Die neuen Prozess-Sensoren 4.0
Selbstdiagnose, Selbstkalibrierung und Selbstkonfiguration stehen im Fokus
Auf der NAMUR-Hauptsitzung im November 2015 wurde die überarbeitete Technologie-Roadmap „Prozess-Sensoren“ der Öffentlichkeit vorgestellt, die sich im Kernpunkt auf die Erfassung von physikalischen und chemischen Messgrößen und das Verständnis des Prozesses fokussiert.
Heute wie morgen müssen Prozess-Sensoren zuerst die Aufgabe des Messens und der Generierung von Prozessinformationen erfüllen. Die Mess-Signale gehen in der Regel auf physikalische oder chemische Größen zurück, werden durch eine Kennlinie repräsentiert und lassen sich kalibrieren. Derzeit muss man dazu einen großen Aufwand betreiben, denn die physikalischen oder chemischen Informationen werden in vielen Fällen nicht direkt gemessen, sondern verbergen sich in Rohdaten, z.B. in einem optischen Spektrum. Diese Kalibrierungen können für komplexe Sensoren teilweise mehr Kostenaufwand bedeuten, als das Messgerät selbst.
Die zukünftige Prozesssensorik
Schon heute gibt es einen Trend, Sensoren bei gleicher Leistungsfähigkeit zu miniaturisieren. Kleine Sensoren können dann auch selbständiger werden hinsichtlich ihrer Kommunikation oder ihres Energiebedarfs, etwa durch Energy Harvesting. Die Sensoren verbilligen sich auch, wenn z. B. auf hochintegrierte Komponenten aus dem Massenmarkt zurückgegriffen werden kann (Economy of Scale). Dieses beides wird dazu führen, dass Sensoren sich drastisch verbilligen und höhere Stückzahlen ermöglichen. An dieser Stelle zeichnet sich aber ab, dass die Kosten für Implementierung und Kalibrierung der Sensoren den genannten Trend massiv verhindern, wenn hier nichts getan wird.
Wenn die Sensoren selbst komplexer werden und in höheren Stückzahlen eingesetzt werden sollen, müssen sie sich zwangsläufig viel einfacher einbinden und warten lassen. Also müssen gleichzeitig smarte Funktionen und zuverlässiges „Plug and Play“ zur Verfügung stehen mit dem Ziel der Selbstdiagnose, Selbstkalibrierung und Selbstkonfiguration.
Selbstdiagnose und Selbstkonfiguration ist kein technisches Problem. Die hohe Marktdynamik und der Bedarf, den Industrie 4.0 hier entfacht, werden schnell zu lang ersehnten offenen Standards führen. Das Thema Selbstkalibrierung ist eine Herausforderung für die Forschung, da es schwierig ist, die physikalische bzw. chemische Messgröße am Sensorelement zu simulieren: Hier gibt es sehr interessante Ansätze zur Sensordatenfusion, für direkte und wenig matrixabhängige Messverfahren oder für Sensoren mit eingebauten Referenzmessungen. Besonders interessant ist die Kopplung direkter (unkalibrierter) Sensor- oder Prozessinformationen mit Ziel- und Regelgrößen, die z. B. auf Basis von Modellen erfolgt. Soft-Sensing ist ein weiteres Beispiel dafür. Das bedeutet, dass Prozess-Sensoren im Verbund zukünftig völlig neue Informationen generieren, die über die Summe der Informationen der Einzelsensoren hinausgehen. Mit diesen Informationen lassen sich weitere Anwendungen erschließen, die zum Beispiel den Messwert mit einer Ortsinformation verknüpfen. Dies wird besonders für mobile Fragestellungen interessant sein.
Der Anwendernutzen
Den größten Nutzen bringen zukünftige Prozesssensoren, weil sie Konzepte zur modellbasierten Prozessführung, Soft Sensing oder Selbstkalibrierung möglich machen. In einem ganzheitlichen Informationsmanagement werden Prozessdaten gesammelt und bewertet. Damit ist nicht nur eine momentane oder statistische Prozesskontrolle möglich, um einen Prozess sicher zu machen, sondern es wird auch verstanden, welche Produktionsparameter ein optimales und spezifikationsgerechtes Produkt für den Kunden entstehen lassen. Dies gilt im Besonderen, wenn die Prozess-Informationen auf Basis von Thermodynamik, Kinetik und Stoffübertragung mit Produktionsparametern (z. B. Dosierraten, Rührgeschwindigkeiten, sonstige Betriebsbedingungen) sowie vor allem mit den Anwendungseigenschaften eines Produktes in Zusammenhang gebracht werden. Die Anwendungseigenschaften werden heute i.d.R. nicht aktiv hinterfragt, sondern es werden Produktspezifikationen herangezogen.
Zeitgemäße Regelkonzepte auf Basis dynamischer Modelle, wie etwa das Model Predictive Control (MPC), haben PID-Regler oder Kaskadenregelung abgelöst. Das ungeheure Potential der Verknüpfung solcher Konzepte mit Prozess-Sensoren wird heute leider noch nicht angemessen gewürdigt.
Umfeld Informations- und Kommunikationstechnik
Der Aufbruch von der aktuellen Automation zum smarten Sensor hat bereits begonnen. Automatisierungstechnik und Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) verschmelzen zunehmend. Für die weitere Entwicklung von der Ist‐Situation zu einer Industrie-4.0-Welt in der Prozessindustrie gibt es mehrere Szenarien. Diese reichen vom erleichterten Abruf sensorbezogener Daten über zusätzliche Kommunikationskanäle zwischen Sensor und mobilen Endgeräten über vollständig bidirektionale Kommunikation bis hin zur Einbindung der Cloud und des Internets in virtualisierte Umgebungen. Neben den klassischen drahtlosen Kommunikationen wie Wireless wird zunehmend 3G, LTE etc. und optische, drahtlose Übertragungswege für den Nahbereich interessant werden.
Die Informationssicherheit ist die grundlegende Basis für alle hier gemachten Annahmen. Sie wird sich jedoch parallel mitentwickeln. Eine hohe Rechenleistung im Sensor als Basis für eine End-to-end-Verschlüsselung wird die Informationssicherheit stark verbessern, neue Topologien in der Automatisierung unter Nutzung von verteilten Clouds wird sie eines Tages vermutlich sogar überflüssig machen, weil die verteilt gelagerten Einzeldaten nicht mehr interessant bzw. aussagekräftig genug sind.
Eine der größten Chancen des Zukunftsprojekts Industrie 4.0 ist das Ordnen der Kommunikationsstandards. Heute arbeiten mehr als 80 % der Sensoren analog, meist 4–20 mA, unidirektional, sternförmig und hierarchisch. Das Nebeneinander unterschiedlicher, teils proprietärer Kommunikationsstandards mit teils sehr unterschiedlicher Komplexität oder Wartungsbedarf ist für den Anwender ein großer Nachteil. Weniger wäre hier deutlich mehr. Wir müssen jetzt schnell die Weichen für einen smarten und sicheren Kommunikationsstandard stellen, um zu einer störungsfreien Kommunikation aller Sensoren auf Basis eines einheitlichen Protokolls zu kommen, welches alle Sensoren ausgeben und verstehen.
Der Anwender wünscht sich „Plug and Play“ als Nutzen, will aber keine Details zu Standards wissen. Der derzeit greifbarste offengelegte Standard ist OPC Unified Architecture (OPC-UA). Die häufig genannte Einschränkung einer hohen dafür benötigten Rechenleistung an den Knotenpunkten wird in Kürze hinfällig sein.
Unabhängig davon lassen sich die wichtigsten Vorzüge von Industrie 4.0 bereits nutzen, ohne dass an der bestehenden Kommunikation etwas verändert werden muss. In einer sogenannten „Verwaltungsschale“ befinden sich alle wichtigen Informationen zu Sensoren, um diese bei Bedarf zur Hand zu haben, z. B. Wartungs-, Kalibrier- und Verbrauchsmittelinformationen, Anleitungen, Kurz-Videos etc. Diese Informationen können auf anwender-eigenen Clouds, beim Hersteller oder im Sensor selbst gespeichert sein und durch mobile Endgeräte ausgelesen werden. Einige Funktionen lassen sich jedoch ohne bidirektionale Kommunikation noch nicht nutzen, wären aber jederzeit nachrüstbar.
Wie geht es weiter
Die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) leistet F&E entlang der Leitlinie „Sicherheit in Technik und Chemie“ zu aktuellen Themen von gesellschaftspolitischer Bedeutung wie Industrie 4.0, zivile Sicherheit oder personalisierte Analytik. In der Prozessanalytik werden vor allem robuste und einfach anzuwendende analytische Methoden und Geräte für die quantitative Erfassung chemischer Parameter in der Umwelt und in technischen Prozessen entwickelt. In der Sensorik arbeiten wir beispielsweise an der Entwicklung von „Lab-on-a-Chip“-Systemen, portablen Sensoren und Teststreifen für die Analytik im (Arbeits-)Alltag. Unsere vielversprechendsten Ideen setzen wir dabei selbst oder mit Partnern aus der Industrie in die Praxis um.
Während die Entwicklung neuer Sensortechnologie von Fördermöglichkeiten profitieren kann, gilt dies für die Begleitung innovativer Technologien bis zur Produktreife sowie die damit verbundenen Zertifizierungen nicht. Das hohe Risiko liegt allein bei den Sensorherstellern. Aktuelle und zukünftige öffentliche Förderung von Industrie 4.0 sind hier eine gute Investition. Auch die Anwender sind gefragt, denn sie können durch eine beschleunigte Validierung und Akzeptanz neuer Technologie entgegenkommen. Vielleicht können kooperativ betriebene F&E-Zentren und gemeinsam anerkannte Applikationslabore eine Lösung für diese Aufgabe sein.