Nachgefragt
Neue Kartellrisiken in der EU?
Die Europäische Kommission hat das Kartellrecht neu justiert. Für Verträge von Unternehmen mit Zulieferern oder Vertriebspartnern gelten künftig neue kartellrechtliche Rahmenbedingungen. Dr. Andrea Gruß fragte Marc Besen, Rechtsanwalt und Partner bei der Sozietät Clifford Chance in Düsseldorf, welche Änderungen sich durch die neue europäische Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen (GVO) für Unternehmen ergeben.
CHEManager: Wann wird die Verordnung rechtswirksam?
M. Besen: Die neue europäische GVO für Vertikalvereinbarung trat bereits am 1. Juni 2010 in Kraft und gilt ohne Umsetzung ins nationale Recht unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten der EU. Sie ersetzt ihre Vorgängerin, die knapp zehn Jahre lang den kartellrechtlichen Rahmen für Liefer-, Vertriebs- und andere vertikale Vertragsbeziehungen bestimmt hat. Die GVO regelt im Wesentlichen Folgendes: Enthält eine Vereinbarung eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung, z. B. die Zuweisung eines exklusiven Vertriebsgebiets, verstößt diese in der Regel gegen das sogenannte Kartellverbot und ist demzufolge unzulässig. Fällt diese Vereinbarung jedoch in den Anwendungsbereich der Verordnung, wird sie automatisch und rechtssicher vom Kartellverbot freigestellt. Die Europäische Kommission hat darüber hinaus ihre Leitlinien zur GVO angepasst.
Wer ist von den Änderungen betroffen?
M. Besen: Betroffen ist industrieübergreifend jedes Unternehmen, das vertikale Vertragsbeziehungen unterhält. Dies gilt jedoch insbesondere für solche Unternehmen, für die Exklusivitäten, Alleinbezugs- oder Alleinbelieferungspflichten sowie andere Wettbewerbsverbote eine wichtige Rolle spielen.
Was ändert sich durch die neue Verordnung?
M. Besen: Der bislang geltende Rechtsrahmen hat sich nur partiell geändert. Viele wesentliche Regelungen haben auch in Zukunft Bestand. Dies gilt beispielsweise für die zulässige Dauer von Wettbewerbsverboten, die weiterhin fünf Jahre betragen soll. Die wohl wichtigste inhaltliche Änderung betrifft den Anwendungsbereich der Verordnung. War bislang nur der Marktanteil des Anbieters relevant, kann von der Freistellung durch die Verordnung in Zukunft nur dann profitiert werden, wenn die Marktanteile beider an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen auf dem jeweils relevanten Markt - also Absatz- bzw. Einkaufsmarkt - 30 % nicht überschreiten. In der Praxis bedeutet dies, dass die Verordnung auf Verträge, an denen ein nachfragestarker Kunde beteiligt ist, möglicherweise nicht mehr anwendbar sein wird. Eine weitere Änderung hat zur Folge, dass Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern in Zukunft überhaupt nicht mehr von dem „sicheren Hafen" der Verordnung profitieren können. Eine Vielzahl von Änderungen findet sich schließlich in den Leitlinien wieder. Hier werden Klarstellungen u. a. zu den Themen Internetvertrieb, Preisbindung der Zweiten Hand, Lieferantenzahlungen (Upfront Access Payments) oder Regalpflege (Category Management) getroffen.
Welcher Handlungsbedarf besteht?
M. Besen: Trotz der überschaubaren Zahl an Änderungen werden auch Chemie- und Pharmaproduzenten nicht umhinkommen, die neue Verordnung und die Leitlinien genau zu analysieren und beim Abschluss neuer Verträgen zu berücksichtigen. Für Altverträge gilt eine Übergangsfrist. Hier findet die neue Verordnung erst nach dem 31. Mai 2011 Anwendung. Dennoch sollte frühzeitig durch eine Bestandsaufnahme und eine kartellrechtliche Analyse - zumindest besonders wichtiger oder kritischer Verträge - geprüft werden, ob Anpassungen erforderlich sind. Andernfalls droht neben einer zivilrechtlichen Unwirksamkeit der Verträge unter Umständen sogar ein Bußgeld. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, zwischenzeitlich unliebsam gewordene Verträge nachzuverhandeln.
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