Auf der Suche nach der Pharmalösung von morgen
Die EU-Kommission hat das Pharmapaket auf den Weg gebracht. Es soll die Spielregeln der Branche für die nächsten Jahrzehnte neu definieren
Wer erhält unter welchen Bedingungen Zugang zu Arzneimitteln? Wie sehen die Rahmenbedingungen für die Pharmabranche in Zukunft aus? Diese und weitere zentrale Fragen soll das Pharmapaket beantworten, an dem die EU-Kommission seit geraumer Zeit arbeitet. Der Entwurf liegt seit Kurzem auf dem Tisch und geht nun in das Gesetzgebungsverfahren. Doch der erste Aufschlag ist nach Meinung von Pharmaverbänden und Fachleuten nicht gelungen. Viele Prozesse seien zu komplex, die Regulierung zu strikt.
Der Inhalt dieses Pharmapakets ist nicht wirklich sexy, kaum jemand wird leuchtende Augen bekommen, wenn er genauer hineinschaut. Und doch ist dieses Paket von großer Bedeutung, denn es soll auf mehreren hundert Seiten die Spielregeln der europäischen Pharmabranche für die kommenden 20 bis 30 Jahre definieren.
Kernziel der EU-Kommission ist es, den Rechtsrahmen für die Pharmaindustrie grundlegend zu überarbeiten und die inzwischen zwei Jahrzehnte alten Rechtsvorschriften für Humanarzneimittel auf einen aktuellen und zukunftsfähigen Stand zu bringen. Dabei geht es um Fragen, wie Medikamente für alle EU-Bürger zugänglicher und erschwinglicher gemacht werden können oder wie die Versorgung mit innovativen Medikamenten gewährleistet werden kann, insbesondere bei Erkrankungen, die bislang nicht behandelt werden konnten. Oder auch wie Therapien gegen seltene Erkrankungen neu geregelt werden und neue Anreizmechanismen für die Antibiotikaforschung entstehen können. Und nicht zuletzt geht es auch darum, die Zulassungsverfahren für Medikamente zu beschleunigen und flexibler zu machen.
EFPIA: Vertane Chance
Unmittelbar, nachdem Ende April der Entwurf der EU-Kommission vorlag, gingen auch die ersten Reaktionen darauf ein. So vermerkte der europäische Pharmaverband EFPIA, dass das Paket durchaus eine Vielzahl von Maßnahmen umfasse, die darauf zielten, die Entwicklung neuer Arzneimittel zu stimulieren. Ermutigt zeigt sich die EFPIA auch durch die Bemühungen um eine Vereinfachung und Harmonisierung des ergänzenden Schutzzertifikates (SPC), das eine Verlängerung des Patentschutzes von Arzneimitteln ermöglicht, sowie vom Einheitspatent.
Diese positiven Äußerungen können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass man beim europäischen Pharmaverband insgesamt enttäuscht ist über den Inhalt des Pakets. Der Gesetzesaufschlag, so das Fazit, sei eine vertane Chance.
EFPIA Generaldirektorin Nathalie Moll sieht das Dokument dabei im Kontext der Entwicklung, die die europäischen Biowissenschaften in den vergangenen beiden Jahrzehnten genommen haben. Deren Wettbewerbsfähigkeit habe abgenommen, während andere Teile der Welt aufgestockt hätten: „Die Investitionen in die pharmazeutische Forschung und Entwicklung sind im weltweiten Vergleich um 25 % zurückgegangen.“ In dieser Situation schwächten die EU-Vorschläge in ihrer Gesamtheit die Rechte am geistigen Eigentum und könnten nur zu einem weiteren Rückgang der Forschungsinvestitionen führen, die sich zunehmend in die USA und nach China verlagern. Das Gleiche gelte für klinische Studien und Produktionen, so Moll.
„Wir finden in Europa einen sehr komplexen regulatorischen und gesetzlichen Rahmen vor, der Innovationen eher bremst als befördert.“
Rainer Westermann, Chairman, Life Sciences Acceleration Alliance (LSAA)
Konkrete Kritik übt die Pharmalobbyistin am sog. Unterlagenschutz. Dabei geht es darum, dem Inhaber einer Arzneimittelzulassung einen Schutz vor Fremdnutzung seiner Studiendaten zu gewähren. Solange dieser Schutz gilt, darf ein Unternehmen, das die Zulassung für ein Generikum beantragt, sich nicht auf die Unterlagen des Originalherstellers berufen. Nach dem nun vorliegenden Kommissionsentwurf kann der Unterlagenschutz laut EFPIA jedoch kürzer ausfallen als bisher. Damit werde der Schutz des geistigen Eigentums bei innovativen Medikamenten in Europa geschwächt.
„Die Gesetzgebung wäre eine einmalige Chance, den europäischen Rechtsrahmen zukunftssicher zu machen, die Patienten zu schützen und eine Branche zu unterstützen, die für die europäische Handelsbilanz mehr wert ist als jede andere. Stattdessen sehen wir ein kompliziertes System, das für die Entwicklung von Arzneimitteln Hindernisse schafft, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt und die sich als Stolperstein für den medizinischen Fortschritt erweisen werden,“ so Moll.
„Leider überhaupt nicht gut“
Wenig schmeichelhaft äußert sich auch der deutsche Pharmaverband VfA: „In Kontinentaleuropa etabliert sich ein Regulierungsmuster, das sich vor allem durch eines auszeichnet: Durch Kompliziertheit! Das haben wir im letzten Jahr bei der deutschen Gesetzgebung im Gesundheitswesen gesehen, und jetzt sehen wir es bei dem Pharma-Maßnahmenpaket der EU wieder. Europa koppelt sich damit zunehmend von internationalen Entwicklungen ab und leistet sich obendrein noch den Luxus, keine Signale für einen innovationsfreundlichen Standort zu setzen. Das ist für eine Branche, die global aufgestellt ist, leider überhaupt nicht gut,“ sagt VfA-Präsident Han Steutel.
Und auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gibt sich ernüchtert. Zwar habe sich die EU-Kommission bemüht, wichtige Probleme anzugehen, z. B. bei der Versorgung mit Antibiotika. Auch die Bürokratie bei der EU-Zulassung von Medikamenten solle verschlankt werden. Hier sieht der VCI richtige Ansätze. Insgesamt betrachte man das Pharmapaket jedoch „mit großer Skepsis.“ VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup: „Statt die Innovationskraft der Arzneimittelhersteller zu boostern, hemmt die EU-Kommission die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen und deutschen Pharmastandorts. Das ist in Zeiten, in denen viele Staaten außerhalb Europas mit einer ausgeprägten Willkommenskultur um Zukunftsbranchen buhlen, geradezu sträflich.“ Und: „Das Ziel, die Versorgung mit neuen Medikamenten zu fördern, wird ganz klar verfehlt.“
Überregulierung löst Fluchtgedanken aus
Welche Folgen die komplexen Rahmenbedingungen in der deutschen und europäischen Pharmaindustrie haben können, zeigt sich nach Einschätzung von Rainer Westermann, Chairman der europäischen Investorenvereinigung Life Sciences Acceleration Alliance (LSAA), exemplarisch am deutschen Vorzeigeunternehmen BioNTech. Das hat zwar erfolgreich einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt, tat sich aber früh mit dem US-Pharmariesen Pfizer zusammen. Auch die Tatsache, dass BioNTech für die Entwicklung eines Krebsimpfstoffes nach England ausweicht, findet er bedenklich.
Warum das so ist? „Auf ein Wort reduziert lautet die Antwort: Überregulierung“, so Westermann. „Wir finden in Europa einen sehr komplexen regulatorischen und gesetzlichen Rahmen vor, der Innovationen eher bremst als befördert. Das beginnt beim Finanzierungszugang und geht bis hin zum Patentschutz“, so der Vertreter der Investorenseite.
So sind Forschung und Entwicklung nach seiner Erfahrung in Europa erheblich kostenintensiver als in anderen Märkten. Der Grund hierfür liege in einem komplexen Geflecht aus Kontrollen und Vorschriften, die zu den nationalen Anforderungen der einzelnen Mitgliedstaaten hinzukämen.
Investoren sind scheu, weiß Westermann. Bei Unsicherheiten fließe deren Geld schnell woanders hin. So hat die LSAA herausgefunden, dass US-Unternehmen im Jahr 2020 etwa elfmal mehr in ihre Forschung und Entwicklung investiert hätten als europäische Life-Sciences-Unternehmen. Darüber hinaus nähmen Venture-Capital-Firmen in Europa drei- bis viermal weniger Kapital auf als in den USA. Ohne Wagniskapital, so Westermann, können sich innovative Lösungen jedoch nicht entwickeln.
Hinzu kommt, dass sich Investoren in Europa einem zunehmendem Wettbewerb mit den USA, Südkorea, China und Indien ausgesetzt sähen. Dort stehe pro Finanzierungsrunde im Durchschnitt zwei- bis dreimal so viel Kapital zur Verfügung wie bei uns. Europäische Unternehmen, denen es an Kapital mangelt, würden sich daher vermehrt außereuropäischen Märkten zuwenden.
„Trübe Aussichten“
Da passt es ins Bild, dass Claus Michelsen, Geschäftsführer Wirtschaftspolitik beim VfA, die hiesige Pharmaindustrie auch realwirtschaftlich in Moll-Stimmung sieht. Die nachlassende Nachfrage nach Impfstoffen, die hohen Energie- und Vorleistungspreise sowie in erheblichem Maß die Einschnitte durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz setzten die Branche in Deutschland „massiv unter Druck“. Für 2023 rechnet er daher mit einem Minus von rund 5 % bei den Umsätzen und 1,7 % bei der Produktion. Dies zwinge die Unternehmen zu Rationalisierungsmaßnahmen. Damit werde auch der langjährige Aufwärtstrend bei den Beschäftigten jäh beendet. „Die Aussichten sind trüb“, so Michelsens Fazit.
Rezepte für eine Belebung
Um die europäische Biotech- und Pharmaindustrie wieder in Schwung zu bringen, schlagen die Investorenlobbyisten der LSAA mehrere Maßnahmen vor: So sollten sich die Mitgliedstaaten darauf fokussieren, Forschung und Entwicklung stärker steuerlich zu fördern und Erfolge zu belohnen. Frankreich habe dementsprechend die Steuergutschrift für Forschung und die Abgeltungssteuer eingeführt. Zudem sollte ein starker Schutz von Patenten und Daten implementiert werden, um risikoreiche Investitionen zu sichern. Außerdem plädiert die Vereinigung für eine verlängerte Nutzungsdauer von Patenten, um die Attraktivität von Investitionen zu fördern. Nicht zuletzt sollte eine größere Aufmerksamkeit auf Patienten gelegt werden, damit diese unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage so schnell wie möglich von Forschungsergebnissen profitieren können.
Gesetzgebungsverfahren wird dauern
Mit dem vorgelegten Entwurf geht das Pharmapaket in das Gesetzgebungsverfahren. Dabei muss es noch im Europäischen Parlament sowie im Ministerrat der Europäischen Union verhandelt und beschlossen werden. Das dürfte nach Meinung von Branchenkennern nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode geschehen. Damit bliebe also Zeit, das Paket noch einmal aufzuschnüren und die ein oder andere Seite umzuschreiben.
Thorsten Schüller, CHEManager
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