Logistik & Supply Chain

Die Energiewende braucht die Binnenschifffahrt

Nachhaltige Transportoption ist mit neuem Schiffsmodell kurzfristig umsetzbar

16.10.2024 - Die Chemieindustrie und weitere Industriezweige werden in einer verstärkt wasserstoffbasierten Wirtschaft künftig neue Logistiklösungen benötigen.

Für die damit verbundenen Transportaufgaben bietet sich die Binnenschifffahrt mit ihren Kapazitäten als flexibel einsetzbarer und nachhaltiger Verkehrsträger an. Um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es innovativer Schiffsdesigns, die momentan in der Branche durch Unternehmen wie HGK Shipping entwickelt werden. Mit der Strategie aus leistungsfähigen Binnen- und Küstenmotorschiffen sind die Wünsche der Verlader auf den Wasserrouten auch abseits des interkontinentalen Seeverkehrs zu erfüllen. Das betrifft sowohl die Belieferung von kaltem „grünem“ Ammoniak als auch den Abtransport von verflüssigtem Kohlenstoffdioxid.

Beim Blick auf imposante Gebäude und Verkehrsinfrastrukturen aus bedeutenden Epochen der deutschen Geschichte, sei es die Gründerzeit, die Zwischenkriegsphase mit dem Bauhausstil oder die Wirtschaftswunderjahre, denkt der heutige Betrachter selten an die damaligen Herausforderungen: Budgets waren auch früher knapp und verschiedene Politikebenen unterschiedlicher Meinung bei Planungsfragen. Die notwendigen Transportkapazitäten für die Energieversorgung nach technologischen Durchbrüchen standen ebenfalls nicht stante pede zur Verfügung, sondern mussten mühsam aufgebaut werden.

An einem solchen Punkt befinden wir uns momentan wieder. Der Klimawandel treibt die notwendigen Änderungen bei der Abkehr von fossilen Energieträgern voran. Die politisch gewollte, weil ökologisch essenzielle Hinwendung zu regenerativer Energieversorgung schafft neue logistische Anforderungen. Für Pharma-, aber nicht zuletzt Chemie­unternehmen ist der Umgang mit Wasserstoff und seinen Derivaten kein Neuland. Doch angesichts der benötigten massiven Volumen in einer verstärkt wasserstoffbasierten Wirtschaft – nicht nur für die Versorgung bspw. mit kalt verflüssigten Ammoniak (NH3), sondern auch für die Entsorgung von verflüssigten Kohlenstoffdioxid (LCO2) – entsteht ein neues Logistikökosystem. So wie es vor vielen Jahrzehnten bei der Umstellung auf Öl und Gas sukzessive geschehen ist, betrifft dies mittel- und langfristig nicht allein große Konzerne und Stadtwerke, sondern ebenso kleine und mittelständische Empfänger von sog. grünem Ammoniak und Absendern von abgeschiedenem LCO2. Mit den bestehenden Pipeline-Strukturen, ihrem weiteren Ausbau und den bereits existierenden Transporttypen der einzelnen Modalitäten ist dies weder technisch noch kapazitiv realisierbar.

Schiffe der Energiewende konzipiert

Daher wurden bei HGK Shipping mit Partnern zwei Schiffsdesigns entwickelt, die passgenau auf diesen kurzfristig zu erwartenden großen Bedarf an Transportkapazitäten zugeschnitten sind. Die Projekte „Pio­neer“ und „Vanguard“ können auf den Binnenwasserstraßen und in küstennahen Gewässern die unter Druck verflüssigten Wasserstoffderivate befördern. Sie sind so konzipiert, diese im kalten Zustand von den Seeschiffen zu übernehmen und entlasten sowie ersetzen – zusammen mit weiteren in Zukunft angedachten Nachfolgemodellen dieser Schiffstypen – überforderte bzw. nicht vorhandene Pipelines. Die Grundprinzipien hinter „Pioneer“ und „Vanguard“ sind einfach zu verstehen, obwohl die dahinterstehende technische Konzeption sehr komplex ist. Sie und das in ihnen verwendete neue Tankmaterial sollen effizient, sicher, nachhaltig sein und so viel wie möglich transportieren können. Bei Abmessungen von 135 m Länge und 17,5 m Breite bei „Pioneer“ und 125 m und 17,5 m bei „Van­guard“ wird der Stand der Technik für das derzeit größtmögliche Volumen für diese Gütergruppen verwendet. Mit dem dieselelektrischen „FutureFuel-Ready“-Antrieb setzen beide Schiffsdesigns auf die ressourcenschonende Adaptionsmöglichkeit bzgl. der kommenden Kraftstofflösungen. Die Niedrigwasseroptimierung ist angesichts immer wieder zu erwartender Pegeltiefstände in unseren Neubauten zum Standard geworden.

 

Offshore-Einpressung auch mit Binnenschiff möglich

Lieferketten im Energiesektor unterliegen ebenfalls den Faktoren Angebot und Nachfrage. Aktuell produzieren einige Weltregionen, z.B. der Nahe Osten, Afrika und auch Nordamerika, aufgrund der vorhandenen Sonne oder des dort dauerhaft vorhandenen Windes Wasserstoff in großen Mengen. Europa selbst wird, denken wir an die Iberische Halbinsel oder Skandinavien, mittelfristig in diesem Kontext seine Kapazitäten signifikant erweitern. Unsere Entscheidung, sowohl ein Binnen- als auch ein Fluss-See-Gastankschiff für den Transport verflüssigter Gase zu entwickeln, beruht auf der Prämisse, je nach Abholort der Wasserstoffderivate oder Zieldestination des LCO2 die logistisch und damit ökonomisch effizienteste Option zu wählen. Als alternative Energiequelle bieten sich Wasserstofftechnologien nicht zuletzt für die Chemie- als auch die Pharmaindustrie an. Die Umstellung von Unternehmen aus der Branche auf eine verstärkt wasserstoffbasierte Produktion wird einerseits die Anlieferung von kalt verflüssigtem Ammoniak an die Fabriken oder die zwischengeschalteten Hubs zum Cracken von NH3 erfordern. Andererseits rechnen wir mit einer hohen Nachfrage für den Abtransport von abgeschiedenem Kohlenstoffdi­oxid. Dank der Verfahren „Carbon Capture and Storage“ (CCS) und „Carbon Capture and Utilization“ (CCU) lassen sich CO2-Emissionen reduzieren oder in chemischen Prozessen weiterverwenden, wenn die Rückstände in den jeweiligen Werken aufbereitet und gesammelt werden. Die Entsorgung geschieht dabei überwiegend in Einpressfeldern auf dem Meer. Liegen diese in den Seehäfen, übernimmt die „Pioneer“ eine solche Transportaufgabe. Für jene sich in Küstennähe befindenden ausgeförderten Ölspeicher und Erdgaslagerstätten bietet sich die „Vanguard“ mit ihrer dafür konzipierten Bauweise als Fluss-See-Gastankschiff an. Ziel ist es, die Offshore-Anlagen direkt mit den Produkten anzusteuern.

 

„Chemie- und Pharmafirmen, die ihre Produktion bereits auf Wasserstoff und dessen Derivate umgestellt haben oder dies künftig planen, profitieren von innovativen Ideen der Binnenschifffahrt.“

 

Für den Übergang zwischen See- und Flussschifffahrt

Küstenmotorschiffe beherrschen aufgrund ihrer Konstruktion den Übergang zwischen den Binnenwasserstraßen und dem offenen Meer, werden deshalb auch als fluss-seegängige Schiffe charakterisiert. Dieses Prinzip befähigt die „Vanguard“ ohne Umschlag in den Seehäfen zu operieren. So wird sie seeseitig die Abholung und den Transport von Wasserstoffderivaten aus küstennah gelegenen Produktionsstätten oder Tanklagern realisieren und die Entsorgung von LCO2 aus dem Hinterland durchführen. Ihr integriertes Wind Assisted Propulsion System (WAPS), eine Art Segel, nutzt die Windkraft auch ressourcenschonend für den eigenen Antrieb. Der logistische Vorteil der „Pioneer“ entfaltet sich beim Übergang zwischen dem Import von Wasserstoffderivaten in die großen Nordseehäfen und deren Weitertransport ins Hinterland. Während bestehende Gastankschiffe Ammoniak nur unter Druck verflüssigt transportieren können, ermöglicht das Neubauprojekt von HGK Shipping erstmals den Transport in kalter Form. Da es in diesem Zustand auf den Seeschiffen in Europa ankommt, entfällt die energieintensive Erwärmung, die im ungünstigsten Fall noch mit fossilen Brennstoffen den Impuls einer stärkeren Dekarbonisierung zuwiderläuft. Chemie- und Pharmafirmen, die ihre Produktion bereits auf Wasserstoff und dessen Derivate umgestellt haben oder dies künftig planen, profitieren von innovativen Ideen der Binnenschifffahrt. Auch für den Abtransport von CO2-Emissionen in liquider Form mittels der CCU- und CCS-Verfahren bietet der Verkehrsträger passende, den logistischen Anforderungen entsprechende Konzepte. Mit diesen beiden Schiffsdesigns gelingt es, den Anspruch auf eine Kohlenstoffdioxidreduzierung sowohl in Produktion als auch im Transport miteinander zu verbinden. Deshalb sehen wir „Pio­neer“ und „Vanguard“ als ideale Schiffe für die Energiewende.

Autor: Steffen Bauer, CEO, HGK Shipping GmbH, Duisburg

 

Zur Person

Steffen Bauer ist seit Sommer 2020 CEO von HGK Shipping. Damit verantwortet er die Geschäfte des Binnenschifffahrtsunternehmens und treibt Innovationen in der Branche voran, wofür er auch im engen Austausch mit Politik und Verwaltung steht. Der Diplomkaufmann mit Logistikspezialisierung arbeitete in seiner Laufbahn bisher u.a. bei Imperial und Lehnkering.

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