Strategie & Management

Kreislaufwirtschaft als globales Leitprinzip

Covestro will die Transformation der Chemie- und Kunststoffindustrie beschleunigen

16.06.2020 - Im CHEManager-Interview erläutert CEO Markus Steilemann wie Covestro zum Ziel einer treibhausgasneutralen Wirtschaft beitragen will.

Covestro bringt sich als Wegbereiter der zirkulären Wirtschaft in Position. Ende Mai verkündete der Vorstandsvorsitzende Markus Steilemann in einem Live-Webcast, dass der Werkstoffhersteller seine gesamte Produktion und Produktpalette sowie alle Bereiche langfristig komplett auf den Kreislaufgedanken ausrichten will. Diese strategische Vision soll in den kommenden Jahren mit zahlreichen konkreten Maßnahmen und Projekten schrittweise verwirklicht werden. So will Covestro den Wandel zur Kreislaufwirtschaft vor allem in der Chemie- und Kunststoffindustrie beschleunigen und zum Ziel einer treibhausgasneutralen Wirtschaft beitragen. Michael Reubold befragte Markus Steilemann zu den Details der Strategie.


CHEManager: Herr Steilemann, Covestro will eine Vorreiter­rolle einnehmen, um die zirkuläre Wirtschaft zum Modell für eine nachhaltige Welt zu machen. Ist die fortdauernde Coronakrise, in der Unternehmen ihre Liquidität sichern müssen, der geeignete Zeitpunkt für so ein Vorhaben? Immerhin erfordert die Transformation zur Kreislaufwirtschaft von der Industrie eine langfristige Strategie und enorme Investitionen.

Markus Steilemann: Corona schärft auch den Blick für die anderen globalen Probleme und Herausforderungen, mit denen die Welt schon lange zu kämpfen hat. Viele Menschen werden wachgerüttelt und sehen: Jetzt ist die Zeit zum Handeln! Wir könnten eine Art „Stunde null“ erleben, einen Wendepunkt hin zu einer besseren und insbesondere wirklich nachhaltigen Zukunft. Die Coronakrise als ideeller Katalysator sozusagen. Von daher ist es für ­Covestro genau der richtige Zeitpunkt, den Wandel zur Kreislaufwirtschaft anzustoßen. Und wir hoffen sehr, dass viele andere Unternehmen und Branchen aktiv mitziehen, auch wenn die wirtschaftliche Situation derzeit natürlich nicht unbedingt dazu angetan ist. Aber wir haben es hier ja mit einer sehr langen Reise zu tun.


Welche Rolle kann und muss die chemische Industrie, deren Wertschöpfungsketten bislang ja ­immer noch überwiegend auf fossilen Rohstoffen aufbauen, bei der zirkulären Wirtschaft einnehmen?

M. Steilemann: Genau das ist der Punkt. Unsere Branche ist sehr ressourcenintensiv, das heißt, sie benötigt große Mengen an Energie und Rohstoffen. Und die stammen noch weit überwiegend aus fossilen Quellen, Öl, Kohle und Gas. Damit verursacht der Sektor rund sieben Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Im Sinne des Pariser Klimaabkommens ist klar, dass sich hier etwas ändern muss. Hinzu kommt der Abstrahleffekt, den wir als Grundstoffindustrie auf die vielen anderen Branchen haben, die unsere Produkte benötigen: die Autoindustrie, das Bauwesen, der IT-Sektor, um nur einige zu nennen. Auch deren CO2-Bilanzen beeinflussen wir ja indirekt mit. Wenn die Chemie- und Kunststoffindustrie also auf alternative Rohstoffe umschwenkt und Kohlenstoff im Kreis führt, indem sie ihn aus Biomasse, Altmaterialien und CO2 bezieht, kann sie viel bewirken.


Welche Aspekte verbinden Sie mit dem Kreislaufwirtschaftsgedanken? 

M. Steilemann: Zirkularität bedeutet, dass sich unsere Konsumgesellschaft neu justieren muss, dass wir künftig anders produzieren, verbrauchen und entsorgen. Wir müssen weg vom Gedanken der Einmalnutzung, damit nicht unsere Ressourcen weiter schrumpfen und die Müllberge immer größer werden. Um es salopp zu sagen: die Ex-und-Hopp-Mentalität ist vollends unzeitgemäß. Sie und ich als Verbraucher müssen andere Verhaltensweisen und Gewohnheiten annehmen.

Die Wirtschaft steht vor der Aufgabe, ihre Lieferketten, Produktionsweisen und Produkte zu ändern. Kreislaufwirtschaft heißt: Güter mehrfach nutzen, Abfall vermeiden, unvermeidbaren Abfall als Ressource begreifen. Ferner gilt es, die Industrieproduktion letztlich klimaneutral zu machen, indem der Kohlenstoffkreislauf geschlossen wird. Nur so werden wir es schaffen, den Ressourcenverbrauch zu stoppen und dem Klimawandel Einhalt zu gebieten.


Plastikmüll in der Umwelt ist nicht akzeptabel. Aber er gelangt v. a. nach dem Gebrauch der Kunststoffe in die Natur, in Flüsse und Meere. In welcher Verantwortung steht hier die Kunststoffindustrie?

M. Steilemann: Wir haben es mit einem prinzipiellen Problem des Abfallmanagements zu tun, bei dem Kunststoffe nur der besonders augenfällige Teil sind. In den wohlhabenderen Regionen der Welt halten die Entsorgungssysteme nicht Schritt mit dem wachsenden Konsum, in anderen Gegenden sind sie allenfalls rudimentär vorhanden. Daher ist es zum einen nötig, die Infrastrukturen zu verbessern oder überhaupt erst aufzubauen. Zudem müssen die Menschen für das Thema sensibilisiert und in die Lage versetzt werden, etwas zu ändern. 

Gleichzeitig ist es nötig, neue Technologien für besseres Abfallmanagement und insbesondere Recycling zu entwickeln, während bestehende optimiert werden. Und natürlich müssen wir unsere Umwelt wieder sauber bekommen und den Müll Schritt für Schritt aus Flüssen und Meeren entfernen. All diese Ziele hat sich ein globales Firmenbündnis auf die Fahnen geschrieben – die Alliance to End Plastic Waste, zu deren Gründungsmitgliedern 

Covestro gehört. Es wird natürlich ein langer und mühsamer Weg, aber die ersten Erfolge stellen sich bereits ein.
 

Manche Teile der Gesellschaft sehen in Plastik den „Public Enemy Number One“ und fordern gar einen kompletten Verzicht auf Kunststoffe. Abgesehen davon, dass diese Forderung ziemlich weltfremd ist: Würde ein Verzicht der Umwelt und dem Klima helfen?

M. Steilemann: Ganz im Gegenteil – Kunststoffe sind Teil der Lösung und unersetzlich. Wir müssen aber die Art und Weise ihrer Entsorgung ändern: nämlich Kunststoffabfall und Altmaterialien künftig viel stärker als wertvolle Ressource und Molekülquelle betrachten und verwenden. Vorher, während ihrer Nutzungszeit, stiften Kunststoffprodukte einen hohen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Drei Beispiele: Kunststoffe machen Fahrzeuge leichter und reichweitenstärker, was Treibstoff spart. Sie dämmen Gebäude und senken so den Energiebedarf für Heizung und Kühlung. Und sie treiben die Nutzung erneuerbarer Energien voran, etwa indem Windkraftanlagen effizienter und kostengünstiger werden.


Für die Wiederverwertung gebrauchter Kunststoffe gibt es verschiedene Wege. Setzen Sie hier auf einen pragmatischen Ansatz oder ist es sinnvoll werkstoffliches gegenüber chemischem Recycling zu priorisieren und Quoten festzulegen?

M. Steilemann: Entscheidend ist zunächst, dass die Entsorgungssysteme und das Recycling insgesamt deutlich verbessert und ausgebaut werden. Derzeit werden ja rund 60 Prozent des Kunststoffabfalls weder verwertet noch verarbeitet. Bei den Recyclingtechnologien hat jede etwas für sich, je nach Art des Materials. Zum Teil gilt es, komplexe Herausforderungen zu lösen, etwa wenn das Altmaterial aus unterschiedlichen Kunststoffarten besteht und zudem stark verunreinigt ist. Auf jeden Fall ist aus unserer Sicht ein technologieoffener Ansatz wichtig. Covestro selbst möchte insbesondere das chemische Recycling voranbringen, weil wir hier unsere Kernkompetenz als Chemieunternehmen sehr gut einbringen können. 
 

Die meisten Kunststoffprodukte werden für den Gebrauch konstruiert und optimiert und nicht für das Recycling. Inwieweit kann man überhaupt Kompromisse bei – zum Teil sicherheitsrelevanten – Produkteigenschaften machen, ohne den Kreislaufwirtschaftsgedanken ad absurdum zu führen?

M. Steilemann: Künftig muss man in der Tat beim Produktdesign viel mehr vom Ende her denken. Es gilt, Kunststoffe von vornherein so zu konzipieren, dass sie nicht nur lange halten und oft verwendet werden können, sondern sich am Schluss der Nutzungsphase auch optimal ­recyceln lassen. Natürlich gibt es dabei zahlreiche Herausforderungen, aber die werden wir sicher meistern.
 

Welche Bedeutung spielen dabei und generell Kooperationen mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette?

M. Steilemann: Die Kreislaufwirtschaft ist ein gesamtgesellschaft­liches Transformationsprojekt, das sich nur gemeinsam verwirklichen lässt. Alle Stakeholder müssen an einem Strang ziehen, Gesellschaft, Politik, Wissenschaft, Investoren und selbstredend die Wirtschaft. Und innerhalb der Wirtschaft müssen wir sektorenübergreifende Koopera­tionen erreichen. Mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Nutzen und das Eintreten für die Bewahrung der Umwelt mit Wertschöpfung zu vereinen. Die Kreislaufwirtschaft bietet in dieser Hinsicht erhebliches Potenzial, und ich kann mir vielfältige neue Geschäftsmodelle und Kooperationsformen vorstellen.
 

Sind regulatorische Vorgaben wie die EU-Kunststoffstrategie zielführend oder setzen sie zu viel auf Verbote und Quoten und zu wenig auf Innovation? 

M. Steilemann: Wir brauchen auf EU-Ebene ein nachhaltiges Wachstumsprogramm, das für mehr Innovationen, Investitionen, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Chemie und natürlich darüber hinaus sorgt. Dirigismus und Verbote sind da der falsche Weg. 


Beim Recycling von Kunststoffen geht es darum, eine wertvolle Kohlenstoffquelle wieder zur Produktion neuer Werkstoffe nutzbar zu machen und den Verbrauch fossiler Rohstoffe und den damit verbundenen Ausstoß an CO2 zu verringern. Welche alternativen Rohstoffquellen für Polymere kommen unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit noch in Frage?

M. Steilemann: Genau, Kunststoffabfall und Altmaterial zu recyceln, den darin enthaltenden Kohlenstoff erneut zu nutzen und im Kreis zu führen, ist der eine Weg, um von fossilen Rohstoffen loszukommen und die Produktion umweltverträglicher zu machen. Andere vielversprechende alternative Rohstoffe zur Polymerproduktion sind Biomasse und neuerdings sogar Kohlendioxid selbst.


Welche Technologien zur Umwandlung von Biomasse in Rohstoffe sind bereits verfügbar?

M. Steilemann: Biomasse hat sich als nachwachsende Kohlenstoffquelle bewährt. So ist ihr Anteil in der Kunststoffproduktion zwischen 2008 und 2015 Studien zufolge von 11 auf 14 Prozent gestiegen. Wobei die Nahrungsmittelproduktion durch die Verwendung von Biomasse für Polymere grundsätzlich nicht beeinträchtigt wird, denn die Kunststoffproduktion benötigt nur einen Bruchteil der verfügbaren Ackerflächen. 

Technologisch ist es uns zum Beispiel gelungen, wichtige Komponenten für Auto- und Möbellacke herzustellen, deren Kohlenstoffanteil bis zu 70 Prozent aus Biomasse besteht. Und in unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung wird gerade daran gearbeitet, ein neues Verfahren in größere Dimensionen zu überführen, mit dem sich der Kohlenstoff in der Grundchemikalie Anilin komplett aus Pflanzen synthetisieren lässt.
 

Die Nutzung des klimaschädlichen CO2 als Kohlenstoffquelle zur Herstellung von Kunststoffen ist ein großer Schritt hin zu einer treibhausgasneutralen Wirtschaft. Wie realistisch ist es, diese „Dream Production“ wirtschaftlich zu betreiben?

M. Steilemann: Erste kommerzielle Produkte auf CO2-Basis werden ja bereits vertrieben – Schaumstoffe für Matratzen etwa und Kleber für Sportböden. An der Schwelle zur Marktreife stehen Textilfasern, die man zum Beispiel zur Produktion von Socken einsetzen kann. Es besteht deutliches Interesse am Markt für CO2-basierte Kunststoffe, weil unsere Kunden erkennen, dass sie damit nicht nur ihre eigene Klimabilanz verbessen, sondern auch dem zunehmenden Wunsch der Verbraucher nach umweltverträglich hergestellten Produkten nachkommen können. Aktuell beschäftigen wir uns bei Covestro mit Möglichkeiten für das Upscaling unserer Plattformtechnologie, was durchaus anspruchsvoll ist.
 

Es geht also um nicht weniger, als darum, die Kunststoffherstellung zu revolutionieren. Wie schnell kann diese Transformation vorangehen, wann werden wir überwiegend alternative Rohstoffe einsetzen? 

M. Steilemann: Der Wandel zur Kreislaufwirtschaft ist eine der ganz großen Aufgaben für Gesellschaft und Wirtschaft, und die Kunststoffbranche kann, muss und will helfen, sie zu lösen. Es wird aber nicht morgen und auch nicht übermorgen soweit sein, und es ändert sich auch nichts auf Knopfdruck. Alle müssen geduldig sein und beharrlich, mutig, kreativ und vor allem fest entschlossen, die Dinge zum Besseren zu wenden. Dann wird das mit der Kreislaufwirtschaft eine runde Sache.


ZUR PERSON
Markus Steilemann ist seit Juni 2018 Vorstandsvorsitzender von Covestro. Steilemann (Jahrgang 1970) studierte Chemie an der RWTH Aachen. Nach der Promotion stieg er 1999 beim Bayer-Konzern ein, wo er ab 2008 Führungspositionen im Geschäftsbereich Polycarbonates von Bayer MaterialScience, der Vorgängergesellschaft von Covestro, bekleidete. Von 2013 bis 2015 stand er an der Spitze des gesamten Segments mit Hauptsitz in China, wo er mehrere Jahre lebte. 2015 wurde Steilemann Mitglied des Vorstands von Covestro mit Verantwortung für den Bereich Innovation, zusätzlich leitete er ab 2016 den Geschäftsbereich Poly­urethanes. 2017 übernahm er als Chief Commercial Officer (CCO) die Verantwortung für die drei Segmente inklusive Innovation, Marketing und Vertrieb. 

 

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