"Gute" Chemie muss mehr als nachhaltig sein
Interview mit Prof. Michael Braungart, Chemiker und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts
Moderne Nachhaltigkeits- oder Ökoeffizienzanalysen betrachten die Auswirkungen eines Produkts auf seine Umwelt über den gesamten Lebenszyklus hinweg, sozusagen von der „Wiege bis zu Bahre".
Dem Chemiker und wissenschaftlichen Leiter des Hamburger Umweltinstituts, Prof. Michael Braungart, ist dies nicht genug: Er fordert mehr Ökoeffektivität statt Ökoeffizienz bei der Entwicklung von Produkten.
Mit seinem Umweltforschungs- und Beratungsinstitut EPEA berät er Unternehmen aus aller Welt bei der Umsetzung seines Prinzips „Cradle-to-Cradle" (von der Wiege zur Wiege).
Dr. Andrea Gruß sprach mit Prof. Braungart darüber, warum „gute" Chemie mehr als nachhaltig sein muss.
CHEManager: Herr Braungart, immer mehr Unternehmen entwickeln Produkte nach Prinzipien der „grünen" Chemie. Führt dies zu einer höheren Produktqualität?
Prof. Michael Braungart: Es gibt keine ‚grüne‘ Chemie, es gibt nur gute oder schlechte Chemie. Chemie, die sich in Lebewesen anreichert, hat ein Qualitätsproblem. Chemie, die Abfälle erzeugt, hat ein Qualitätsproblem. Das ist primitive Chemie.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Viele Kunststoff- und Papierverpackungen werden heute mit dem Pigment Grün 7 gefärbt, einem mehrfach chlorierten Kupferpigment, dessen Struktur dem Chlorophyll nachempfunden ist. Werden die Verpackungen verbrannt, entstehen dabei hochgiftige Dioxine. Oder: Wir haben in unserem Institut einen Fernseher untersucht, der über 4.000 verschiedene Schadstoffe enthielt. In Kinderspielzeug haben wir 600 Stoffe gefunden, die dort nicht hinein gehören. Ich nenne das ‚chemical harassment‘. Genauso wie es ‚sexual harassment‘ gibt, gibt es auch ‚chemical harassment‘.
Wie können wir Produkte herstellen, die uns weniger chemisch belästigen?
Prof. Michael Braungart: Es geht nicht darum, Dinge weniger schädlich zu machen. Statt weniger schädliche sollten wir nützliche Produkte entwickeln: Gesunde Produkte, die in biologischen oder technischen Kreisläufen geführt werden können und keine Abfälle erzeugen.
Also ‚nachhaltige‘ Produkte?
Prof. Michael Braungart: Nachhaltigkeit ist ein moralisierender Begriff. Aber immer wenn es uns schlecht geht, vergessen wir unsere Moral. Deshalb sollten wir von vorne herein auf Qualität und Schönheit setzen und nicht auf Nachhaltigkeit. Dann entstehen Innovationen.
Der Begriff Nachhaltigkeit ist auch langweilig. Es geht dabei immer nur darum, zu reduzieren, zu minimieren und zu sparen. Das heißt, alles wie bisher zu machen, nur eben weniger schlecht. Doch weniger schlecht ist noch lange nicht gut. Ich setze lieber auf intelligente Verschwendung.
Demnach müssen wir gar nicht energieeffizient oder klimaneutral sein?
Prof. Michael Braungart: Es geht um Effektivität, nicht um Effizienz. Es geht darum, das Richtige zu tun. Treppensteigen ist nicht energieeffizient, es kostet uns fünfmal mehr Energie als den Aufzug zu nehmen und ist dennoch besser für unsere Gesundheit.
Ein Baum ist nicht CO2-neutral oder versucht auch nicht - im Gegensatz zu vielen Unternehmen - seinen „Footprint" zu reduzieren, aber er ist nützlich, denn er säubert die Luft.
Die Biomasse der Ameisen ist etwa vier Mal größer als die der Menschen. Ihr Kalorienverbrauch entspricht dem von etwa 30 Mrd. Menschen. Und dennoch haben sie kein Überbevölkerungsproblem, denn sie sind intelligenter als wir. Sie produzieren keinen Müll.
Ist das auch der Ansatz Ihres „Cradle-to-Cradle"-Konzepts?
Prof. Michael Braungart: Ja. Anstatt von der Wiege bis zur Bahre denken wir bei Cradle-to-Cradle darüber hinaus, von der Wiege zur Wiege. Es geht darum, Produkte zu schaffen, die nach Ablauf ihres Lebenszyklus immer wieder vollständig in biologische oder technische Kreisläufe zurückfließen können. Damit gibt es nur noch zwei Arten von Produkten: Verbrauchsgüter, die wir bedenkenlos wegwerfen können, weil sie biologisch abbaubar sind, und Gebrauchsgüter, die sich vollständig recyclen lassen. Die Konsequenz ist eine Welt ohne Abfall, in der Menschen ohne Schuldgefühle konsumieren können. Davon profitieren wiederum die produzierenden Unternehmen.
Viele Produkte werden heute schon recycelt.
Prof. Michael Braungart: Aber nicht vollständig. Beim Altpapierrecycling wird z.B. nur der Zellstoff wieder verwertet. Druckfarben und Füllstoffe aus dem Papier bleiben nach dem Deinking-Prozess als toxischer Schlamm zurück, der dann verbrannt werden muss. Es gehen nicht nur wertvolle Rohstoffe verloren, sondern es werden auch neue Umweltrisiken produziert: Mit 1 kg Bio-Toilettenpapier können Sie z. B. 3 Mio. l Wasser verseuchen.
Die Firma Gugler hat daher die Inhaltstoffe ihrer Druckprodukte nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip für den Recyclingprozess optimiert, sodass keine Abfälle mehr entstehen und die beim Recycling anfallenden Schlämme als Dünger verwendet werden können.
Nennen Sie uns weitere Beispiele von Produkten und Unternehmen, die Ihr Konzept umgesetzt haben.
Prof. M. Braungart: Wir haben z.B. ein vollständig kompostierbares T-Shirt mit Trigema entwickelt, Feinstaub-bindenden Beton mit HeidelbergCement oder Teppichböden mit Desso, die nicht nur schadstofffrei sind, sondern auch die Luft säubern. Für den Airbus 380 entstanden essbare Sitzbezüge. Sie müssen nicht kostenintensiv als Sondermüll entsorgt werden, sondern finden gebraucht Verwendung als Torf.
Ich denke, dass etwa 20-40 % bestehender Produkte Cradle-to-Cradle fähig sind. Den Rest müssen intelligente Wissenschaftler und Designer neu erfinden.
Gibt es denn den notwendigen Nachwuchs dafür?
Prof. Michael Braungart: Wir haben leider als Folge der Chemieunfälle in den 1980er Jahren eine ganze Generation guter Wissenschaftler verloren. Viele haben sich damals von naturwissenschaftlichen Fächern wie Chemie oder Physik abgewandt und Jura oder BWL studiert. Um unsere Umwelt- und Ressourcenprobleme lösen zu können, benötigen wir jedoch die Besten der Besten und die bekommen wir am ehesten, indem wir intelligente Chemie machen, auf die wir stolz sein können.
Noch gibt es wenige „Cradle-to-Cradle"-Produkte. Wie können wir den Wandel beschleunigen?
Prof. Michael Braungart: Nicht durch Schuldmanagement oder Nachhaltigkeit; wir müssen uns positive Ziele setzen. Ich untersuche seit rd. 20 Jahren Gefahrstoffe in der Muttermilch. Wir finden etwa 2.500 Chemikalien darin. Keine einzige der Proben dürfte als Trinkmilch vermarktet werden. Ein Ziel, dass sich Unternehmen setzen könnten: In zehn Jahren stellen wir nichts mehr her, was sich in Muttermilch wiederfindet. Auf diese Weise ließen sich auch viele engagierte junge Chemiker gewinnen.
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Sehen Sie Prof. Michael Braungart im Interview mit Chemistry Views auf dem GDCh Wissenschaftsforum CHEMIE in Darmstadt vom 1.-4. September 2013.
>>> Michael Braungart: Seeking a Sustainable Future