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Nachhaltigkeit braucht einen Business Case

Dow setzt in seiner Transformationsstrategie auf Dekarbonisierung, Wachstum und Kreislaufwirtschaft

10.06.2024 - „Wir brauchen eine überzeugenden Business Case für die große Transformation“, sagt Julia Schlenz, Vorstandsvorsitzende von Dow Deutschland, im Interview.

Aus der Fusion der Traditionskonzerne Dow und DuPont und der anschließenden Aufteilung der Geschäftsaktivitäten ging 2019 die „neue“ Dow als eigenständiger Konzern hervor. Das Unternehmen entwickelt Kunststoffe, industrielle Zwischenprodukte, Beschichtungen und Silikone für ein breites Spektrum wachstumsstarker Branchen. Weltweit betreibt der US-Konzern Produktionsstandorte in 31 Ländern mit 35.900 Mitarbeitenden und erzielte 2023 einen Umsatz von 44,6 Mrd. USD.

Andrea Gruß sprach mit Julia Schlenz, Präsidentin und Vorstandsvorsitzende Dow Deutschland, über die Nachhaltigkeitsstrategie des Konzerns sowie die Chancen und Hindernisse für deren Umsetzung in Europa.

 

"Wir müssen die Ökonomie als Basis
für mehr Ökologie begreifen."

CHEManager: Frau Schlenz, Sie leiten seit 2023 das Deutschlandgeschäft von Dow in einer Zeit mit wirtschaftlichen Herausforderungen. Wie haben Sie es geschafft, das Unternehmen durch diese Zeiten zu navigieren?

Julia S. Schlenz: Nun, zunächst mache ich das nicht allein. Ich habe ein erfahrenes Team um mich, und in Deutschland knapp 3.500 Beschäftigte, die jeden Tag dafür arbeiten, dass wir bislang stabil durch die Herausforderungen der vergangenen – man muss ja sagen fast zweieinhalb Jahre – gekommen sind. Die Situation der chemischen Industrie ist nicht einfach, hohe Energiepreise und schwache Auftragslage belasten die Branche. Gleichzeitig stehen wir vor der großen Aufgabe, die Industrie grundlegend zu transformieren und bis 2050 netto CO2-neutral zu werden. Das ist einerseits sehr spannend und birgt viele Chancen, bringt aber auch große Herausforderungen mit sich.

Sie sprechen es an: Als Chemieunternehmen sind Sie Teil der Transformation zur Nachhaltigkeit. Welche Strategie verfolgen Sie?

J. Schlenz: Die chemische Industrie spielt eine wichtige Doppelrolle: Einerseits liefern wir Produkte, die für die Funktionalität von E-Autos, Windrädern, die Stromversorgung oder die Kreislaufwirtschaft unerlässlich sind. Andererseits sind wir als energieintensive Branche ein bedeutender CO2-Emittent. Unsere globale Nachhaltigkeitsstrategie fußt deshalb auf drei Säulen: Klima­schutz, Kreislaufwirtschaft und Safer Materials. Im Bereich Klimaschutz arbeiten wir daran, unsere Produktion zu dekarbonisieren. Ein Leuchtturmprojekt ist der Bau des weltweit ersten Net-Zero-Crackers in Kanada. Gleichzeitig erhöhen wir kontinuierlich den Anteil erneuerbarer Energien für unsere Stromversorgung. Und, wir forschen an neuen Technologien, wie dem E-Cracking. Für die Kreislaufwirtschaft arbeiten wir gemeinsam mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette an Lösungen für mechanisches und chemisches Recycling, und setzen biobasierte Rohstoffe für die Kunststoffherstellung ein. Und Safer Materials bedeutet, dass wir neue Materialien entwickeln, die über ihren Lebenszyklus hinweg umweltverträglicher sind als bestehende Lösungen.

Welche Projekte verfolgen Sie in Deutschland?

J. Schlenz: Alle drei Schwerpunkte setzen wir auch in Deutschland um. Wir haben zum Beispiel den Großteil unserer deutschen Standorte auf Grünstrom umgestellt und damit seit 2020 bereits circa 2 Mio. t CO2-Emissionen vermieden. Mit dem Recycling­unternehmen Mura Technology planen wir den Bau einer Anlage für chemisches Recycling an unserem Standort Böhlen. Und, im Bereich Produktentwicklung haben wir in unserem Systemhaus in Ahlen gerade eine neue Anlage für Klebstoffe und thermisch leitfähige Pasten für Batterien in Betrieb genommen, um das Wachstum unserer Kunden in der E-Mobilität zu unterstützen. Wir sind also bereits auf dem Weg der Transformation. Aber die Beispiele zeigen auch, es braucht massive Investitionen, weil viele Technologien erst noch entwickelt und skaliert werden müssen. Dekarbonisierung und Wachstum sind untrennbar miteinander verbunden.

Stichwort Investitionen – unter welchen Voraussetzungen kann die Transformation der Industrie in Europa gelingen?

J. Schlenz: Dass die Chemieindustrie ein essenzieller Teil der Transformation ist, haben inzwischen viele Verantwortliche verstanden. Und, es steigt auch die Wahrnehmung dafür, wie teuer das wird. Der europäische Chemieverband Cefic rechnet damit, dass allein für die Entwicklung der notwendigen „First-of-a-Kind“-Technologien in Europa circa 230 Mrd. EUR investiert werden müssen. Die Investi­tionen für die Skalierung dieser Technolo­gien werden sich im Billionen-Bereich bewegen. Es reicht also nicht, den Weg zur CO2-Neutralität der Industrie möglichst detailliert zu planen. Es müssen auch konkrete Lösungen gefunden werden, wie die Transformation wirtschaftlich gelingen kann. Nur so wird die Transformation gesamtgesellschaftlich – also von Unternehmen, Staat und Verbrauchern – finanziell und inhaltlich getragen. Oder anders formuliert: Es braucht immer einen überzeugenden Business Case.

Was verstehen Sie unter einem überzeugenden Business Case?

J. Schlenz: In unserer Branche ist typischerweise jeder Standort einzigartig. Da gibt es aus meiner Sicht keinen One-Size-fits-all-Ansatz für die Transformation. Stattdessen braucht es vielfältige Lösungen und Technologien, die angepasst und skaliert werden müssen. Sie können sich vorstellen, ein Unternehmen wie Dow mit weltweit 100 Standorten hat eine immense Zahl an Projekten zu stemmen. Diese Projekte konkurrieren mit ohnehin notwendigen Investments in Produktinnovationen, Effizienzsteigerung oder Instandhaltung um naturgemäß begrenztes Kapital. Damit ein Projekt den Zuschlag bekommt, muss es sich nicht nur rechnen, es muss sich mehr rechnen als die anderen. Wenn wir also vom Business Case sprechen, dann meinen wir die Fähigkeit eines Projektes, im globalen Wettbewerb erfolgreich Kapital anzuziehen. Da gehen viele Faktoren ein, etwa Energiekosten, das regulatorische Umfeld, Planbarkeit von Gesetzgebungen, die vorhandene Infrastruktur et cetera.

 

"Beim Klimaschutz gibt es
kein One-Size-fits-all. Es müssen
vielfältige Lösungen entwickelt, angepasst
und skaliert werden."

 



Welche Bedeutung hat der Standort Deutschland für das US-Unternehmen Dow?

J. Schlenz: Deutschland ist für uns nach den USA das Land mit den meisten Produk­tionsstandorten. Deutschland ist seit über 60 Jahren ein wichtiger Markt; hier sind viele unserer Kunden aus allen Sektoren vertreten, viele davon Marktführer. Hinzu kommen traditionell sehr gutes Know-how, Technologie und Innovationen sowie hervorragend ausgebildete Mitarbeiter. Positiv sehen wir auch die grundsätzliche Offenheit der Menschen für grüne Technologien, wie dem Recycling.

Das klingt erstmal nach Wettbewerbsvorteilen für den firmeninternen Business Case. Gibt es auch Hürden für Investitionen in Deutschland und Europa?

J. Schlenz: Ja. Für einen überzeugenden Business Case benötigen wir vor allem wettbewerbsfähige Kosten im internationalen Vergleich und Planbarkeit. Wir brauchen niedrigere Strompreise und Gebühren für die Infrastrukturen sowie eine stabile, grundlastfähige Versorgung. Aber auch unübersichtliche Regulierungen verschlechtern den Business Case. Einige Beispiele: Unternehmen haben derzeit keine Klarheit über die Verfügbarkeit von Emissions­zertifikaten im Rahmen des europäischen Emissionshandels nach 2030. Zweitens: Viele Unternehmen investieren wie wir in chemische Recyclingverfahren, die in der deutschen und EU-Gesetzgebung bisher aber nicht konsequent als Recycling­option anerkannt sind. Drittens, die Spaltung von Prozessgasen in Wasserstoff und CO2 ist eine nachhaltige Lösung. Um künftig klimaneutral zu produzieren, müssen wir mittels CCS-Technologie das CO2 abtrennen, transportieren und speichern können. Aber bisher fehlen notwendige Infrastrukturen wie CO2-Pipelines. Wir könnten auch noch über Chemikalienregulierung sprechen, wo aktuell über Pauschalverbote ganzer Stoffgruppen diskutiert wird, ohne wirkliche wissenschaftsbasierte Ansätze. Was ich sagen möchte: Neben den Kosten geht es um Planbarkeit und Planungssicherheit des langfristigen politischen Rahmens, der dem Investitionshorizont von großen Industrieprojekten Rechnung trägt.

Deutschland ist aus der Atomenergie ausgestiegen. Welche Sichtweise haben Sie darauf?

J. Schlenz: Wir werden die Atomkraft sicherlich nicht in alter Form zurückholen, aber man sollte über neue, smartere Lösungen zukunftsgerichtet nachdenken. Atomenergie im Energiemix kann ein wichtiger Baustein sein. Einerseits, weil viele Prozesse elektrifiziert werden sollen und damit das ganze Land signifikant mehr Strom als heute benötigen wird. Andererseits, weil man mit neuen Technologien, wie den kleinen modularen Reaktoren, sogenannten SMRs, die wir gerade für einen unserer Standorte in den USA evaluieren, emissionsfreien Strom und auch Dampf rund um die Uhr und vor Ort erzeugen kann. Im Gegensatz zu erneuerbaren Energiequellen ist dieser Strom grundlastfähig, die Anlagen benötigen wenig Fläche und der notwendige Netzausbau ist überschaubar. Ich plädiere deshalb dafür, technologieoffen zu bleiben und uns durch Diversifizierung wettbewerbsfähiger aufzustellen.

 

"Business Case ist die Fähigkeit
einzelner Projekte, im globalen Wettbewerb
erfolgreich knappes Kapital anzuziehen."

 



Wird Europa vor dem Hintergrund der Energiekosten und der Subventionspolitik in anderen Regionen weiter ein wettbewerbsfähiger Standort für die Chemie bleiben?

J. Schlenz: Europa und Deutschland stehen an einem Scheideweg: Wir haben die Vision und das Potenzial, die Transformation anzuführen. Doch die Unvorhersehbarkeit von Regulierungen und die hohen Standortkosten stehen uns aktuell im Weg. Damit die Transformation im globalen Vergleich hier wieder lohnender wird, braucht es mutige Entscheidungen. Wir sind bereit, in unsere Zukunft zu investieren – aber Projekte benötigen einen attraktiven Business Case. Die Politik in Deutschland und auf EU-Ebene spielt eine entscheidende Rolle dabei, einen ermöglichenden regulatorischen Rahmen zu schaffen, um Europa attraktiv für Investitionen zu machen. Wir möchten darauf vertrauen können, dass Europa, und damit Investitionen hier langfristig wettbewerbsfähig sind.

Was gibt Ihnen Hoffnung, dass der Turnaround beim Green Deal gelingt?

J. Schlenz: Immer mehr Entscheidungsträger erkennen, dass Ökologie ohne Ökonomie nicht funk­tionieren kann, wenn man zugleich Wohlstand und Arbeitsplätze erhalten will. Deshalb ist es jetzt wichtig, den Green Deal durch einen „Industrial Deal“ zu ergänzen. Wir unterstützen den Green Deal, die Ziele sind im Einklang mit unseren Nachhaltigkeitszielen. Aber die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verändert, und wenn der Green Deal gelingen soll, muss er durch Maßnahmen ergänzt werden, die die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas wiederherstellen. Die Politik wacht auf, spätestens seit dem großen Zuspruch zur Antwerpener Erklärung für einen „­Industrial Deal“ – ein dringender Aufruf zur Wiederbelebung und Stärkung der europäischen Industrielandschaft. Bis Ende Mai 2024 wurde er bereits von rund 1.200 Unternehmen aus verschiedenen Branchen, von Verbänden, Gewerkschaften und Wissenschaft unterzeichnet. Das gibt mir Hoffnung.
Und, was mich persönlich jeden Tag motiviert: Deutschland hat eine starke Industrie und tolle Unternehmen. Wir sind kreativ, verstehen Technologien und haben eine Mannschaft, die bereit ist, diesen Weg zu gehen. Die nachhaltige Transformation ist die größte seit der industriellen Revolution. Und wir lesen darüber nicht in Geschichtsbüchern, sondern sind dabei und gestalten mit.

ZUR PERSON
Julia S. Schlenz ist seit März 2023 Vorstandsvorsitzende von Dow in Deutschland und Präsidentin der Region D/A/CH und Italien. In dieser Rolle verantwortet sie die Wachstums- und Transforma­tionsstrategie für einen der größten Produktionsstandorte und Absatz­märkte von Dow weltweit. Sie ist Mitglied im Präsidium des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) und gehört dem Board der American Chamber of Commerce Germany (AmCham) an. Schlenz studierte Kommunikations­management an der Universität Wien und absolvierte das Insead-General-­Management-Programm in Frankreich.

 

Dow in Deutschland
Seit über 60 Jahren ist Dow in Deutschland aktiv. Das Land ist für Dow einer der wichtigsten Produktionsstandorte und Absatzmärkte für den US-Konzern weltweit. Die erste Vertriebsniederlassung wurde im Jahr 1960 in Frankfurt am Main eröffnet. Heute beschäftigt das Unternehmen hier rund 3.500 Mitarbeiter an 13 Standorten. Die Deutschlandzentrale des Unternehmens befindet sich in Wiesbaden, die größten Produktionsstandorte liegen in Stade (Niedersachsen), Böhlen (Sachsen) und in Schkopau (Sachsen-Anhalt).

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