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Erneuerbarer Kohlenstoff

Biomasse, CO2-Nutzung und Recycling sind der Schlüssel zu einer klimaneutralen Chemie

11.12.2024 - Wenn die Chemie auf alternative Rohstoffe umsteigt, wirkt das dem Klimawandel effektiv entgegen.

Ein Großteil der Rohstoffe, die die chemische Industrie verarbeitet und auch für die Versorgung von anderen Branchen mit Vorprodukten benötigt, ist fossil. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn die Chemie auf alternative Rohstoffe umsteigt, wirkt das dem Klimawandel effektiv entgegen. Denn 70 % der weltweiten Treibhausgasemissionen stammen von fossilem Kohlenstoff, den wir der Geosphäre entnehmen.

Andrea Gruß sprach mit Michael Carus, Inhaber und Geschäftsführer des Nova-Instituts und Initiator der internationalen Renewable Carbon Initiative (RCI), welche Quellen die Chemie für einen vollständigen Umstieg auf erneuerbaren Kohlenstoff benötigt und wie sie nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe gestalten kann.

CHEManager: Herr Carus, welchen Beitrag leistet die Chemieindustrie zum Klimawandel?

Michael Carus: Ohne die Chemie hätte unsere Welt einen deutlich höheren CO2-Footprint und weniger Komfort. Ob Baustoffe, Verpackungsmaterialien oder Konsumgüter – chemische Erzeugnisse haben in der Regel einen geringeren Carbon Footprint als alternative Materialien. Die Produkte und Prozesse der Chemieindustrie sind extrem optimiert, insbesondere Standorte in Europa sind hier vorbildlich aufgestellt. Das Problem der Branche ist jedoch der eingebettete, fossile Kohlenstoff in den chemischen Produkten. Denn zum Lebensende eines Produkts entweicht dieser Kohlenstoff durch Oxidation – zum Beispiel durch Verbrennung oder den Abbau in Deponien – wieder in die Atmosphäre und trägt zum Treibhauseffekt bei. Der Anteil dieser Emissionen ist nicht zu vernachlässigen: Bei vielen Basischemikalien ist nur ein Drittel der CO2-Emissionen produktionsbedingt. Zwei Drittel entfallen auf den sogenannten unsichtbaren oder embedded Carbon Footprint. Die Abhängigkeit der Chemie vom fossilen Kohlenstoff ist daher ein Pferdefuß, den wir in den kommenden Jahrzehnten angehen müssen.

Im Carbon Flows Report hat das Nova-Institut den Bedarf an embedded Carbon erstmals quantifiziert. Mit welchem Ergebnis?

M. Carus: Für die Produktion von Chemikalien benötigten wir im Jahr 2020 weltweit etwa 550 Mio. t Kohlenstoff, circa 90 % davon stammen aus fossilen Quellen. Während der Kohlenstoffbedarf in Europa nahezu konstant ist, wächst er zum Beispiel in Indien um 10 % pro Jahr. Bis zum Jahr 2050 wird sich daher der weltweite Bedarf an embbeded Carbon auf über 1,1 Mrd. t mehr als verdoppeln.

Wie kann vor diesem Hintergrund das Ziel der Klimaneutralität erreicht werden?

 

Was im Energiebereich die
Dekarbonisierung darstellt,
ist für die Chemie der Umstieg auf erneuerbaren Kohlenstoff.

 

 



M. Carus: Die organische Chemie und die Polymerchemie können nicht dekarbonisiert werden, da sie vollständig auf der Nutzung von Kohlenstoff basieren. Was im Energiebereich die Dekarbonisierung darstellt, ist für die Chemie- und Kunststoffindustrie der Umstieg auf erneuerbaren Kohlenstoff. Nur durch den vollständigen Verzicht auf fossilen Kohlenstoff aus dem Boden kann ein weiterer Anstieg der CO2-Konzentrationen vermieden werden. Wir sprechen daher von einer Defossilisierung der Chemie.

Welche Lösungsansätze für die Defossilisierung der Chemie gibt es?

M. Carus: Um die chemische Indus­trie zu defossilisieren, muss fossiler Kohlenstoff komplett durch erneuerbaren Kohlenstoff ersetzt werden. Erneuerbarer Kohlenstoff kann aus der Atmosphäre, der Biosphäre oder der Technosphäre entnommen werden, aber nicht aus dem Boden, der Geosphäre. Auf diese Weise entstehen nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe und es gelangt kein zusätzliches CO2 in die Atmosphäre. Quellen für erneuerbaren Kohlenstoff sind Biomasse, Recyclingmaterialien und CO2. Massenchemikalien werden in einer nachhaltigen Chemie primär auf einer chemischen CO2-Nutzung via Methan, Methanol und Naphtha basieren, während Feinchemikalien und komplexe Moleküle eher aus Biomasse und CO2-Fermentation hergestellt werden. Gleichzeitig senkt mechanisches und chemisches Recycling den Bedarf an zusätzlichem erneuerbaren Kohlenstoff.

Welche Bedeutung hat Biomasse als alternative Kohlenstoffquelle heute und in Zukunft?

M. Carus: Etwa 8 % des eingebetteten Kohlenstoffs stammen heute aus Biomasse, davon sind 70 % Stärke und Pflanzenöle aus Nahrungspflanzen. In unserem Szenario für eine klimaneutrale Chemieindustrie steigt der Anteil der Biomasse bis 2050 auf 20 %. Dabei wird der Anteil an Holz, Stroh und biogenen Abfallströmen zunehmen, aber nach wie vor etwa die Hälfte der Biomasse auf Stärke, Zucker und Pflanzenöle entfallen. Ein Großteil der Biomasse wird künftig für Kerosin benötigt; für die Chemie bleibt etwa ein Anteil von 5 %.

Inwieweit steht die Nutzung von Biomasse in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion?

M. Carus: Der Anbau von mehr Getreide zur Gewinnung von Biomasse kann sogar zur Sicherung der Versorgung beitragen. Denn wenn weltweit mehr Weizen angebaut wird, gibt es auch im Fall einer Krise mehr zu essen. Holz dagegen kann man auch in der Krise nicht essen.

Welche Bedeutung hat Recycling für einen nachhaltigen Kohlenstoffkreislauf?

M. Carus: Im Jahr 2020 wurden etwa 4 % des eingebetteten Kohlenstoffs durch Recycling von Materialien gewonnen, die aus fossilem Kohlenstoff hergestellt wurden. In unserem Szenario einer klimaneutralen Chemieindustrie steigt dieser Anteil bis zum Jahr 2050 auf 55 %, davon fallen jedoch nach wie vor nur 5 % auf Materialien aus fossilem Kohlenstoff und bereits 50 % auf Kohlenstoff, der aus Biomasse oder CO2-Nutzung stammt oder aus Rezyklaten wiedergewonnen wird.

Welche Entwicklung beobachten Sie beim Recycling von Kunststoffen?

M. Carus: Aktuell werden nur etwa 10 % der Kunststoffe aus Altkunststoffen gewonnen. Durch mechanisches Recycling ließe sich der Anteil auf etwa 20 % erhöhen. Doch dann stößt man auf eine Grenze, bei der die notwendige Materialqualität nicht mehr erreicht wird. Durch chemisches Recycling lassen sich größere Anteile im Kreislauf halten. Es gibt verschiedene Arten des physikalischen und chemischen Recyclings: Sie können Polymere aufreinigen, oder enzymatisch, thermisch oder mit Lösemitteln in ihre Monomere überführen und aus diesen wieder hoch qualitative Kunststoffe herstellen. Oder sie pyrolisieren sie zu Naphtha oder Syngas. Doch insgesamt ist der Anteil des chemischen Recyclings aktuell noch gering.

Wo liegen hier die Hürden?

M. Carus: Sie sind weniger technisch, sondern eher regulatorischer Art. Es fehlt an verbindlichen Quoten und es herrscht Unsicherheit bezüglich der Anerkennung der verschiedenen Recyclingverfahren. Unternehmen investieren jedoch erst, wenn der gesetzliche Rahmen stimmt. Und der stimmt vermutlich ab dem Frühjahr nächsten Jahres. Wir beobachten schon jetzt, dass zahlreiche Projekte gestartet wurden und Partnerschaften entstehen, zwischen Müllentsorgern und der chemischen Industrie. Das ist fantastisch. So muss es laufen.

Die dritte von Ihnen genannte Quelle für erneuerbaren Kohlenstoff, CO2, ist bislang noch bedeutungslos. Welche Rolle wird sie in Zukunft spielen?

M. Carus: Viele Chemiker sagen: CO2 ist als Rohstoff nicht geeignet. Das sei ein totes Molekül. Doch eine Pflanze nimmt CO2, Wasser, Solarstrahlung und stellt daraus Zucker her, die dann zum Beispiel in Ethanol umgewandelt werden – mit einem Gesamtwirkungsgrad von 0,1 %. Wir können dies heute technisch mit Photovoltaik, Wasserstofferzeugung und CO2-Capture and Utilisation etwa 40-mal effizienter als die Natur. Bezogen auf die Fläche erzielen wir mit Photovoltaik und CO2-Nutzung einen 40-fach höheren Ertrag als die Pflanzen. Das heißt, wenn wir Flächenengpässe haben, ist CO2-Nutzung sehr effizient.

Erneuerbarer Kohlenstoff aus direkter CO2-Nutzung kann aus fossilen Punktquellen – solange es diese noch gibt – sowie dauerhaft aus biogenen Punktquellen und über Direct Air Capture aus der Atmosphäre entnommen werden. Aufgrund der regulatorischen Vorgaben der EU für Kerosin – nach denen der Anteil an CO2 im Treibstoff im Jahr 2050 mindestens 35 % betragen muss – und den damit verbundenen Investitionen am Treibstoffmarkt werden CO2-Folgeprodukte auch für die Chemie als Rohstoff deutlich an Bedeutung gewinnen. In unserem Szenario zur klimaneutralen Chemie rechnen wir damit, dass der Anteil des CO2-basierten eingebetteten Kohlenstoffs bis zum Jahr 2050 auf 25 % steigen wird.

Angesicht der Diskussion um zukunftsfähige Antriebstechnologien, treten E-Fuels wieder in den Fokus. Wo sehen Sie hier die größten Potenziale und welchen Einfluss hat dies auf die Nutzung erneuerbaren Kohlenstoffs in der Chemie?

M. Carus: Ich halte den Einsatz von E-Fuels für realistisch bei Interkontinentalflügen, denn hier sind elektrische Antriebe oder Wasserstoffantriebe keine Alternativen. In der Containerschifffahrt ist Methanol hoch im Rennen. Denn Dieselbetriebene Schiffe können relativ einfach auf Methanol umgerüstet werden und es werden bereits erste Flotten damit betrieben. Die Chemieindus­trie sollte neben dem Treibstoffmarkt auch die Entwicklung in der Logistikbranche im Blick haben. Hier gibt es bereits erste Querinvestitionen in die Branche hinein: Ein Tochterunternehmen der dänischen A. P. Moller Group, die sich die Dekarbonisierung der Containerschifffahrt zum Ziel gesetzt hat, kündigte eine milliardenschwere Investition in die Herstellung fossilfreier Kunststoffe aus grünem Methanol im Hafen Antwerpen an.

Welche Nutzung von E-Fuels erwarten Sie im Straßenverkehr?

M. Carus: Hier brauchen wir keine E-Fuels. Grundsätzlich befürworte ich Technologieoffenheit, doch sie braucht Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Vorgabe von Effizienz. Elektrische Antriebe haben etwa einen viermal so hohen Wirkungsgrad wie E-Fuel-betriebene Verbrenner. Solange wir Wind- und Solarstrom nicht im Überfluss produzieren, können wir uns das nicht leisten. Auch ein Tankstellennetz aufzubauen für die wenigen Autos, die E-Fuels nutzen werden, kostet Geld. Wir sollten uns daher nicht verzetteln mit dieser Anwendung, da es mit Elektromobilität eine gute Alternative gibt.

Embedded Carbon, erneuerbarer Kohlenstoff, Defossilisierung sind Begriffe, die vom Nova-Institut in der internationalen Diskussion etabliert wurden. Was wollen Sie damit bewirken?

M. Carus: Es ist wichtig, bei Transformationen, die richtigen Begriffe zu verwenden um neue Denkfelder zu öffnen. Bei Diskussionen zur Dekarbonisierung gab es immer wieder Politiker oder Vertreter von NGOs, die dachten, wir brauchen in 20 Jahren nur noch Wasserstoff und keinen Kohlenstoff mehr. Durch den Begriff Defossilisierung wurde klarer, wir brauchen ihn nach wie vor, nur eben andere Quellen des Kohlenstoffs. Das hat das Denken von vielen Entscheidern in der EU maßgeblich beeinflusst und öffnet den Weg für Innovationen, die sich mit einer Dekarbonisierung nicht hätten vereinbaren lassen.

Ein anderer Begriff, zur dessen Präzisierung wir beigetragen haben, ist das Carbon Management. Die EU hatte lange Zeit nur die CO2-Emissionen im Sinn, wenn sie von Carbon Management sprach. Heute wird das Thema auch von der Rohstoffquelle des Kohlenstoffs gedacht und man spricht von comprehensive, also umfassendem, Carbon Management.

Herr Carus, Sie haben das Nova-Institut vor 30 Jahren gegründet. Wo sehen Sie rückblickend die wichtigsten Meilensteine in dessen Entwicklung?

M Carus: Das Nova-Institut entstand 1994 als Ausgründung des Kölner Katalyse-Umweltinstituts. Anfangs waren wir zu fünft und haben uns auf biobasierte Naturfasern spezialisiert. Nach und nach haben wir unser Spektrum erweitert und uns dabei gleichzeitig spezialisiert. Zunächst auf die gesamte Biomasse, aber nur deren Anwendung in der chemischen Industrie, nicht im Energiesektor.
Ein weiterer Meilenstein war vor 15 Jahren der Einstieg in die CO2-Nutzung, die viele damals nicht für zukunftsträchtig hielten. Vor etwa sechs Jahren gingen wir den Schritt, die Themen Biomasse, Recycling und CO2 als Rohstoff gemeinsam zu denken. Davor bekämpften sich die Sektoren eher gegenseitig, statt sich gemeinsam gegen den Einsatz fossilen Kohlenstoffs einzusetzen. Im Jahr 2020 gründeten wir die internationale Renewable Carbon Initiative, kurz RCI, um das Thema voranzubringen.
Das Team des Nova-Institutes zählt heute etwa 50 Mitarbeiter. Wir sind aktiv in der Industrie- und Politikberatung, in Forschungs- und Entwicklungsprojekten und wir organisieren Kongresse und übernehmen Öffentlichkeitsarbeit. Dabei sind wir unabhängig finanziert und zugleich in der Politikberatung tätig. Ja, das geht! Und es befruchtet sich gegenseitig.

 

 

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ZUR PERSON
Michael Carus ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Nova-Instituts und seit über 30 Jahren im Bereich bio-basierte Ökonomie aktiv. Seine Arbeiten umfassen Biomasse und CO2 als Rohstoff für die Industrie, Prozesstechnik sowie bio-basierte Chemie, Biowerkstoffe und Naturfasern. Er zählt zu den führenden europäischen Experten, Marktforschern und Politikberatern auf diesen Gebieten. Carus studierte Physik und Mathematik in Wuppertal und war vor der Gründung des Nova-Instituts als Abteilungsleiter am Katalyse-Umweltinstitut in Köln tätig.

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