Das Ende der Krise ist der Anfang neuer Fragen
Chemieindustrie muss auf die neuen Anforderungen innovativ reagieren
Eine der schwersten Wirtschaftskrisen der jüngeren Geschichte ist zu Ende. Noch sind sich die Wirtschaftsinstitute nicht über das zu erwartende Ausmaß eines wieder einsetzenden Wachstums einig. Einigkeit besteht hingegen darin, dass die Börsen fester notieren, die Unternehmen in Umfragen zunehmend zuversichtlicher in die Zukunft schauen, und die Dienstleister inzwischen ein Anziehen der Nachfrage verzeichnen. Kurz: Die allgemeine Konjunkturstimmung wendet sich ins Positive.
Auch wenn der Impuls, die Vergangenheit schnellstmöglich abzuschütteln, stark sein mag - noch ist die Gelegenheit günstig, das Geschehene aus nächster Nähe zu betrachten, um auf die Anforderungen des Moments richtig zu reagieren und um den Blick für in der Zukunft liegende Gefahren zu schärfen.
Neue Perspektiven
Wir haben gesehen, dass eine Krise zum Wechsel der Perspektive eines Unternehmens auf sich selbst wie auch auf das Geschehen am Markt führen kann. Da wurde schnell erkennbar, dass herkömmliche Relationen in Zeiten der Krise keine Bedeutung mehr haben. Wie will man sich zur Vergleichsgruppe in Beziehung setzen, wenn die Marktteilnehmer in ihren Rollen nicht mehr identifizierbar, wenn Vorreiter keine Orientierungspunkte und schwache Mitbewerber nicht mehr auszumachen sind? Ein Aspekt, der sich durchaus ins Positive wenden lässt - nämlich als Chance für Innovationen, als Einladung, die Perspektive zu wechseln. Unter den für alle gleichermaßen geänderten Umgebungsbedingungen wachsen die Chancen, die eigene Position neu zu definieren. Die Parameter zur Bewertung von Wettbewerbsfähigkeit ändern sich. Herstellungskosten, Finanzierungsmodelle, Marktzugang etc. entscheiden nicht mehr nur über die Rangfolge eines Anbieters im Wettbewerb, sie werden vielmehr zu den Kriterien der Überlebensfähigkeit einer Unternehmung. Das bedeutet, die Art, wie ein Unternehmen seine Position am Markt verortet und wie es sein Verhältnis zur Konkurrenz definiert, entscheidet letztlich über Größe und Beweglichkeit seines Handlungsvermögens.
Ein Beispiel: So wie sich der Einbruch der Aufträge nach dem Einsetzen der Krise lehrbuchmäßig als Peitschenhieb wie eine Welle entlang der Supply Chain tief in die Chemiebranche ausbreitete, so bewegt sich das Wiederanziehen der Nachfrage nach dem Ende der Rezession wieder in die Gegenrichtung. Doch müssen wir gewarnt sein: Diese Bewegung verläuft nicht spiegelbildlich. Fest steht: Die globale Chemieindustrie wird sich grundsätzlich ändern. Und fest steht auch: Diese Veränderungen werden nicht plötzlich eintreten. Mittelfristig jedoch findet ein Umbruch statt.
Neue Wettbewerber
So wie die Wirtschaftsaktivitäten der BRIC-Länder im Zuge der einsetzenden Krise früher als bei den etablierten Volkswirtschaften einbrachen, so ziehen diese Aktivitäten dort nach dem Ende der Rezession auch schneller an. Die aufstrebenden Volkswirtschaften der Schwellenländer verzeichnen Wachstumsraten auf Rekordhöhe und bewähren sich sogar - wie wir im Moment beobachten können - als Motor für die Erholung der Weltwirtschaft. Eine starke Nachfrage in diesen Ländern treibt die Rohstoffpreise spürbar in die Höhe.
Die Chemieproduzenten in diesen Ländern profitieren von der raschen Erholung der Binnennachfrage. Mit einem allmählich gesundenden Heimatmarkt im Rücken machen sie sich auf den Weg in die westlichen Märkte und spielen hier die Vorteile ihrer modernen, großdimensionierten Anlagen aus. Unterstützt werden sie durch die expansive Wirtschaftspolitik ihrer Regierungen. China unterstützt mit seiner Investitionspolitik die Expansion seiner Wirtschaft, indem beispielsweise größere Akquisitionen im Westen geplant werden, um Devisenreserven nachhaltig anzulegen und die eigene wirtschaftliche Dominanz auszubauen. Die Golfstaaten lasten die entstehenden Kapazitäten der Petrochemie durch Absätze in Übersee aus und nutzen dabei signifikante Skaleneffekte. Was kann die westliche Chemieindustrie diesen Tendenzen entgegensetzen?
Schwerpunkte neu definieren
Am Ende der Krise stellen sich der westlichen Chemieindustrie also wieder neue Fragen. Längst nämlich gelten Parameter wie Kundennähe oder „Intellectual Property" im Vergleich mit den Schwellenländern nicht mehr, weil diese in der jüngsten Zeit mehr und mehr ernstzunehmende Wettbewerber werden. Außerdem haben sich mit den globalisierten Märkten eben auch die klassisch westlichen Wettbewerbsvorteile globalisiert. Noch gelten effizientere Produktion und höhere Qualität, aber auch bessere Umweltverträglichkeit und Innovationsfähigkeit als die Vorteile des Westens im internationalen Wettbewerb. Die neuen Fragen müssen also Fragen nach der Richtung von Forschung und Innovation sein, Fragen nach neuen Orten für Investitionen. Die Bewegung am weltweiten Chemiemarkt hat dazu geführt, dass der Westen die Schwerpunkte neu definieren muss, die zu entwickeln sich lohnt.
Die Zukunft stellt insbesondere in Commodity-Märkten hohe Anforderungen an die Fähigkeit zur Flexibilisierung von engagierten Unternehmen, an die Teilung von Risiken durch Vernetzung. Schon jetzt ist klar: Eine zunehmende Variabilisierung von Kosten und Kapazitäten wird im Westen den Break-even der Anlagenauslastung senken. Daneben werden flexibilisierte Verträge (keine auf 20 Jahre festgeschriebenen Take-or-Pay-Vereinbarungen mehr) zur Forderung nach flexibleren Reaktionen auf das Marktgeschehen führen. Gemeinsame Forschungsinitiativen verschiedener Unternehmen werden stärker an Bedeutung gewinnen als bisher. Bereiche, die nicht zu den Kernprozessen eines Unternehmens gehören, werden ausgelagert werden. Kapazitäten werden geteilt oder in Lohnfertigung gegeben, die Konzeption mehrstufiger Fertigung wird zur Aufteilung von Prozessen in einzelne Fertigungsstufen in verschiedenen Unternehmen führen.
Hier zeichnet sich klar die Forderung der Zeit ab: Der Westen muss seine Wettbewerbsvorteile in Bezug auf Ressourceneffizienz, Energieeffizienz sowie Umweltverträglichkeit der Produktion, Ausbeute sowie Anlagenverfügbarkeit und Instandhaltungskonzepte aufrechterhalten, mitunter sogar neu erwerben.
Auf innovationsstarke Technologien setzen
Die Krise hat die Abwanderung des verarbeitenden Gewerbes in die Schwellenländer nicht erzeugt, aber beschleunigt. Die Wirtschaftspolitik der Industrienationen muss für die Zukunft auf innovationsstarke Technologien wie Umwelt, Transportwesen, Telekommunikation oder Gesundheit ausgerichtet sein. Die klassischen Schlüsselindustrien wie Automobilbau und Metallverarbeitung werden in den westlichen Volkswirtschaften an Bedeutung verlieren. Wirtschaftszweige, die heute noch als integral angesehen wurden, werden morgen abgewandert sein.
Die jüngste Krise ist zu Ende. Eine anhaltende Spätfolge dieser Rezession jedoch wird sein: Der Wandel wurde beschleunigt. Für die Zukunft wird nun wichtig sein, rechtzeitig die Veränderungen der Nachfrage zu prognostizieren und gegebenenfalls Geschäftsmodelle anzupassen. Das ist die entscheidende Herausforderung für die westliche Chemieindustrie.
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