Klimaschutz ohne Wohlstandsverlust
Günstiger Strom und ein „konstruktiver“ Green Deal sind die Basis für mehr Nachhaltigkeit in Europa
Bis 2050 will Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent werden – der Weg dorthin soll über den „Green Deal“ führen. Die Strategie der EU-Kommission umfasst 47 geplante Maßnahmen in unterschiedlichen Politikbereichen, 46 davon betreffen direkt oder indirekt die Tätigkeit der Chemiebranche. Andrea Gruß sprach mit Rudolf Staudigl, Vorstandsvorsitzender der Wacker Chemie, über die Bedeutung günstiger Strompreise für den Klimaschutz und was es darüber hinaus bedarf, damit Europas Chemie die Basis für eine globale nachhaltige Entwicklung schaffen kann.
CHEManager: Herr Professor Staudigl, Europa will Vorreiter im Klimaschutz werden. Lässt sich dies mit der gesellschaftlichen Erwartung nach mehr Wohlstand vereinen?
Rudolf Staudigl: Um Vorreiter beim Klimaschutz zu sein, müssen wir beides erreichen – Klimaschutz und Wohlstand. Europa muss klimaschonende Technologien entwickeln, die besser sind als klimabelastende Alternativen. Nur dann werden uns auch China oder die USA zum Vorbild nehmen und wir können den Rest der Welt überzeugen, dass mit unserem Weg zu mehr Nachhaltigkeit auch Wohlstand zu erzeugen ist.
Was sind Ihre Kritikpunkte am Green Deal?
R. Staudigl: Meine Sorge bezüglich des Green Deals ist, dass Europa sich aus Klimaschutzgründen so einschränkt und reglementiert, dass wir das, was wir wirklich tun müssen, nicht mehr stemmen können. Um in Europa international wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen wir einen „konstruktiven“ Green Deal, der die weitere Verbesserung des Wohlstands mit im Blick hat. Ich halte es nicht für konstruktiv, im ersten Schritt die CO2-Preise zu erhöhen – koste es was es wolle. Das kann man in einzelnen Sektoren tun, um eine bestimmte Lenkungswirkung zu erreichen, aber nicht generell.
„Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen“, sagt Ernst-Ulrich von Weizsäcker, ehemaliger Präsident des Wuppertal-Instituts und Befürworter eines CO2-Preises. Im Gegenzug sollten Unternehmen entlastet werden, die in klimaschonende Technologien investieren.
R. Staudigl: Der Ansatz ist richtig, aber nur wenn er weltweit gültig ist. Gilt er nur für Europa, dann verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Und warum sollten wir Unternehmen zunächst mit Steuern belasten, um sie ihnen dann wieder zurückzuzahlen? Besser wir bieten ihnen die Voraussetzungen, wettbewerbsfähig zu sein und selbst die innovativste Art und Weise zu finden, um CO2-frei zu produzieren – um dann in zehn bis fünfzehn Jahren deutlich höhere Preise für CO2-Emissionen zu erheben.
„Europa braucht ein starkes
Standbein in der Solarindustrie."
Auch bezüglich des Strompreises streiten Experten über den effektivsten Weg zu mehr Klimaschutz. Was ist zielführender, ein hoher oder ein niedriger Strompreis?
R. Staudigl: Hinter dem Gedanken des höheren Strompreises steckt die Idee, dass in Deutschland Strom in erster Linie durch Kohle und Atomkraft produziert wird und dieser Anteil bei einem höheren Strompreis sinken würde. Doch wenn Strom teurer wird, wird es uns nicht gelingen, fossile Verfahren auf klimaschonende strombasierte Technologien umzustellen. Um einen energieintensiven Prozess, der mit Erdöl oder Erdgas betrieben wird – zum Beispiel der Betrieb eines Crackers – auf erneuerbare Energien umzustellen, bedarf es erstens genügend Stroms aus erneuerbaren Quellen und zweitens eines Strompreises, der das Ganze rentabel macht. Wettbewerbsfähige Stromkosten sind der Schlüssel für den Wandel vom fossilen Zeitalter ins Stromzeitalter.
Das heißt, Sie fordern eine Subvention des Strompreises für die Industrie?
R. Staudigl: Wir brauchen einen europäischen Industriestrompreis unter 4 ct/kWh, der es der energieintensiven Industrie ermöglicht, international wettbewerbsfähig zu sein. In China wurden vor eineinhalb Jahren schon die Strompreise um weitere 10 % gesenkt, um die Industrie zu entlasten. Unsere Strompreise sind bis zu viermal höher als die unserer chinesischen Wettbewerber, und sie steigen weiter durch den Kohleausstieg. Für das Geschäft von Wacker mit Polysilicium für Solarzellen ist das ein echtes Hindernis. Mit den gleichen Strompreisen wie in China wären wir das weltweit effizienteste Unternehmen in der Herstellung von hochqualitativem Polysilicium.
Fotovoltaik hat ein enormes Potenzial zur Reduktion des globalen CO2-Ausstoßes und sie ist die Energiequelle mit dem schnellsten Wachstum weltweit. Deshalb braucht Europa ein starkes Standbein in der Solarindustrie. Wir sind technologisch, aber auch in punkto Nachhaltigkeit viel besser als unsere chinesischen Wettbewerber. Der CO2-Fußabdruck ist bei uns in der Produktion viermal niedriger. Wenn unsere Polysiliciumproduktion in Deutschland nicht mehr möglich wäre und diese Mengen bei unseren Wettbewerbern im Westen Chinas hergestellt würden, dann würden – pro Jahr! – mehr als 3 Mio. t CO2 zusätzlich ausgestoßen. Das kann nicht im Sinne des Klimaschutzes sein. Wir dürfen diese Technologie in Deutschland nicht verlieren.
Hierzu muss Strom billiger werden. Die Politik muss einen Industriestrompreis einführen. Wir haben dazu auch schon konkrete Vorschläge gemacht, wie ein solches Modell aussehen könnte. Und das nicht nur, weil Wacker unter den hohen Strompreisen leidet, vielen anderen Unternehmen aus anderen Branchen geht es genauso. Ich habe den Eindruck, dass die Politik den Verlust von Arbeitsplätzen, Technologie und Know-how unterschätzt. Anders als die chinesische Regierung, deren Fokus auf der Schaffung von Arbeitsplätzen liegt.
„Wettbewerbsfähige Stromkosten sind der Schlüssel für
den Wandel vom fossilen Zeitalter ins Stromzeitalter."
Ein weiteres Ziel der Subventionspolitik in China ist es, technologische Unabhängigkeit vom Ausland zu erreichen. Ist dies der richtige Weg für mehr Klimaschutz und Wohlstand?
R. Staudigl: Nein, hier begeht China einen Fehler. Das Ziel, wichtige Schlüsseltechnologien – wie zum Beispiel die Solar- oder Halbleitertechnologie – im Land zu haben, ist nachvollziehbar, doch die Vorgabe Chinas bis zum Jahr 2025 in bestimmten Technologien komplett selbstständig und nicht mehr auf Importe angewiesen zu sein, wird mit Sicherheit zu einem Handelskrieg und politischer Instabilität führen.
Für Innovationen, die dazu beitragen, unsere Welt zu verbessern, brauchen wir einen internationalen Wettbewerb der Ideen. Diesen erreichen wir nicht, indem sich ein Land abschottet und bestimmte Industrien subventioniert. Hierfür bedarf es eines freien und fairen Handels.
Günstige Strompreise und ein planbarer Anstieg der CO2-Preise sind zwei Elemente Ihres Modells für einen „konstruktiven“ Green Deal. Welche weiteren Elemente umfasst es?
R. Staudigl: Wir müssen die Stromversorgung mehr und mehr auf erneuerbare Energien umbauen und entsprechend in die dafür notwendige Infrastruktur an Stromnetzen und -speichern investieren. Erst dann können wir rentabel auf Basis dieses Stroms Wasserstoff herstellen, der uns als Energieträger, Reduktionsmittel und zur Rohstofferzeugung dienen kann, und auf diese Weise CO2-Emissionen einsparen.
Neben niedrigen Energiekosten und einer Wasserstoffökonomie umfasst ein konstruktiver Green Deal auch den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft und den Einsatz nachwachsender Rohstoffe.
Für einen Großteil der im Green Deal genannten Themen sind Innovationen aus der Chemie nötig. Welchen Beitrag leistet Wacker hier?
R. Staudigl: Eine Spezialität von Wacker ist die Arbeit mit Silicium für die Solar- und Halbleiterindustrie. Wir haben die Technologien für die Herstellung von Polysilicium extrem verfeinert und so CO2-Emissionen massiv reduziert. Was die Stahlindustrie derzeit versucht einzuführen, nämlich Wasserstoff als Reduktionsmittel zu verwenden, setzen wir bei der Herstellung reinen Siliciums bereits um. Bei der Herstellung des Rohsiliciums wird Kohle als Reduktionsmittel genutzt. Hier kann man Holzkohle als nachwachsenden Rohstoff einsetzen.
Für die Reduktion beziehungsweise die Herstellung von Rohsilicium wird neben Kohle sehr viel Strom benötigt, deshalb ist unsere Produktion in Norwegen angesiedelt, wo Strom aus Wasserkraft kostengünstig zur Verfügung steht.
Nicht nur unsere ressourcenschonende Produktion, auch unsere Produkte selbst tragen zum Klimaschutz bei. Durch unsere Jahresproduktion an Polysilicium für nachhaltige Solarenergie können 466 Mio. t CO2-Emissionen vermieden werden. Das ist etwa 25 Mal so viel, wie eine Stadt der Größe Hamburgs pro Jahr ausstößt. Ein weiteres Beispiel: Mit 30 g Dispersionspulver von Wacker lassen sich 10 kg Dickbettmörtel aus Sand und Zement pro Quadratmeter ersetzen. Das sind 2,4 kg an CO2-Emissionen pro Quadratmeter weniger.
Wir verbessern systematisch die Ökobilanz unserer Produkte. Bereits heute sind 80 % unserer Produkte klimaneutral oder klimapositiv. Bis 2030 soll dieser Anteil auf 90 % steigen. Und 2050 wollen wir das für unsere gesamte Produktpalette erreichen.
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ZUR PERSON
Rudolf Staudigl ist seit 1983 für den Wacker-Konzern tätig. Im Jahr 1995 wurde er zum Mitglied des Vorstands der Wacker Chemie ernannt; 2008 übernahm er den Vorsitz dieses Gremiums. Der Chemiker studierte und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Jahr 2008 wurde er zum Honorarprofessor der Technischen Universität München berufen.