Anlagenbau & Prozesstechnik

Cornelia Yzer: Pharma 2020

Zukunftsszenarien für die deutsche Pharmabranche

24.11.2010 -

2020 - was sich zunächst einmal noch sehr fern anhört, ist für die forschenden Arzneimittelunternehmen bereits ein gutes Stück Gegenwart. Denn ein Großteil der Medikamente, die in 12 Jahren für Umsatz in der pharmazeutischen Industrie sorgen sollen, werden zurzeit erforscht und entwickelt. Gleichzeitig dürfte ein Großteil der Arzneimittel, die gegenwärtig und in den nächsten Jahren zu den großen Umsatzbringern gehören, im Jahr 2020 keine Rolle mehr in den Bilanzen spielen. Ihre Patente sind dann ausgelaufen - mit der Konsequenz, dass sie dann von Generikaherstellern produziert und vermarktet werden.

Krankheiten und Medikamente 2020

Wenn man die Forschungspipelines der Unternehmen betrachtet, kann man mit einigem Optimismus in die Zukunft schauen. Der Fokus bei Forschung und Entwicklung liegt heute auf Medikamenten gegen Krankheiten, die durch die höhere Lebenserwartung verstärkt zu weit verbreiteten Volkskrankheiten werden - etwa Alzheimer, Diabetes und einige Krebsarten. Hier werden medizinische Fortschritte am Dringendsten benötigt und erfolgreiche, innovative Medikamente gegen diese Krankheiten werden 2020 die größten Umsatzbringer für die forschenden Arzneimittelhersteller sein.
Da die Krankheiten in einer globalisierten Welt keine regionalen Erscheinungen mehr sind, wird ein weiterer Fokus auf Schwellen- und Entwicklungsländer mit ihren spezifischen Bedürfnissen an wirksamen Medikamenten gelegt. Im Einzelnen lassen sich heute fünf Zukunftsfelder im Arzneimittelbereich einigermaßen realistisch identifizieren:

1. Fortschritte bei globalen Krankheiten
Krankheiten, gegen die es einen wirksamen Impfschutz gibt, können bis 2020 erfolgreich bekämpft werden. Neben den Erfolgen, die durch die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs erreicht werden, wird es wahrscheinlich auch im Kampf gegen weitere Krebsarten beachtliche Fortschritte geben. Auch bei der Behandlung von Diabetes sind weitere Verbesserungen zu erwarten, genauso wie viele Schlaganfälle 2020 mit modernen Medikamenten verhindert werden oder zumindest deren Folgen verringert werden können.

2. HIV/AIDS und Krankheiten in Entwicklungsländern
Die Therapie von HIV/AIDS wird sich in den nächsten Jahren weiter verbessert haben; ob es eine Heilung oder einen Schutz geben wird, ist dagegen fraglich. Medikamente gegen Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose, Durchfallerkrankungen und Lungenentzündung könnten dagegen verfügbar sein. Das größte Problem ist allerdings der Zugang der Bevölkerung vieler Entwicklungsländer zu guter Gesundheitsversorgung, die leider auch 2020 aufgrund noch nicht funktionierender Gesundheitssysteme in vielen Ländern eingeschränkt sein dürfte. Forschende Arzneimittelhersteller nehmen schon jetzt ihre globale Verantwortung wahr und stellen die Impfstoffe und Medikamente zum Selbstkostenpreis zur Verfügung.

3. Seltene Krankheiten
Medikamente gegen seltene Krankheiten, für die es bisher keine oder keine ausreichende Therapie gibt, werden in den nächsten Jahren einen weiteren Entwicklungsschub bekommen. Angesichts des stetigen Stroms an neuen Zulassungen ist davon auszugehen, dass in den kommenden Jahren - optimistisch geschätzt - bis zu 120 weitere solcher „orphan drugs" zugelassen werden.

4. Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen
Kinder und Jugendliche mit schweren Erkrankungen werden 2020 in vielen Fällen weitaus besser als heute behandelt werden können. Der Grund: Bereits heute sind Medikamente gegen spezielle Kindererkrankungen in der Erprobung, die in 12 Jahren Erfolge zeigen könnten.

5. Individualisierte Therapie wird zum Standard
Die Zahl erfolgloser Therapieversuche oder Behandlungen mit schweren Nebenwirkungen dürfte sich bis 2020 stark reduziert haben, denn die individuelle genetische Konstitution und ein umfassender Satz von Krankheitsmarkern, die sich aus dem Blutserum ermitteln lassen, werden für jeden Patienten bekannt sein und bei der Wahl der Präparate und ihrer Dosierung vom Arzt berücksichtigt werden.

Der Pharmamarkt 2020

Geht man davon aus, dass der Patentschutz für neue Medikamentenwirkstoffe nach deren Zulassung noch etwa 15 Jahre beträgt, kann man realistisch erwarten, dass die forschenden Arzneimittelhersteller 2020 einen Großteil ihres Umsatzes mit Medikamenten erwirtschaften werden, die jetzt oder in naher Zukunft auf den Markt gebracht werden.

Der internationale Pharmamarkt wird dann mehrere große Abnehmerländer dazu gewonnen haben: Brasilien, Russland, Indien und China sowie weitere Länder in Südostasien und dem Mittleren Osten. Neben verstärkter Nachfrage für Arzneimittel gegen die gleichen Krankheiten, die in Industrienationen eine wesentliche Rolle spielen, werden diese Länder zu großen Absatzmärkten für Medikamente gegen Hepatitis B, Dengue-Fieber und Malaria.

Auch gentechnische Präparate werden einen höheren Umsatzanteil haben als heute vor allem, weil in den nächsten Jahren viele Präparate mit monoklonalen Antikörpern gegen schwere Krankheiten verfügbar sein werden, beispielsweise Krebs und Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis.

Pharmamarkt Deutschland

Die Entwicklung im Pharmamarkt Deutschland wird stark von den politischen Rahmenbedingungen abhängen. Wichtige Kernfrage: Wird der schnelle Marktzugang neuer Medikamente auch in Zukunft gewährleistet sein oder wird eine weitere Hürde den Zugang erschweren?

Deutschland hat als Referenzmarkt zurzeit einen deutlichen Standortvorteil, der sich immer wieder den Begehrlichkeiten der „Kostendämpfer" im Gesundheitswesen erwehren muss. Sollte der Marktzugang neuer, zugelassener Medikamente eingeschränkt werden, würde der deutsche Markt viel Potential verspielen - mit allen negativen Konsequenzen für die pharmazeutische Wirtschaft hierzulande und die Patienten in aller Welt.

Allerdings werden auch andere Länder aufgrund des zu erwartenden wirtschaftlichen Wohlstands ihr Gesundheitssystem in den nächsten Jahren massiv ausbauen. Dies würde dazu führen, dass der deutsche Pharmamarkt in seinem Volumen international vom 3. auf den 5. Platz abrutschen könnte. Die Top-4 werden wohl USA, Japan, Indien und China sein.

Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern, die in Deutschland heute bereits eine dominante Stellung im Bereich der Generika eingenommen haben, wird es vermutlich auch für einige patentgeschützte, innovative Arzneimittel geben. Vorstellbar ist eine Vielzahl unterschiedlicher Vertragsformen, die hoffentlich - anders als zurzeit bei den Generikaverträgen - nach fairen Regeln des Kartellrechts erfolgen. Erste Vereinbarungen zwischen Kassen und Herstellern patentgeschützter Arzneimittel werden bereits jetzt erprobt und weisen in die richtige Richtung: Mehr Wettbewerb anstelle staatlicher Überregulierung ist das einzig probate Mittel, um auch in Zukunft allen Patienten den Zugang zu den besten Medikamenten zu ermöglichen.

Pharma-Produktion

Deutschland verfügt über eine gute Infrastruktur, moderne Produktionsanlagen, hervorragend ausgebildete Wissenschaftler und Mitarbeiter. Trotz zum Teil exzellenter Rahmenbedingungen leidet der Standort vor allem bei global tätigen Unternehmen unter einem negativen Image. Gleichzeitig lässt sich die Globalisierung nicht leugnen. Dies wird dazu führen, dass es neue Mitbewerber auf dem globalen Markt geben wird.

Mit Indien und China werden bis 2020 weitere wichtige Produktionsstandorte etabliert sein. Auch in anderen südostasiatischen Ländern und im Mittleren Osten könnten Produktionsstandorte entstehen und die internationale Pharmaindustrie beliefern. Auch in einigen afrikanischen und südamerikanischen Ländern wird es Produktion einfacherer Medikamente für die lokalen Märkte geben.

Deutschland hat das Potential, bis 2020 Platz 2 in der Welt hinter den USA in der gentechnischen Produktion zu behaupten. Doch könnte sich auch Indien als wichtiges Produktionsland für gentechnische Präparate etabliert haben.

Deutschland wird aber voraussichtlich nicht nur ein wichtiger Produktionsstandort für gentechnische Originalpräparate sein, sondern auch für Nachahmerpräparate für Biopharmazeutika, so genannte Biosimilars. Möglicherweise ist bis 2020 auch die Pflanzen-basierte gentechnische Produktion von Wirkstoffen serienreif.
Die „klassischen" chemisch-synthetischen Medikamente haben aber auch 2020 weiterhin große Bedeutung. Während die Synthese einfacherer Wirkstoff- und Hilfsstoff-Moleküle bis dahin vermutlich komplett in Billiglohnländer verlagert sein wird, dürfte man sich in Deutschland hingegen vermutlich auf hochkomplexe Verfahren spezialisieren.

Pharma-Forschung

Die deutsche Wirtschaft ist auf Innovationen angewiesen.Die Forschungspolitik hat dies als erste erkannt und ist endlich bereit zu handeln. Von besonderer Bedeutung ist daher die Hightech-Strategie der Bundesregierung und die Pharma-Initiative zur Stärkung des Pharmastandorts Deutschland vom August 2007.
Die Priorisierung der F&E-Aktivitäten in Deutschland auf alterstypische Erkrankungen könnte sich 2020 ausgezahlt haben. Aus deutschen Pharma-Labors dürften bis dahin etliche wichtige Medikamente zur Vorbeugung und Behandlung von Thrombosen und Schlaganfall, zur Unterdrückung chronischer Schmerzen oder zur Therapie von Alzheimer und Krebs hervorgegangen sein. Alle Prognosen lassen jedoch keinen Zweifel: International werden 2020 China, Indien und etliche andere Schwellenländer eine wesentliche Rolle bei klinischen Studien spielen. Mitteleuropa wird mittelfristig sicher an Bedeutung verlieren.
Es wäre jedoch möglich, dass sich Deutschland seinen Ruf als Standort Nummer 1 in Europa für anspruchsvolle Studien bewahren wird - mit der Folge, dass hier weiterhin mehr Studien in Auftraggegeben werden als in den Nachbarländern.

Die Zukunft der Pharmabranche

Damit Deutschland in einem der zukunftsträchtigsten Wachstumsmärkte nicht den Anschluss verpasst, bedarf es politischer Rahmenbedingungen, die das Engagement unserer Unternehmen unterstützen - und nicht wie in der Vergangenheit bisweilen konterkarieren. Wichtig wäre:

  1. Der Zugang zu innovativen Medikamenten darf nicht durch Kostendämpfung der Gesundheitspolitik und sich zum Teil widersprechenden Regulierungen beschränkt werden.
  2. Nach der Zulassung eines Medikaments muss es schnellstmöglich den Patienten zur Verfügung stehen, ohne dass neue Beschränkungen oder Hürden die adäquate Behandlung mit innovativen Medikamentenverzögern.

Die in Deutschland produzierenden forschenden Arzneimittelhersteller konnten im Jahr 2007 einen Auslandsumsatz von 17,5 Milliarden Euro erwirtschaften. Am weltweiten Pharmamarkt von 680 Milliarden US-Dollar halten sie damit einen Anteil von 4,3%. Nach allen Prognosen soll dieser Markt bis 2020 auf 1,3 Billionen US-Dollar anwachsen. Wenn es gelingen würde, unseren heutigen Anteil zu halten, entspreche dies 55 Milliarden US-Dollar. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Politik und Unternehmen allerdings an einem Strang ziehen: Wir müssen unser Standortimage weiter aufpolieren und um ausländische Investitionen am Standort Deutschland werben. Auch den mobilen Hochqualifizierten müssen wir ein Angebot machen, um in Deutschland leben und arbeiten zu können. Das bedeutet also nicht nur Imagewerbung zu betreiben, sondern konsequent Politik für den Pharma- und Dienstleistungsstandort Deutschland zu machen.

Auch die Forschungspolitik steht in der Verantwortung, gute Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung zu gewährleisten. Zu begrüßen sind deswegen Initiativen, die Forschung unterstützen und erleichtern. Dazu zählen Kooperationen zwischen staatlichen Einrichtungen und Pharmaunternehmen genauso wie der Abbau von Bürokratie in der Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Arzneimittelherstellern in der klinischen Forschung. Nur durch eine sinnvolle Verzahnung der Politikfelder kann es gelingen, dass Deutschland auch in Zukunft ein attraktiver Standort für forschende Arzneimittelhersteller ist. Im weltweiten Wachstumsmarkt Gesundheit hat Deutschland die große Chance, eine führende Rolle zu spielen. Diese Chance gilt es zu nutzen - im Interesse der gesamten Wirtschaft in diesem Land.