Chemie & Life Sciences

Der Aufstieg des chinesischen Chemieunternehmens Wanhua

18.05.2022 - Anfang 2004 bin ich als Unternehmensberater nach China gekommen und seitdem hier ansässig. Der Kunde meines ersten Projekts war Bayer Material Sciences (jetzt Covestro), und zwar im Polyurethan-Segment.

Anfang 2004 bin ich als Unternehmensberater nach China gekommen und seitdem hier ansässig. Der Kunde meines ersten Projekts war Bayer Material Sciences (jetzt Covestro), und zwar im Polyurethan-Segment. In Interviews mit chinesischen Kunden des Unternehmens fiel gelegentlich der Name Wanhua – in Sätzen wie „Das Bayer-MDI ist qualitativ sehr gut, aber eben auch sehr teuer, deswegen kaufen wir manchmal auch das viel schlechtere Material von einem kleinen chinesischen Produzenten, Wanhua, und mischen die beiden dann so zusammen, dass wir noch innerhalb unserer eigenen Spezifikationsanforderungen liegen“. Das war meine erste Begegnung mit Wanhua.

Im Jahr 2022 sieht die Situation grundlegend anders aus. Gegenwärtig ist Wanhua mit einer MDI-Kapazität von etwa 2,6 Mio. t und einem Marktanteil von etwa 25 % der größte globale MDI-Produzent. Die jüngsten Investitionen des Unternehmens in Bereichen wie Polycarbonat und Polyamid-12 (PA12) sind von westlichen Konkurrenten in diesen Märkten als klare Bedrohung erkannt worden. Und während Wanhua in der von C&EN veröffentlichten Rang­liste umsatzstärkster Chemieunternehmen 2020 auf Platz 29 noch deutlich hinter Covestro auf Platz 21 liegt, ist der Umsatz von Wanhua im Jahr 2021 mit 18,9 Mrd. EUR bereits deutlich höher als der von Covestro mit 15,9 Mrd. EUR. 
Noch deutlicher ist der Unterschied in Bezug auf die Marktkapitalisierung im Januar 2022 – während Wanhua einen Wert von etwa 39,1 Mrd. EUR erreicht, kommt Covestro nur auf etwa 11,5 Mrd. EUR. Investoren schätzen also das Wachstumspotenzial des Unternehmens mit Sitz in Yantai in der ostchinesischen Provinz Shandong deutlich höher ein.

„Die Zukunft von Wanhua liegt in Produkten, die die Wende vom Basischemikalien- zum Spezialitätenhersteller andeuten.“


Kapazitätsausbau und Internationalisierung
Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Wanhua ist in der für ­Chinas Chemieproduktion wichtigsten Provinz Shandong beheimatet und startete dort in den 1980er Jahren als ein kleiner Produzent von relativ minderwertigem Methylendiphenyldiisocyanat (MDI). Im Jahr 1999 betrug die MDI-Produktionskapazität 20.000 t/a, weniger als 1 % der globalen Produktionskapazität. Im folgenden Jahrzehnt lag der Schwerpunkt der Aktivitäten auf dem Ausbau dieser Kapazität, zunächst auf 100.000 t (2002), dann um zusätzliche 160.000 t (2005, in Ningbo) und weitere 600.000 t (2014, in Yantai – diese wurden 2021 auf 1,1 Mio. t erweitert), verbunden mit Verbesserungen der Produktionstechnologien und der Produktqualität. Weitere Kapazität von 400.000 t wird derzeit in Fujian errichtet.
Ein erster Schritt zur Internationalisierung des Geschäfts war der Erwerb des ungarischen Isocyanat-­Produzenten Borsod im Jahr 2011. Inzwischen hat Wanhua in allen wichtigen Märkten einschließlich den USA, India, Brasilien, Japan und Korea eine eigene rechtliche Präsenz. Dieser regionalen Diversifizierung folgt derzeit eine Diversifizierung des Portfolios vom PU-Fokus zu einem breit aufgestellten und auch in Spezialitäten aktiven Chemie­unternehmen.

Ausweitung des Produktportfolios 
Der Fokus der Weiterentwicklung Wanhuas liegt seit etwa 2015 primär auf einer Ausweitung des Produktportfolios von dem historischen Schwerpunkt bei Polyurethanen zu anderen Polymeren, zu Petrochemikalien als Grundstoffen für die Chemieproduktion und sogar zu anorganischen Batteriematerialien. Ein Grundprinzip scheint dabei die Bewunderung für das BASF-Verbundkonzept zu sein, wie von hochrangigen Wanhua-Mitarbeitern immer wieder betont wird. Die beim Verbundkonzept angestrebte enge Vernetzung von Stoff- und Energieflüssen wird in gewisser Weise von Wanhua inzwischen konsequenter umgesetzt als von der BASF selbst, indem z. B. selbst eher niedrigwertige Polymere wie PVC aufgrund der Verbindung mit den Chlorströmen der PU-Produktion in das Portfolio aufgenommen wurden.
Ein Überblick der momentanen und zukünftigen Produkte Wanhuas gibt Aufschluss.
Im Polyurethan-Bereich produziert Wanhua neben MDI und TDI auch die für die PU-Produktion ebenfalls benötigten Polyole sowie (in einer eigenständigen Geschäftseinheit) verschiedene aliphatische Isocyanate wie Hexamethylendiisocyanat (HMDI).
Im Upstream-Segment der Petrochemikalien produziert Wanhua in erster Stufe Chemikalien wie Propylen, Propylenoxid, Methyl-tert-Butylether (MTBE) und Acrylsäure. In Folgeschritten werden daraus Materialien wie Polypropylen, Polyethylen und PVC hergestellt.
Im Gegensatz zur durch die Petrochemikalien dargestellten Upstream-Erweiterung stellt der Bereich Emerging Technologies eine Downstream-Erweiterung des historischen Wanhua-Geschäfts dar. Kern sind elf Technologieplattformen, die sich insbesondere auf die Anwendung der verschiedenen Wanhua-Produkte beziehen – also z. B. Technologien für wasserbasierende Polyurethane, modifizierte Polyurethane, UV-härtende Materialien etc. Dieser Bereich stellt somit – analog zu der Entwicklung der BASF – eine Wendung zu Spezialitäten dar, die für Anwendungen z. B. für Lacke, Kosmetikprodukte oder elektronische Komponenten genutzt werden können.
Einen Einblick in die Ambitionen Wanhuas gibt das große Portfolio an Materialien, die erst seit kurzem produziert werden oder sogar noch in verschiedenen Pilotphasen sind. Dies umfasst z. B. Polycarbonat, PA12, Lithium-Kathodenmaterial für EV-Batterien und Menthol als Grundstoff für Aromastoffe. Die Zukunft des Unternehmens liegt in diesen Produkten, die die Wende vom Produzenten von Basischemikalien zum Spezialitätenhersteller andeuten.

Erfolgsfaktor Forschung
Bis jetzt ist Wanhua deutlich erfolgreicher als die meisten chinesischen Chemieunternehmen, und die anvisierten neuen Produkte sind ebenfalls vielversprechend. Was sind die Gründe für den Erfolg des Unternehmens?
Ein wichtiger Grund ist sicher die hohe Bedeutung von Forschung und Technologieentwicklung in dem Unternehmen. Nach Firmenangaben wendet Wanhua 4-5% des Umsatzes für Forschung auf, ein Wert, der höher liegt als der Durchschnittswert westlicher Chemiefirmen. Insbesondere scheint das Unternehmen auch bereits gut funktionierende Technologien weiter zu optimieren und hat somit z. B. für die MDI-Produktion die niedrigsten Cash-Kosten aller asiatischen Produzenten. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der strikt volumenorientierten Haltung insbesondere der chinesischen Staatsunternehmen. Auch einige der neueren Produkte wie PA12, Polycarbonat oder Batteriematerialien sind Bereiche, in denen der Fokus auf Innovation und die Bereitschaft, in F&E zu investieren, klare Vorteile bringen.
Wanhuas Bereitschaft, derartige massive und nicht kurzfristig profitsteigernde Investitionen in Technologieentwicklung zu investieren, ist natürlich nur gegeben, wenn das Management langfristig orientiert und ambitioniert ist. Diese Denkweise wird in der Tat in Interviews mit dem CEO von Wanhua wiederholt betont. 
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die bereits erwähnte frühe Internationalisierung, die aus einem lokalen MDI-Produzenten einen global relevanten Marktführer geschaffen hat, und die durch die Ausweitung der Zielmärkte auch eine Senkung der Produktionskosten ermöglicht. 
Auch die integrierte Wertschöpfungskette Wanhuas – von der Petrochemie zur Anwendung chemischer Produkte – ist ein Faktor, der zum langfristigen Erfolg beiträgt, indem er das Unternehmen bis zu einem gewissen Grad von externen Preis- und Nachfrageschwankungen isoliert und sicherstellt, dass Wanhua in großem Umfang von der Wertschöpfung der Chemieproduktion profitiert.
Politisch scheint Wanhua ebenfalls große Unterstützung zu haben. 2018 besuchte Präsident Xi Jinping den Chemiepark in Yantai. Für die chinesische Führung ist Wanhua ein sehr gutes Modell für die Schaffung nationaler Champions, die auch im internationalen Wettbewerb mithalten können.
Schließlich hat Wanhua natürlich auch das Glück gehabt, in dem großen und schnell wachsenden chinesischen Markt präsent und dabei der einzige lokale Spieler in dem MDI-Markt mit Oligopolcharakter zu sein – Faktoren, die so sicherlich nicht wiederholbar sind. Insofern wird erst die Zukunft zeigen, ob Wanhuas Ambitionen, eines der weltweit führenden Chemieunternehmen zu werden, realisierbar sind. 

Kai Pflug, CEO, Management Consulting – Chemicals, Schanghai, China

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