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Globale Neujustierung von Material- und Wertflüssen

Bericht von der VCW-Jahreskonferenz 2022: Ziele und Strategien für den Rohstoffwandel und Innovation entlang der Wertschöpfungsketten

06.11.2022 - Deglobalisierung in einer vernetzten Welt, biogene Rohstoffe, konkrete Nachhaltigkeitsprojekte (zu Bioökonomie, Kreislaufwirtschaft und grünem Wasserstoff), Neujustierung in Asien: China und Japan als Partner, Langfriststrategien und Raum zum Wachsen in Green Tech Parks waren die Themen VCW-Jahreskonferenz 2022.

Jahrzehntelang kannte die Globalisierung nur den Weg nach vorn. Die letzten Monate haben gezeigt, dass die europäische Chemieindustrie sich nicht in zu starke Abhängigkeiten begeben darf. Wo müssen und wie können wir uns resilienter aufstellen, sodass nicht jede Knappheit von Rohstoffen und Energieträgern existenzielle Probleme aufwirft?

Durch den Green Deal der EU und die angestrebte Reduzierung von CO2-Emissionen wird sich die Energie- und Rohstoffbasis wandeln – ‚fossil‘ durch ‚nachwachsend‘ und ‚zirkulär‘ ersetzt werden. Damit werden sich die Rahmenbedingungen zur Wertgenerierung für die chemische Industrie neu justieren.

Die Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW) als Fachgruppe der GDCh agiert als Netzwerk an der Schnittstelle zwischen Chemie, Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaft und Gesellschaft und bietet ein Forum zur Diskussion der ökonomischen, ökologischen, sozialen und technisch-wissenschaftlichen Herausforderungen der Chemieindustrie und ihrer Partner. Die VCW-Jahreskonferenz brachte Mitte Oktober relevante Stakeholder aus Unternehmen, Forschung, Gesellschaft und Politik zusammen, um Ziele und Strategien für den Rohstoffwandel und für Innovationen zu beleuchten.

GDCh-Vizepräsidentin Carla Seidel (BASF) zitierte Berechnungen des Weizmann-Institutes, dass zum ersten Mal in der Geschichte die menschengemachte Masse die Biomasse auf der Erde übersteigt. Aus Sicht der chemischen Industrie tritt nach der Performance ihrer Produkte in der Anwendung nun die Nachhaltigkeit der Produkte in den Vordergrund.

Reshoring, Nearshoring und Friendshoring

Beispiele wie das im Suezkanal havarierte Containerschiff Evergiven, Feuer in Chipfabriken und der Covid-Lockdown zeigen, wie verletzlich unsere Wertschöpfungsketten in der globalisierten Welt sind. Der Anteil des Welthandels am Bruttosozialprodukt hat sich in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt, hauptsächlich durch den Aufstieg von Japan, Korea und China zu Industrienationen. Statistiken zeigen durch Einbeziehen der Handelsaktivitäten die Verlagerung der industriellen Wertschöpfung (insbesondere bei Elektro und Elektronik) nur abgemildert.

In der Chemie gibt es keinen signifikanten Trend zur Globalisierung, eher zur Regionalisierung. Durch die Verlagerung der Kundenindustrien verliert Europa aber globale Marktanteile. Reshoring (Rückverlagerung), Nearshoring (kostengünstigere Produktion in räumlicher Nähe) und Friendshoring (vermeiden von Risiken durch ideologische Feinde) sind die diskutierten Themen nach der Zerstörung der über 30 Jahre gültigen Sicherheitsordnung infolge des aktuellen Kriegsgeschehens. Für BASF-Chief Economist Peter Westerheide sind technologischer Fortschritt, die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit, das Unterbrechungsrisiko in den Wertschöpfungsketten und die neue geopolitische Unsicherheit Gründe für die Verlagerung von Produktion zurück in räumliche und politische Nähe. Allerdings werden wir keine vollständige Deglobalisierung sehen, weil die traditionellen wirtschaftlichen Argumente weiterhin gelten und weil für den Klimaschutz und für die geopolitische Stabilität Kooperation weiterhin geboten ist.

Biomasse als Rohstoffoption

Biomasse als Rohstoffoption liegt sehr verteilt vor und begünstigt lokale Aktivitäten. Dietmar Peters von der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR) stellte statistische Daten zur Biomassenutzung in Deutschland vor: Während um 1900 noch 25% für Pferdefutter reserviert war, dienen Futtermittel heute im Wesentlichen für die Milch- und Fleischerzeugung. Die Ernteerträge haben sich seither vervierfacht. Die industrielle und energetische Nutzung von Biomasse machen aber weiterhin weniger als 20% aus. Am Beispiel Polymilchsäure (PLA, einem Biopolymer mit ähnlichen Eigenschaften wie PET) wird klar: Würden alle heute in Deutschland eingesetzten Kunststoffe aus Biomasse erzeugt, würde eine Fläche benötigt werden, die größer ist als die heute zur Nahrungsproduktion gebrauchte Fläche. Diese steht sicherlich nicht zur Verfügung. Bereits heute importiert Deutschland rund zwei Drittel der nachwachsenden Rohstoffe für die stoffliche Nutzung aus anderen Ländern.

Die Industrie hat in einer Vielzahl von Projekten Biomasse als (lokale) Rohstoffquelle nutzbar gemacht: Clariant-CTO Richard Haldimann zeigte, wie der Spezialchemiekonzern Montanwachse durch einen Nebenstrom eines aus Reiskleie gewonnenen Öls ersetzt und mit einem neuen Verfahren (Sunliquid-Prozess) in Rumänien erstmals großtechnisch Ethanol aus Weizenstroh herstellt (2nd Generation Biofuel).

Neste hat bereits 1996 einen zu 100% aus Biomasse erzeugten Dieselkraftstoff in den Markt gebracht und seither seine Raffinerien zu über 90% auf Biomasse umgestellt. Joachim Dohm, Entwicklungsleiter bei dem finnischen Mineralölkonzern und Hersteller von erneuerbaren Kraftstoffen und Rohstoffen für die Chemie- und Kunststoffindustrie, sieht ein Potenzial, die mit dem NEXBTL-Prozess hergestellten Dieselmengen von heute 3,3 Mio. t mit der bestehenden Rohstoffbasis (Abfall- und Restströme) auf bis zu 40 Mio. t im Jahr 2030 zu steigern.

UPM hingegen baut in Leuna eine völlig neue Wertschöpfungskette ausgehend von Holz auf, um aus zellulosebasiertem Zucker Ethylenglykol für PET und für Kühlerflüssigkeiten sowie Monopropylenglykol für Kosmetika und für Enteisungsmittel herzustellen. Lignin wird zu einem funktionellen Füllstoff umgewandelt, um in verschiedenen Gummianwendungen eingesetzt zu werden. Die neue Bioraffinerie in Leuna umfasst nach Okko Ringena, Director Biochemicals Growth bei UPM, eine Investition von 750 Mio. EUR und soll planmäßig bis Ende 2023 fertiggestellt sein.

Wie die Bioökonomie technische Kohlenstoffkreisläufe schließen kann, wurde von Manfred Kircher, Vorstand des Vereins BioBall, erläutert: Kunststoffabfälle und Biomassen sind begrenzt verfügbar und verlustbehaftet: Von 13% Biomasseanteil an der Rohstoffmasse bleiben nur 4% an der Produktmasse übrig (nach Abtrennen von physikalisch und chemisch gebundenem Wasser). Deshalb muss in den 2040er Jahren auch in großem Stil auf CO2 als C-Quelle zurückgegriffen werden. Da dies sehr energieintensiv ist, sollte die stoffliche Verwertung von Reststoffen priorisiert werden: Organische Reststoffe im Müll, Grünschnitt und Klärschlamm sind mögliche Quellen, aus denen Wasserstoff bzw. Synthesegas gewonnen werden kann.

Für eine Reihe von Biomassen und Reststoffen wurden im Labormaßstab Verfahrenskonzepte entwickelt. Friedrich Gröteke vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz berichtete über Fördermöglichkeiten durch das BMWK, um schneller vom Labor in die industrielle Anwendung zu kommen. Gefördert werden können Demonstrationsanlagen und die Skalierung/Integration in Wertschöpfungsnetze von TRL 4 bis TRL 8. Daneben wird derzeit ein Programm für Klimaschutzverträge nach dem Ansatz der Carbon Contracts for Difference entwickelt, die die Betriebskostendifferenz zwischen herkömmlichen und klimafreundlichen Verfahren ausgleichen sollen.

Wasserstoffwirtschaft

Aus Sicht von René Manski (Geschäftsführer bei HOBUM Oleochemicals) müssen wir das fossile Zeitalter hinter uns lassen und den Wandel zur Nachhaltigkeit einleiten. Dabei muss die stoffliche Nutzung der Biomasse Priorität vor der energetischen Nutzung bekommen und darf keine zusätzlichen Mengenanforderungen an die Agrar- und Forstwirtschaft stellen.

Nach der stofflichen Nutzung ist bei sortenreinen Kunststoffen das mechanische Recycling möglich und sollte nach Dirk Langhammer, Vice President Strategy & Group Development bei Borealis, mit dem Design-for-Recycling-Konzept auch angestrebt werden. Es wird jedoch immer auch gemischte Kunststoffabfälle geben, die nur durch ein chemisches Recycling in den Kreislauf zurückgeführt werden können, z.B. mittels OMVs ReOil-Technologie.

Klimafreundlichere Verfahren in der Grundstoffindustrie setzen auf die Substitution von Erdgas durch grünen Wasserstoff (größter Hebel bei Ammoniak und Methanol). Das Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES ist Mitglied im nationalen Wasserstoffrat und verfügt über Forschungsinfrastrukturen für den Markthochlauf grüner H2-Technologien. Sylvia Schattauer hält es für erforderlich, diesen Markthochlauf mit der technologischen Neuorientierung der Chemieindustrie zu parallelisieren. Im Projekt Synlink werden die gemeinsame Elektrolyse von CO2 und Wasser zu Synthesegas, Direct Air Capture, die Methanolsynthese und die Fischer-Tropsch-Synthese mit der Total-Raffinerie in Leuna gekoppelt. Für eine zirkuläre Kunststoffwirtschaft sind außerdem Pyrolyse und Gasifizierung zu Steamcracker und Methanolsynthese weiter auszuarbeiten.

China und Japan sind laut Rolf Schmid (Bio4Business) starke Spieler bei der Nachhaltigkeit, die durch Kooperationen bei Ethanol und Wasserstoff noch stärker werden können: Der Anteil Chinas an der globalen Erzeugung „grüner Energie“ liegt bei nahezu einem Drittel (35% Wind, 32% Fotovoltaik, 30% Wasserkraft). Japan hat eine Wasserstoffstrategie und importiert bereits grünen Wasserstoff aus Australien. China liegt für Japan deutlich näher und könnte mit der geplanten H2-Produktion einer Provinz den Gesamtbedarf Japans decken.

Sofern es keine Drop-in-Lösungen sind, benötigen neue Lösungen auch Raum zum Wachsen: Astrid Lastic veranschaulichte bei der VCW-Jahreskonferenz, wie Merck den Standort Gernsheim zu dem GreenTech Park Fluxum entwickelt - auf dem Weg nach Übermorgen.

Autoren:
Wolfgang Huebinger, Adam Franz und Willis Muganda, BASF SE
Thorsten Lohr, Saint-Gobain Isover
Franziska Grün, Universität Heidelberg
Julian Vogel, Universität Ulm

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