Den Transformationspfad zur Klimaneutralität proaktiv gestalten
VCW-Konferenz thematisiert Chancen und Risiken auf dem Weg zu einer Kohlenstoffdioxid-neutralen Chemieindustrie 2050
Trotz Corona-Pandemie steht die Umstellung auf eine CO2-neutrale Industrie weiterhin ganz oben auf der gesellschaftlichen Agenda. Auch die chemische Industrie trägt wesentlich zur industriellen CO2-Freisetzung bei. Gleichzeitig hat sich die Chemieindustrie über ihre Verbände zu dem Ziel bekannt, bis zum Jahr 2050 CO2 neutral sein zu wollen. Vor diesem Hintergrund beleuchtete die VCW – die Vereinigung für Chemie und Wirtschaft als Fachgruppe der Gesellschaft Deutscher Chemiker – auf ihrer Jahrestagung im November 2020, was der Umstieg auf eine CO2-neutrale Chemieindustrie bis 2050 erfordern würde.
Relevante Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik stellten den rund 200 Teilnehmern virtuell mögliche Strategien und Wege der Transformation vor und erörterten in verschiedenen Diskussionsformaten deren Chancen und Probleme: Welche Ansätze gibt es bereits heute? Welche unternehmerischen Chancen und Risiken sind mit den Transformationsprozessen verbunden? Auf welche Herausforderung müssen sich Unternehmen einstellen? Wie muss die Chemieindustrie mit Politik und Gesellschaft kooperieren, damit es gelingt, eine CO2-neutrale und global wettbewerbsfähige chemische Industrie in Deutschland und Europa zu schaffen?
Ein Blick in die Praxis
Drei typische Vertreter der deutschen Chemieindustrie – BASF, ein globaler Großkonzern mit zwölf verschiedenen Unternehmensfeldern, Covestro, ein führender Spezialchemiekonzern, und Infraserv Höchst, einer der größten europäischen Standortbetreiber von Industrieparks für chemische und pharmazeutische Unternehmen – stellten ihre Strategien und laufenden Programme zur Verringerung des CO2-Ausstosses vor. Dabei zeigte sich, dass eine CO2-neutrale chemische Industrie eine komplette Neugestaltung aller wichtigen Produktionsprozesse, Materialkreisläufe sowie eine gründliche Überprüfung der logistischen Strukturen verlangt. Darüber hinaus erfordert sie einen Quantensprung in der Nutzung nachwachsender Rohstoffe und Energieträger.
Aber jedes Unternehmen hat spezifische Schwerpunkte: BASF verfolgt das Ziel, bis zum Jahr 2030 ein CO2neutrales Wachstum zu realisieren. Dies bedeutet, dass bei einem angestrebtem Mengenwachstum die spezifischen Emissionen weiter sinken müssen: Von 2,2 Tonnen CO2pro Tonne Produkt, über 0,6 im Jahr 2018 auf 0,4 Wesentliche Stellschrauben für die Erreichung des Ziels des CO2neutralen Wachstums sind die weitere Steigerung der Energie- und Prozesseffizienz, der Einsatz erneuerbarer Energien für Strom- und Dampferzeugung sowie die Forschung zu sogenannten „Breakthrough Technologies“, denen insbesondere ab 2030 eine Schlüsselrolle zur weiteren CO2-Reduktion zugesprochen wird. Da gut 80 % der CO2Emissionen der BASF mit der für die Chemieproduktion erforderlichen Energieversorgung verbunden sind, erfordere eine deutliche CO2Reduktion die verlässliche Verfügbarkeit kostengünstiger erneuerbarer Energie.
Covestro betont auf dem Weg zur Klimaneutralität insbesondere die Bedeutung der zirkulären Wirtschaft für die Reduktion des CO2Ausstoßes: Es gälte, die Einmal-Nutzung in Konsum und Produktion zu beenden, Abfälle möglichst zu vermeiden und beständige Wertschöpfungszyklen aufzubauen. Das Management von Kohlenstoffkreisläufen, CO2als Rohstoff sowie verstärkter Einsatz biobasierter Materialien, Plastikrecycling sowie auch der Einsatz erneuerbarer Energien seien wesentliche Bausteine auf dem Weg zur Klimaneutralität. Hiermit einher gingen die Prüfung und Umsetzung neuer Geschäftsmodelle, welche die Kreislaufnutzung von Materialien in den Vordergrund stellen. Insgesamt formuliert Covestro den Anspruch, eine gestaltende Kraft der Kreislaufwirtschaft sein zu wollen und betont die Bedeutung innovativer, branchenübergreifender Partnerschaften für die unternehmerisch erfolgreiche Gestaltung des Transformationsprozesses.
Infraserv Höchst gestaltet die Transformation des Industrieparks in enger Abstimmung mit den Unternehmen vor Ort. Erstens sei die Infrastruktur zu gestalten: Durch die Energieproduktion vor Ort oder durch die Nutzung des nationalen Energienetzes müsse Energie nachhaltig, sicher und kostengünstig zur Verfügung stehen. Hierbei gewönnen erneuerbare Energiequellen an Bedeutung. Die Entsorgung biete die Möglichkeit der Umsetzung der Kreislaufwirtschaft mit z. B. Phosphorrecycling oder der Produktion von Biogas aus den industriellen Abfällen. Zweitens sei der Industriepark als Innovationscampus zu begreifen: Durch enge Kooperationen mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Start-ups werden Power-to-X-Technologien getestet und in die industrielle Produktion integriert. Und drittens seien auch regionale Cluster entscheidend für die Nutzung von Synergien. So werde bspw. der Wasserstoff aus dem Industriepark zukünftig auch für die Betankung von Regionalzügen genutzt. Für solche und weitere innovative Partnerschaften sei man offen.
Zusammenspiel der Akteure
Deutlich wurde: Die Transformation eines einzelnen Unternehmens wird nicht autonom und nur innerhalb der eigenen Werkstore gelingen; alle diskutierten Maßnahmen erfordern immer auch das Zusammenspiel mit anderen Akteuren. Die gemeinsamen, Unternehmens- und Ländergrenzen überschreitenden Herausforderungen der Transformation von Wertschöpfungsketten und Schaffung neuer Ökosysteme und Infrastrukturen müssen gesamthaft angegangen werden. Grüner Wasserstoff und grüner Strom müssen zu wettbewerbsfähigen Preisen verfügbar sein, nachwachsende und nachhaltig erzeugte chemische Rohstoffe ebenso. Die Lektionen aus dem Ausbau der Elektromobilität (viele neue E-Autos beim Händler, wenige Ladesäulen in der Fläche) sollten Ansporn genug sein, die Transformation nicht als Individualproblem nur eines Unternehmens oder einer Branche zu betrachten, sondern als branchenübergreifende Herausforderung, welche nur durch koordiniertes Handeln erfolgreich gemeistert werden kann.
Große Herausforderung und riesige Chance zugleich
Dabei bietet Europa, aber insbesondere Deutschland mit seiner tief verwurzelten Ingenieurs- und Wissenschaftskultur ein hervorragendes Umfeld, um Denkanstöße zu geben und hohe technische und wissenschaftliche Kompetenz in der Chemie und komplexen Produktionssystemen zu demonstrieren („Verbund“-Ansatz). Auf dieser Basis können innovative Produkte, Prozesse und Anlagen entstehen, welche die Wettbewerbsstärke der deutschen und europäischen Industrie nachhaltiger werden lassen. Systemisch angegangen, ergeben sich über das Leitmotiv der CO2-Neutralität im Jahr 2050 für die deutsche Industrie neue Wachstumsfelder für CO2-Problemlösungen und die dazu benötigte Anlagen. Die Exportnation Deutschland kann – bei richtiger Gestaltung des Transformationsprozesses - neue Impulse erhalten. Gleichzeitig dürfen überambitionierte Regulierungen nicht die Investitionen in Deutschland erschweren und eine Abwanderung der Industrie ins Ausland befördern.
„Die Exportnation Deutschland kann –
bei richtiger Gestaltung des Transformationsprozesses –
neue Impulse erhalten.“
Die Umstellung der Energie- und Rohstoffbasis der Chemieindustrie ist ein Innovationstreiber im operativen Kern der Branche mit vielfältigen Chancen. Aber auch Innovationen für neue Geschäftsmodelle z.B. durch die Gestaltung langlebiger und recyclebarer Produkte, durch digitale Services, wie z.B. die Erstellung digitaler Produktausweise, oder auch das Management von Chemikalien als Dienstleistung (chemicals as a service) können die Branchen grundlegend verändern.
Erfolg benötigt mehr als neue Technologien - neue Denkansätze sind erforderlich
Wegen des breiten Spektrums der betroffenen Interessengruppen müssen innovative Lösungen – seien es neue Technologien oder Geschäftsmodelle – durch Politik, Verwaltung und Gesellschaft legitimiert und gefördert werden. Ist diese gesellschaftliche Unterstützung nicht gegeben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass neue Geschäftsfelder nicht wirklich ihr Potenzial realisieren können Dies ist in Deutschland bspw. bei der Gentechnik oder beim Ausbau der Windkraft zu beobachten.
„Systemveränderungen von der Tragweite
der CO2-Neutralität für einen ganzen
Industriesektor erfordern eine neue Denkweise.“
Systemveränderungen von der Tragweite der CO2-Neutralität für einen ganzen Industriesektor erfordern nicht nur neue Technologien, sondern auch eine neue Denkweise. Sie muss externe Interessenvertreter aus Gesellschaft und Politik integrieren und sie in wichtige Entscheidungen einbeziehen - nicht nur in einem regulativen, risikominimierenden Geiste, sondern auch mit einem konstruktiv mitgestaltenden und mitbestimmenden Ansatz. Bereichsübergreifendes Denken, bei dem jeder Akteur auch die Rolle des anderen in seinem Kalkül berücksichtigt, ist gefragt. Es braucht „unternehmerisch denkende Politiker“, welche ökonomischen Implikationen ihres Handels umfassend berücksichtigen ebenso wie die „politisch denkenden Unternehmer“, welche den gesellschaftlichen Diskurs nicht als Bedrohung oder lästig empfinden. Und ebenso sollten zivilgesellschaftliche Akteure die Spezifika der Branche ebenso berücksichtigen wie die mit einer Transformation einhergehenden Risiken. Letztlich geht es bei der Gestaltung der Transformation um die richtige Geschwindigkeit („Timing“) und das Balancieren unterschiedlicher ökonomischer, ökologischer und sozialer Zielgrößen („Balancing“).
Joachim von Heimburg, stv. VCW-Vorsitzender
Hannes Utikal, Mitglied des VCW-Vorstands
Zusatzinformation
Die auf der VCW-Jahreskonferenz gezeigten Präsentationen sind auf der Internetseite www.gdch.de/VCW2020 abrufbar.
Das Thema der Transformation der Chemieindustrie wird in CHEManager International im Frühjahr 2021 thematisiert und weiter diskutiert.
Kontakt
GDCh - Fachgruppe VCW (Vereinigung für Chemie und Wirtschaft)
Varrentrappstr. 40-42
60444 Frankfurt am Main
Deutschland