Anlagenbau & Prozesstechnik

Dynamische Notfallpläne in der Gasmangelsituation

Schnell und flexibel reagieren

07.12.2022 - Die Gaskrise stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen – vorbeugend sollte man Notfallpläne aufstellen, um schnell auf verringerte Gaslieferungen reagieren zu können.

Seit 2020 befinden sich viele Unternehmen im Dauerkrisenmodus: Aufgrund der Coronapandemie kommt es zu stark gestiegenen Kosten und Versorgungsengpässen in der Supply Chain. Zudem spannt sich die Personalsituation weiter an – aktuell herrscht in einigen Unternehmen ein Krankenstand von bis zu 20 % in Produktion und Verwaltung. Gleichzeitig stellt die Gaskrise die Unternehmen vor neue Herausforderungen.

Es bestehen große Unsicherheiten hinsichtlich der Versorgung in den nächsten Monaten. Hinzu kommt, dass Standardnotfallpläne, die in den meisten Unternehmen vorliegen, hier kaum greifen. Daher gilt es nun, passende und flexible Notfallpläne aufzustellen, um schnell auf verringerte Gaslieferungen reagieren zu können – und das bei reduzierter Mannschaft.

Welche konkreten Maßnahmen die Bundesnetzagentur im Fall einer Gasmangelsituation ergreift, ist aktuell noch unklar. Momentan setzt sie auf die Förderung freiwilliger Einsparungen durch das sog. „Gasauktions-Modell“. Unternehmen können dabei freiwillig eine Verbrauchsreduktion bzw. -abschaltung zu selbst bestimmten Zeitpunkten auf einer Plattform anbieten. Diese Angebote werden dann im Falle eines Engpasses auktioniert und die günstigsten Angebote erhalten den Zuschlag.

Abschaltungen in der Notfallstufe

Sollte die Notfallstufe eintreten übernimmt die Bundesnetzagentur die Rolle des Bundeslastverteilers. In diesem Fall sind etwa 50 % des Gasverbrauchs für sog. geschützte Kunden (z. B. Krankenhäuser, Altenheime, private Kunden) vorgesehen. Für andere Industriezweige gibt es bisher keine festen Zusagen. Eine strikte Abschaltung nach Branchen ist aktuell jedoch nicht angedacht, es soll eine Abschaltung in Einzelfallentscheidungen bewertet werden. Hierbei werden Abschaltungen mit großen Einspareffekten bei kurzer Vorlaufzeit, möglichst geringen Schäden und geringen Einschränkungen der Versorgung der Bevölkerung bevorzugt. Dazu findet aktuell eine digitale Datenerhebung bei großen Gasverbrauchern (2.750 Firmen mit Anschlusskapazität > 10 MWh/h) statt. Diese soll als Grundlage zur Abwägung von Abschaltungen dienen. Zusätzlich gab die Bundesnetzagentur eine Vulnerabilitätsstudie zur Untersuchung von Lieferketten und Systemrelevanz in Auftrag, die bis Oktober abgeschlossen werden soll. Im Ernstfall erhalten Unternehmen und deren Gasversorger eine sog. „Bezugsreduktionsanweisung“ und werden so über die Reduzierung informiert. Zusätzlich finden stündliche Verbrauchskon­trollen durch die Gasversorger statt, die anschließend Rückmeldung an die Bundesnetzagentur geben.

Vor und während einer Gasmangelsituation gibt es für Unternehmen viele Möglichkeiten und Maßnahmen, um den möglichen Schaden zu begrenzen. Grundlegend ist hierbei zunächst einmal eine Artikelpriorisierung auf Basis des Deckungsbeitrags je Kubikmeter Gasverbrauch („Gas-DB“). Dieser berechnet sich wie folgt:

Gas-DB eines Artikels = (Artikelumsätze - variable Artikelkosten) / (Gasverbrauch des Artikels)

 

©   Bernhard Höveler, Höveler Holzmann

„Ein übergreifendes Krisenmanagement stellt ein effektives Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche sicher."

Bei der Ermittlung dieser Kennzahl ist darauf zu achten, dass in den variablen Artikelkosten der aktuelle Gaspreis verwendet wird. Der Deckungsbeitrag je m3 oder kWh Gasverbrauch bildet eine entscheidende Kennzahl für viele weitere Analysen entlang der Supply Chain, denn auf Basis dieser Kennzahl kann ein überproportionaler Teil des Deckungsbeitrags auch bei geringerer Gaszufuhr gerettet werden. Zusätzlich ermöglicht diese Priorisierung, sich flexibel auf unterschiedliche Gasversorgungsgrade einzustellen, da diese wie oben beschrieben aktuell nicht bekannt sind und möglicherweise im Zeitablauf auch stark schwankend sein können.

Neben dem Gas-DB gibt es noch zahlreiche weitere Faktoren, die zu berücksichtigen sind. So sollte auch die die Gasabhängigkeit der Supply Chain der Kunden mit der gleichen Akribie beleuchtet werden wie die eigene. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu überprüfen, inwiefern auch die Kunden weiterhin mit Gas versorgt werden. So sind bspw. Absätze an Kunden mit dem Status der „geschützten Kunden“ im Regelfall sicherer als Absätze an nicht geschützte Industriekunden, die wie bereits erwähnt bei der Gasverteilung nicht priorisiert werden. Es ist also notwendig, eine kundenbezogene Analyse durchzuführen, um sicher zu stellen, dass die priorisierten Verkaufsartikel auch priorisierte Beschaffungsartikel der Kunden sind.

Höveler

ABC-XYZ Analyse für den Aufbau von Fertigwarenbeständen

1 = ABC Kategorisierung von Fertigwarenartikeln nach Deckungsbeitrag (DB):

A →hoher Deckungsbeitrag

C → geringer Deckungsbeitrag

2 = XYZ Kategorisierung von Fertigwarenartikeln nach Kaufwahrscheinlichkeit vom Kunden:

X → hohe Kaufwahrscheinlichkeit

Z →geringe Kaufwahrscheinlichkeit

 

Die Kaufwahrscheinlichkeit des Kunden bestimmt darüber hinaus auch die sinnvolle Bestandsstrategie der Fertigwarenartikel. Hierzu können diese mit Hilfe einer ABC-XYZ Matrix strukturiert werden. Mit der Kategorisierung nach ABC wird dabei der Deckungsbeitrag der Fertigwaren beschrieben, mit XYZ jeweils die Kaufwahrscheinlichkeit vom Kunden in einer Gasmangelsituation. Anschließend werden Faktoren wie Lagerkapazitäten, Working Capital und artikelspezifischen Re­striktionen (bspw. Verderblichkeit, von Kunden geforderte Restlaufzeiten etc.) in die Analyse einbezogen, um Ziellagerbestand je Fertigwarenartikel zu definieren. Bei begrenzten Lagerkapazitäten sollte bspw. eine Priorisierung nach Deckungsbeitrag pro Palettenstellplatz durchgeführt werden. So kann nun bei Fertigwaren mit hohem Deckungsbeitrag und hoher Kundenkaufwahrscheinlichkeit schon vor einer Gasmangelsituation ein strategischer Bestandsaufbau betrieben werden.

 

©  Matthias Lütke Entrup, Höveler Holzmann

„Im Bereich der Produktion kommt es in der Krise vor allem auf die optimale Losgröße an."

Losgrößenoptimierung

Im Bereich der Produktion kommt es in der Krise vor allem auf die optimale Losgröße an. Durch klassische Rüst- und Reinigungszeiten, bei denen Gas verbraucht wird, gehen Produktionskapazitäten verloren. Es ist von wesentlicher Bedeutung, die aktuellen Losgrößen zu analysieren und gegebenenfalls zu vergrößern, um möglichst wenig Verlust bei Rüst- und Reinigungsvorgängen zu verursachen. Dazu kann bspw. ein spezielles Losgrößenoptimierungsmodell genutzt werden, das das klassische Losgrößenmodell um entgangene Deckungsbeiträge erweitert, die aufgrund von für Rüstvorgänge genutztem Gas nicht mehr erwirtschaftet werden können, da dieses Gas nun nicht mehr für die Fertigwarenproduktion zur Verfügung steht. Neben der neuen optimalen Losgröße können diese Modelle ebenfalls die finanziellen Effekte von abweichenden Losgrößen quantifizieren, da in der betrieblichen Praxis aufgrund z.B. von Schichtmodellen nicht immer die optimale Losgröße eingeplant werden kann.

Auch im Einkauf ist das Thema Gas­abhängigkeit relevant. Um keinen Produktionsausfall zu riskieren, sind bei hoher Gasabhängigkeit der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe alternative Lieferquellen und Spezifikationen zu untersuchen. Dazu muss jedoch zunächst die Gasabhängigkeit des eigenen Beschaffungsmarktes ermittelt werden. Auf Basis von Datenbanken ist eine länderbasierte Lieferantenklassifizierung problemlos möglich. Des Weiteren ist eine Ermittlung der Gasabhängigkeit je Artikel/Warengruppe nötig, denn es kann durchaus vorkommen, dass ein Artikel in einem Land mit großer Gasabhängigkeit beschafft wird, dieser Artikel jedoch möglicherweise keine große Gasabhängigkeit bei dem jeweiligen Lieferanten hat. Daraus ergibt sich anschließend eine Gasabhängigkeitsmatrix, mit deren Hilfe die Ergebnisse aus der Artikel- und Länder- bzw. Lieferantenklassifizierung aufzeigt und die dringlichsten Handlungsbedarfe identifiziert werden können. Bei hohen Abhängigkeiten geht es darum, möglichst zeitnah Risiken durch alternative Spezifikationen bzw. Lieferquellen zu reduzieren. Zeit ist hier ein kritischer Faktor, da mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Mitbewerber auf diese alternativen Lieferquellen zugehen werden.

 

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Gasabhängigkeitsmatrix für Materialien

 

Ein weiteres einkaufsbezogenes Thema ist – analog den Fertigwaren – die strategische Bestandssteuerung von Rohwaren. Dazu ist zunächst eine mehrstufige Stücklistenauflösung durchzuführen, um die oben beschriebene Priorisierung der Fertigwarenartikel nach Profitabilität und Sicherheit des Abverkaufs auf die entsprechenden Rohwaren herunterzubrechen. Zur Analyse der Rohwaren ist eine weitere ABC-XYZ Kategorisierung hilfreich. Dabei werden die Rohwaren zum einen nach ihrer Bedeutung für die kritischen Fertigwaren strukturiert (ABC), zum anderen fließt die Beschaffungsunsicherheit der Rohwaren in die Bewertung ein (XYZ). Strategische Bestände können nun bei den Rohwaren mit einer hohen Bedeutung für kritische Fertigwaren und hoher Beschaffungsunsicherheit aufgebaut werden, um in der Gasmangelsituation die kritischen Fertigwaren weiter produzieren zu können.

 

Höveler

Artikelpriorisierung auf Basis des „Gas-DB“

 

Implementierung

Nach der Analyse der vier Kernbereiche Vertrieb, Lager, Produktion und Einkauf geht es im nächsten Schritt um die Implementierung. Dazu stellt ein übergreifendes Krisenmanagement ein effektives Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche sicher. Hierzu ist wichtig,  zeitnah eine gemeinsame Taskforce im Unternehmen aufzubauen, um direkt handlungsfähig zu sein, wenn der Krisenfall eintritt. Die Taskforce sollte aus relevanten Entscheidungsträgern entlang der gesamten Supply Chain bestehen, um ein vernetztes Denken über alle Bereiche hinweg zu ermöglichen. Ziel muss es sein, verschiedene Krisenszenarien aufzusetzen und vollständig durchzurechnen, um schnell Entscheidungen im Gesamtoptimum treffen zu können. Auch die anschließende effektive und schnelle Kommunikation von Entscheidungen ist dabei ein weiterer Aufgabenbereich der Taskforce.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass aktuell nicht absehbar ist, wie die Gasversorgung in den nächsten Monaten aussehen wird. Daher sind schon jetzt dynamische Notfallpläne vorzubereiten, um in unterschiedlichsten Gasmangelsituationen schnell und flexibel reagieren zu können. Wichtig ist dabei ein vernetztes Denken zu entwickeln, um zu bewerten, welche sich untereinander beeinflussenden Effekte eine Gaskrise entlang der Supply Chain hat. Um diese dynamischen Wechselwirkungen gesamthaft in Einklang zu bringen, ist eine Taskforce mit Entscheidungsträgern der relevanten Funktionen empfehlenswert. So lässt sich ein Schaden für das Unternehmen zwar vermutlich nicht vollständig abwenden, das Schadensausmaß aber doch deutlich reduzieren.

Autoren: Bernhard Höveler, Gründer und Managing Partner, und Matthias Lütke Entrup, Partner, Höveler Holzmann, Düsseldorf

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