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Partnerschaft für die Kreislaufwirtschaft

Chemisches Recycling: Wie aus alten Reifen neue Autoteile werden

14.08.2024 - CHEManager-Serie | Kunststoff Recycling

Neste, Borealis und Covestro arbeiten als Projektpartner zusammen, um den Stoffkreislauf für die Automobilindustrie zu schließen. Das Projekt zum chemischen Recycling von Altreifen zielt darauf ab, bislang als minderwertig geltende in qualitativ hochwertige sekundäre Rohstoffe für anspruchsvolle Automobilanwendungen zu verwandeln.

Es leistet dabei einen wichtigen Denkanstoß zur praktischen Ausgestaltung der kommenden End-of-Vehicle (ELV)-Verordnung der EU. Die Wertschöpfungskette ist zunächst auf ISCC Plus-massenbilanziertes Polycarbonat ausgerichtet, kann aber auch auf andere Kunststoffe erweitert werden.

Die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) entwickelt sich zum Leitprinzip der globalen Industrie. Sie ist ein starker Hebel, um den Klimawandel und die Umweltzerstörung zu bekämpfen und knappe Ressourcen zu schonen. Auch in der Automobil- und Chemieindus­trie wird intensiv daran gearbeitet, nicht mehr linear zu wirtschaften, sondern Bauteile, Materialien und Rohstoffe im Kreislauf zu führen. Ein „Stiefkind“ in dieser Hinsicht sind bislang Reifen.

Weit über eine Milliarde von ihnen erreichen jedes Jahr weltweit ihr Lebensende und müssen verwertet werden.
Reifen bestehen hauptsächlich aus mehreren Gummivarianten und enthalten außerdem Füllstoffe wie Ruß und Kieselsäure, Verstärkungsmaterialien wie Stahl und Polyester sowie Chemikalien wie Schwefel und Zinkoxid. Wegen dieser komplexen Zusammensetzung sind Altreifen nur schwer und aufwändig zu rezyklieren. Bislang werden sie deponiert oder als Energieträger etwa in der Zementherstellung genutzt und verbrannt, was dem Klima schadet. Weiterhin werden sie in Schredderanlagen zu Gummimehl oder -granulat, z. B. Kunstrasen, Asphalt oder Bodenbeläge, verarbeitet. Allerdings übersteigt die Menge an Altreifen bei weitem die Nachfrage nach solchen Produkten.

Chemisches Recycling als Schlüssel

„Bislang gibt es kaum Verwertungskonzepte, die im großen Maßstab Altreifen als wertvolle Rohstoffquelle für hochwertige Chemie- und Kunststoffprodukte erschließen und somit das lineare Leben von Reifen in einen Kreislauf verwandeln. Das haben Neste, Borealis und Covestro nun geändert“, sagt Guido Naberfeld, Senior Vice President, Head of Sales and Market Development Mobility bei Covestro.
Die Partner haben dafür ein Projekt umgesetzt, bei dem durch chemisches Recycling von Altreifen hochwertige Polycarbonate für anspruchsvolle Anwendungen im Automobilbau erzeugt werden können, bspw. für Scheinwerfer oder Kühlergrills.

 

„Bislang gibt es kaum Verwertungskonzepte,
die im großen Maßstab Altreifen
als wertvolle Rohstoffquelle erschließen.

 



Generell soll damit die Kreislaufwirtschaft in der Wertschöpfungskette von Kunststoffen und in der Automobilindustrie vorangetrieben und langfristig auf ein großindustrielles Niveau gehoben werden. Das Vorhaben steht für eine Abkehr von einer Polycarbonat-Rohstoffbasis, deren Herstellung und Distribution seit Jahrzehnten optimiert wurde und Millionen von Tonnen erdölbasierter Rohstoffe und Zwischenprodukte umfasst. Allein dies zeigt, warum es sich um ein Leuchtturmprojekt handelt und warum alle Partner in der Wertschöpfungskette des Reifenrecyclings eng zusammenarbeiten müssen, damit der Aufbau zirkulärer Stoffkreisläufe gelingt.

Denkanstoß für kommende ELV-Verordnung

Das Projekt leistet zudem einen wichtigen Denkanstoß zur Ausgestaltung der kommenden ELV-Verordnung der EU. Es zeigt an einem komplexen Beispiel, wie sich minderwertige Abfallstoffe zur Produktion von hochwertigen Produkten für technisch anspruchsvolle Automobilanwendungen – wie etwa hochtransparente Scheinwerfer aus Polycarbonat – verwerten lassen. Damit betonen die Partner, dass sie als führende und global aktive Unternehmen der Chemieindustrie positiv und kreativ auf Pläne der Gesetzgebung reagieren und diese unterstützen. Gleichzeitig werden Automobilhersteller ermutigt, sich zu beteiligen, um früh Lösungsansätze für die künftige ELV-Verordnung mitzugestalten und Teil neu entstehender Wertschöpfungsketten zu werden.

Das Projekt zeigt auch auf, wo derzeit die Grenzen und Schwächen des ELV-Entwurfs liegen, wo angepasst und verfeinert werden muss. So sind nach dem jetzigen Stand des Entwurfs Altreifen als Quelle nicht auf die Kunststoffrezyklat-Einsatzquoten anrechenbar. Und zwar weder auf die allgemeine Quote von 25 % noch auf die spezielle „Closed-Loop-Quote“ (25 % der 25 %-Quote basierend auf Altautos als Quelle). Auch muss das chemische Recycling über Massenbilanzierung Berücksichtigung in der ELV finden um skalierbare und qualitativ hochwertige Lösungen für anspruchsvolle Kunststoffanwendungen bereitzustellen. Das ist bislang nicht der Fall.

Detaillierte, transparente und offene Kooperation

„Das Pilotprojekt ist für alle Beteiligten Neuland und Aufbruch in eine neue Qualität von Partnerschaft innerhalb der Wertschöpfungskette, die über die üblicher Marketing-Vertriebs-Beziehungen hinausgeht“, sagt Thomas Van De Velde, Senior Vice President Base Chemicals bei Borealis. „Die ambitionierten Ziele dieses Projekts erfordern eine sehr detaillierte, transparente und offene Diskussion und Kooperation.“ Grund dafür sind die sehr komplexen Wertschöpfungsketten der Chemie- und Kunststoffindustrie. Sie sind u.a. durch sehr viele Prozessschritte gekennzeichnet, die nicht jeder Projektpartner mit seiner Expertise abdecken kann. Daher ist jeder Partner auf das Know-how des anderen angewiesen. Herausfordernd ist u.a., dass noch längst nicht alle Rahmenbedingungen der Kreislaufwirtschaft definiert sind, etwa die benannte ELV-Verordnung oder das Konzept der Massenbilanzierung. Dies lässt viele große Player und Abnehmer der Chemiebranche zunächst noch abwarten. Wo auf der einen Seite also Rahmenbedingungen fehlen, sind sie an anderer Stelle überraschend umfangreich: So müssen die Rezyklate nicht nur die Chain-of-Custody- und ELV-Bedingungen erfüllen, sondern auch die Abfallrahmenrichtlinie einhalten. Letztere legt wesentliche Begriffsbestimmungen fest – bspw. was Recycling und was ein Rezyklat zu sein hat. Die Projektpartner waren sich aber von Anfang an einig, direkt mit der Arbeit zu beginnen, um später, wenn die Rahmenbedingungen festgelegt sind, bereit zu sein.

Massenbilanziert nach dem ISCC Plus-Standard

Im Rahmen der Zusammenarbeit verarbeitet Neste Pyrolyseöl, das aus Altreifen gewonnen wird, in seiner Raffinerie in Porvoo, Finnland, zu einem hochwertigen Rohstoff für Chemikalien und Kunststoffe. Borealis stellt daraus Phenol und Aceton her. Covestro setzt die beiden Basis­chemikalien mit Zwischenschritten dann weiter zu Polycarbonat um. Jeder Projektpartner hat inzwischen entsprechend seines Projektauftrags erste Chargen seiner Produkte hergestellt, sodass erste, aus Altreifen gewonnene Polycarbonate zur Verfügung stehen. Der Rezyklatanteil wird dabei nach dem Standard ISCC Plus (International Sustainability and Carbon Certification) massenbilanziert und zugeordnet.

Drop-in-Lösung als Alternative

Wichtig ist, dass die aus dem Reifenrecycling gewonnenen Polycarbonat-Ausgangsstoffe chemisch und physikalisch völlig identisch mit den bislang für den thermoplastischen Kunststoff eingesetzten, rein fossilen Rohstoffen sind. Es entstehen daher Polycarbonate, die die identische Qualität und die gleichen physikalischen und verarbeitungstechnischen Eigenschaften haben wie ihre fossilen Pendants. Die Materialien haben also auch die gleichen technischen Spezifikationen und Zertifizierungen. Sie können daher ihre fossil-basierten Pendants als alternative Drop-in-Lösung ersetzen und ergeben Bauteile mit gleicher Qualität, schonen dabei aber Ressourcen. Dieser Vorteil ist entscheidend, um die Akzeptanz für die alternativen, ursprünglich auf Abfallstoffen basierenden Produkte bei OEMs und deren Kunden zu steigern.

Im Moment fokussiert sich das Projekt noch darauf, die Verwertung der Altreifen mit den Erwartungen der ELV-Verordnung in Einklang zu bringen. Die Partner gehen aber davon aus, dass die ELV-Anforderungen in anderen Wirtschaftsregionen und in anderen Industrien als „Blaupause“ zur Definition eigener Regularien für den Aufbau von Stoffkreisläufen dienen werden. Insofern hat das Pilotprojekt eine noch sehr viel größere Marktbedeutung, und es stärkt den globalen Trend zur Kreislaufwirtschaft. Sein Erfolg wird – da sind sich die Projektpartner sicher – weitere Investitionen in die Kreislaufwirtschaft anstoßen und zudem dafür sorgen, dass immer mehr alternative Rohstoffquellen für das chemische Recycling erschlossen werden.

 

„Das Pilotprojekt ist für alle Beteiligten Neuland und Aufbruch
in eine neue Qualität von Partnerschaft
innerhalb der Wertschöpfungskette.“

 

 


“Als Ingenieur verstehe ich die Prozesse hinter dem Projekt und wie wir alte Reifen in transparente Scheinwerfer verwandeln können – und dennoch finde ich es als Konsument beeindruckend, dass es wirklich geht,” sagt Jeroen Verhoeven, Vice President Value Chain Development Chemie und Kunststoffe bei Neste. “Es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich das Konzept von Abfall in der Kreislaufwirtschaft verändert. Durch Zusammenarbeit mit allen Playern in der Wertschöpfungskette können wir Plastikabfall oder Altreifen in hochwertige Anwendungen verwandeln.”

Auch Rohstoffe für Polyurethan im Blick

Aktuell arbeiten die Projektpartner außerdem daran, die Verwertung von Altreifen mengenmäßig zu skalieren. Langfristig ist das Ziel, den Stoffkreislauf bei Altreifen zu schließen. Dabei geht es nicht nur um Polycarbonat als Endprodukt. Auch Rohstoffe für Polyurethan – wie etwa Benzol oder Toluol – könnten aus Altreifen gewonnen werden. Dafür stehen großchemische Prozesse bereit. Polyurethan ist im Automobilbau etwa im Fahrzeuginnenraum allgegenwärtig – sei es als Schaumstoff in Sitzen, Instrumententafeln, Dachhimmeln oder Türverkleidungen. Für seine Verwertung könnte deshalb ein weiterer Kreislauf aufgebaut werden, der den Vorgaben der ELV-Verordnung entspricht.

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