Herausforderungen und Lösungsansätze für den Chemiestandort Deutschland
VCW-Jahrestagung 2024 vereint Politik, Industrie und Wissenschaft, Studienpreis Wirtschaftschemie verliehen
Spitzenvertreter aus Politik, Industrie und Wissenschaft trafen sich am 15. November in Münster zur Jahrestagung der Vereinigung für Chemie und Wirtschaft (VCW), einer Fachgruppe der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh). Unter dem Motto „Zukunftsweisende Investitionen in den Chemiestandort Deutschland“ standen drängende Fragen zu Versorgungssicherheit, globaler Wettbewerbsfähigkeit und der Transformation der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie im Mittelpunkt.
Als Dreiklang aus Konjunktur-, Transformations- und Wachstumskrisen skizzierte Simon Junker vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VfA) die aktuelle Lage. Diese Krisen erforderten differenzierte Maßnahmen, um Deutschlands Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, so Junker. Besonders dringend sei die Steigerung der Investitionen in Forschung & Entwicklung (F&E): Während Branchen wie Pharma über 10 % ihres Umsatzes in F&E investieren, liegt die Chemiebranche mit 2,5 % deutlich zurück.
Deutschland investiert zu konservativ und nicht langfristig orientiert genug. Investitionen sollen technologische Souveränität (wieder) herstellen. Um die gewaltige Investitionslücke zu schließen, müssen entsprechende Anreize geschaffen und der Kapitalstock modernisiert werden. Gleichzeitig muss die industrielle Skalierung beschleunigt und der Strukturwandel arbeitsmarktpolitisch organisiert werden. Nur so kann Deutschland zukünftig erfolgreich sein.
Kirsten Bender (Abteilungsleiterin Technologie und Wirtschaftsstandort, Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes NRW) möchte Anreize für eine Kreislaufwirtschaft für den Übergang von einer regulierenden hin zu einer ergebnisorientieren Steuerung schaffen. Es werden Breakthrough-Innovationen benötigt und in diese muss jetzt investiert werden. Bis möglichst 2035 soll die gesamte Stromversorgung in Nordrhein-Westfalen weitgehend klimaneutral erfolgen. Die Entwicklung leistungsfähiger Energiespeicher ist ein Kernschlüssel für die Transformation, weshalb das Land Nordrhein-Westfalen rund 320 Mio. EUR in die Batterieforschungsfabrik FFB in Münster investiert.
Batterieproduktion als Innovationsmotor
Simon Lux von der Fraunhofer Forschungsfertigung Batteriezelle (FFB) in Münster stellte die drei Phasen des Projekts vor: Workspace (2021–2024), PreFab (aktuell) und die für 2025 geplante Fab. Während in der PreFab manuell etwa 100 Pouchzellen pro Schicht gefertigt werden, soll die vollautomatisierte Fab mit einer Kapazität von 6,8 GWh/a Maßstäbe setzen.
Die FFB verfolgt ein zukunftsweisendes Geschäftsmodell, indem sie Unternehmen und Forschungseinrichtungen eine seriennahe Infrastruktur bietet. Hier können innovative Batterietechnologien unter industriellen Bedingungen entwickelt und getestet werden, ohne dass hohe Anfangsinvestitionen notwendig sind. Gleichzeitig adressiert die Lernplattform ELLB den Fachkräftemangel durch modulare Trainingsprogramme.
Die Erfahrung in der Skalierung der Batterieproduktion und Zusammenarbeit mit mittlerweile 42 Industriekunden wurde in einem Whitepaper zum Thema „Mastering Ramp-up of Battery Produktion“ veröffentlicht.
Europas Rolle im globalen Batteriemarkt
Der globale Batteriemarkt zeigt mit einer jährlichen Wachstumsrate von 34% bis 2030 ein enormes Potential (https://www.vdi-nachrichten.com/technik/automobil/explosion-der-batterienachfrage-bis-2030/). Chinesische Firmen wie CATL und BYD dominieren den Markt, bauen immer mehr Produktionslinien und punkten mit deutlich höheren Kapazitäten im Vergleich zu Europa. Währenddessen treten in den europäischen Batterieprojekten durch Abhängigkeiten in der Lieferkette von China, dem Mangel an Innovation und fehlenden Nachwuchskräften Schwierigkeiten auf. Für eine technologische Souveränität im Bereich der Energieunabhängigkeit werden in Europa rund 1,4 TWh für 2030 benötigt. Der Inflation Reduction Act (IRA) in den USA verstärkt die Standortkonkurrenz zusätzlich. Simon Voss von Bettere betonte, wie wichtig es sei, lokale Wertschöpfungsketten aufzubauen und durch internationale Kooperationen von Asiens Stärken zu lernen. .In seinem E-Mobility Innovation Podcast (https://bettere.technology/bettere-podcast/) spricht er mit Expert*innen über Technologien und neue Konzepte. Voss appelliert: „Wir sollten alles dafür tun, um eine europäische Batterieproduktion zu haben. Aber es muss zudem klar sein, dass es dahin auch einen Weg geben muss.“
In der Materialwertschöpfungskette in Europa ist zum gegenwärtigen Stand vieles nicht abgedeckt. Es gibt nur wenige lokale Optionen hinsichtlich Rohstoffe und Batteriematerialien. Ines Miller (P3 Automotive) sind neben der Rohstoffverfügbarkeit auch die fehlende operative Erfahrung, höhere Energie- und Personalkosten und die regulatorische Komplexität erschwerende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit.
Perspektiven für die Pharmaindustrie
Auch die Pharmaindustrie steht vor einem Paradigmenwechsel. Federico Pollano von Rentschler Biopharma und Ulrich Scholz von Boehringer Ingelheim betonten die Notwendigkeit flexibler, skalierbarer Produktionsprozesse und strategischer Netzwerke. Hohe F&E-Investitionen und eine enge Verzahnung von Entwicklung und Produktion sind entscheidend, um Innovationen effizient umzusetzen und Marktrisiken zu minimieren. Der Trend hin zur individualisierten Medizin ist für Rentschler eine Chance, um sich durch Innovation differenzieren zu können. Für Boehringer ist Geschwindigkeit der ausschlaggebende Faktor, wobei die klinische Entwicklung als kritischer Pfad das Tempo vorgibt: Von 20 Entwicklungen werden 19 bis zur Markteinführung eingestellt. Durch enge Verzahnung aller relevanten Strukturen konnte die Phase I von bisher 18 – 22 Monaten auf 13 Monate verkürzt werden.
Chemie in der Transformation: Klimaneutralität und Resilienz
Mit Investitionen in erneuerbare Energien, Wasserstoff und Energiespeicher wie der FFB soll Nordrhein-Westfalen seine Führungsrolle als Chemiestandort behaupten. Thomas Ludwig (Shell Energy and Chemicals Park) erklärte, wie die Rheinland-Raffinerie in Godorf und Wesseling mit mehr als 20 Projekten zu einem CO2-neutralen Energiecampus umgebaut wird: Ausgehend von einer Elektrolyseur-Pilotanlage soll 2027 eine 100 MW-Anlage zur Herstellung von grünem Wasserstoff in Betrieb genommen werden. Ergänzt wird die Transformation durch den Einsatz von Bio-Ölen und Bio-LNG, einer neuen Destillationsanlage sowie weiteren Infrastruktur-Investitionen in Digitalisierung, Automatisierung und Kreislaufwirtschaft.
Fazit: Tempo und Kooperation als Erfolgsfaktoren
Die VCW-Jahrestagung zeigte eindrucksvoll, wie wichtig Geschwindigkeit in der Entwicklung und bei der Umsetzung von Investitionen ist. Dafür ist es notwendig, Entrepreneurship und Risikobereitschaft stärker in der Gesellschaft zu verankern. Auch wenn die fachliche Ausbildung in Deutschland sehr gut ist, dauert sie an den Hochschulen lange. Ergänzend sind die Ausbildung in Industriekooperationen (Fraunhofer FFB) sowie Zuwanderung von Fachkräften nötig. Aufgrund der Akademisierung und der erhöhten Automatisierung findet nicht nur eine Transformation der Technologien und Anlagen statt, sondern auch der Belegschaft. Die Bürokratisierung wird vielfach als Störfaktor im Rennen um einen frühen Markteintritt empfunden.
Ein klares Bekenntnis der Politik zu den Technologien der Zukunft oft schmerzlich vermisst. Mitunter müssen auch die Behörden von den jeweiligen Unternehmen selbst ausgebildet werden, da keine Erfahrungswerte zu neuartigen Prozessen vorliegen. Innovationen finden oft in kleinen Strukturen wie Startups statt, welche gut im Prototyping sind. Corporates wiederum sind effizient, wenn es darum geht, nach Regelwerk arbeiten zu müssen und ein Marktvorprodukt in den Markt einzuführen. Partnerschaften bieten daher eine hervorragende Möglichkeit, das Risiko zu minimieren und die jeweiligen Stärken zu nutzen. Durch Innovationsgeist, Risikobereitschaft und gezielte Förderung kann Deutschland seine Schlüsselindustrien stärken und nachhaltig wettbewerbsfähig bleiben. Die Transformation des Chemiestandorts ist Chance und Aufgabe zugleich.
Autoren: Theresa Ludwig, Melanie Walther, Wolfgang Hübinger
Felix Zervas erhält Studienpreis Wirtschaftschemie 2024
Die VCW hat den mit 1.000 EUR dotierten Studienpreis für Wirtschaftschemie in diesem Jahr an Felix Zervas, Absolvent des Masterstudiengangs Wirtschaftschemie an der Universität Düsseldorf, verliehen. Der Preis würdigt die sehr guten Leistungen des Preisträgers sowie sein interdisziplinäres Engagement während des Studiums.
Felix Zervas beeindruckt mit seinen konstant herausragenden Noten: Sowohl sein Bachelor- als auch sein Masterstudium schloss er jeweils mit der Note von 1,0 ab. In seiner Masterarbeit beschäftigte er sich mit dem Thema "Performance model to describe influence of a builder system and surfactants in automatic dishwashing". Trotz der Pandemie war es ihm möglich, ein Auslandssemester in Maribor, Slowenien zu absolvieren. Gleichzeitig legte er großen Wert auf praktische Erfahrungen, wie Praktika bei Henkel, PwC und BCG zeigen. Für seine hervorragenden Leistungen wurde er bereits vielfältig ausgezeichnet, u. a. während des Studiums mit dem Deutschlandstipendium oder den Brenntag Award für den besten Masterabschluss. Außerdem wurde er in dem Young Talents Programm “Fast Forward” von BCG aufgenommen, wo er seit April diesen Jahres als Associate beschäftigt ist.
Die VCW gratuliert dem Preisträger sowie den weiteren Nominierten Sophie-Christine Janz, Anne C. Sehnal, Ann-Christin Seidl, Anna Sybrecht und Jonas Vonnahme zu ihren hervorragenden Leistungen und ihrem besonderen Einsatz auf verschiedenen Gebieten.
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GDCh - Fachgruppe VCW (Vereinigung für Chemie und Wirtschaft)
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