, die unter den Jugendlichen ähnlich bekannt ist und genutzt wird, wie Dr. Sommer aus der Zeitschrift Bravo in meiner Generation. Sie sollte die ganze Breite von Berufsorientierung über Kompetenztests bis zur Betreuung während der Ausbildung abdecken. Grundsätzlich brauchen wir für die Aufgabe professionelle und branchenübergreifende Strukturen, die nachhaltig finanziert sind, nicht über eine Projektfinanzierung von zwei oder drei Jahren, und dann wissen die Beteiligten nicht, wie es weitergeht und müssen von vorne anfangen. Daneben brauchen aber oft auch Betriebe Unterstützung, sei es beim Ausbildungsmarketing, der Festlegung der notwendigen beziehungsweise Feststellung der vorhandenen Kompetenzen.

Wie muss sich Ausbildung verändern, damit sie attraktiver für Jugendliche wird?

D. Dohmen: Die duale Ausbildung ist entstanden aus den Bedürfnissen der Betriebe nach qualifiziertem Personal. Mittlerweile wird sie – zugespitzt formuliert – von Theoretikern aus den Verbänden definiert, die wenig Praxiserfahrung haben. Eine innovative Ausbildung ist projektorientierter und basiert auf Eigeninteresse und -initiative der Azubis. Doch Ausbildungsbetriebe, die dies umsetzen, riskieren, dass ihre Azubis Probleme bei der Prüfung bekommen, weil sie nicht mehr jedes Detail der Ausbildungsordnung kennen, dafür aber die aktuellen Anforderungen an ihren Beruf. Ausbildung sollte auch flexibler werden. Über Teilqualifikationen oder modulare Ausbildungskonzepte würden wir vielleicht auch Jugendliche erreichen, die keinen Ausbildungsvertrag über drei Jahre abschließen, sondern sich zunächst orientieren wollen, ob der Beruf für sie in Frage kommt.
Das Potenzial für die Wirtschaft wäre riesig. Alles in allem sind rund 850.000 junge Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren in keiner qualifizierenden Ausbildung. Dies entspricht einer ganzen Altersgruppe. Die Demografie, die gerne als wichtiger Faktor für den Rückgang der Zahl der Ausbildungsverträge angeführt wird, wird da nahezu bedeutungslos.

Wie können wir dieses Potenzial heben?

D. Dohmen: Statt der Anwerbung von Auszubildenden aus dem Ausland sollten wir uns wieder stärker auf die Jugendlichen konzentrieren, die hier aufgewachsen sind. Viele werden von den Maßnahmen, die dazu dienen sollen, Jugendliche in Ausbildung zu bringen, offenbar nicht erreicht. Es sollte daher vorrangig alles dafür getan werden, diese zu ändern. Wir könnten das Thema Jugendarbeitslosigkeit ein für allemal beseitigen. Für alle Jugendlichen gibt es mehr als genug Arbeitsplätze, wenn wir sie denn qualifizieren.

__________________________________________________________________________________________________________________________

 

Monitor Ausbildungschancen 2023

Grafik
Im Monitor Ausbildungschancen 2023 wird der Frage nachgegangen, wie sich die Übergangschancen von jungen Menschen in die verschiedenen Bereiche des beruflichen Bildungssystems in Abhängigkeit der jeweiligen Schulabschlüsse entwickelt haben. Der Monitor umfasst neben einer bundesweiten Betrachtung 16 Einzelberichte zur Entwicklung in den Bundesländern einschließlich deren vergleichende Analyse. Erstellt wurde er vom FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

__________________________________________________________________________________________________________________________

__________________________________________________________________________________________________________________________

Zur Person

Dieter Dohmen ist Sozialunternehmer, Bildungsforscher und Berater, Analyst und Visionär. Er gründete im Jahr 1993 das FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie und ist seit über 30 Jahren als Wissenschaftler und Berater national wie international tätig. Der promovierte Volkswirt beschäftigt sich mit dem Lernen in allen Bildungs- und Lebensbereichen und seinen Schnittstellen zu Arbeitsmarkt, Innovation, Digitalisierung und sozialen Fragen sowie mit deren zukünftiger Entwicklung bzw. den Anforderungen daran. 2020 gründete er das RILLL Research Institute on Lifelong Learning und die ElternHotline.

__________________________________________________________________________________________________________________________

Downloads

Kontakt

FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie

Michaelkirchstr. 17/18
10179 Berlin
Deutschland

+49 30/84 71 22 3 – 0