Die Chemie hadert mit dem Standort
Deutsche Chemieunternehmen leiden unter schwacher Nachfrage, hohen Energiekosten und überbordender Bürokratie
Die Chemieproduktion lag in den ersten sechs Monaten des Jahres um 16,5 % niedriger als im Vorjahr. Mit durchschnittlich 77 % waren die Kapazitäten der Branche bei Weitem nicht ausgelastet. Auch für das zweite Halbjahr 2023 sind keine Wachstumsimpulse in Sicht.
„Die Zahlen für das erste Halbjahr sind rot und die Produktionskosten am Standort Deutschland nicht wettbewerbsfähig“, kommentierte Markus Steilemann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie, die aktuelle Lage der deutschen Chemieindustrie. Die Hoffnungen der Branche, dass nach einem milden Winter und deutlich gesunkenen Gas- und Strompreisen eine Erholung einsetzt, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die Nachfrage nach Chemikalien nimmt ab. Besonders betroffen davon sind chemische Grundstoffe mit einem zweistelligen Minus. So lag die Produktion anorganischer Grundstoffe, zu denen z.B. Salzsäure, Natronlauge und Ammoniak zählen, um 26 % niedriger als noch ein Jahr zuvor.
Die Produktion von Petrochemikalien sowie Polymeren sank jeweils um ein Fünftel. Dagegen fiel der Rückgang bei Fein- und Spezialchemikalien mit 6 % vergleichsweise niedrig aus.
Matthias Zachert, Vorstandsvorsitzender, Lanxess
„In der aktuellen konjunkturellen Schwächephase ist der Standort Deutschland international nicht wettbewerbsfähig.“
Aufträge brechen ein
Die Auftragseingänge in der Chemieindustrie gingen seit über einem Jahr nahezu kontinuierlich zurück. Auch der Spezialchemiekonzern Evonik leidet unter der aktuellen Konjunktur. „Die Weltwirtschaft lahmt, und das bekommen wir zu spüren“, sagte Evonik-Chef Christian Kullmann Mitte Juli. „Derart schwache Absatzmengen haben wir lange nicht erlebt, über solch einen langen Zeitraum vielleicht noch nie“, so Kullmann. Der Umsatz des Essener Konzerns sank im ersten Halbjahr um 15 % auf 7,9 Mrd. EUR; das Ergebnis lag mit 859 Mio. EUR etwa 41 % unter Vorjahr, und das, obgleich das Unternehmen bereits Ende vergangenen Jahres strikte Sparmaßnahmen angesichts der drohenden Rezession eingeleitet hat. Durch einen Einstellungsstopp, Disziplin beim Einsatz von externen Dienstleistern und Einschränkungen bei Reisekosten will Evonik im laufenden Jahr 250 Mio. EUR einsparen. Zudem wurden Investitionen verschoben und das Jahresbudget dafür von 975 Mio. auf 850 Mio. EUR gekürzt.
Auch Covestro leidet wie der Rest der Branche unter niedriger Nachfrage, den hohen Lagerbeständen seiner Kunden und unter Preisdruck. Im ersten Halbjahr 2023 sank der Umsatz des Werkstoffherstellers um rund 1 Mrd. im Vergleich zum Vorjahr auf 3,7 Mrd. EUR (-20 %), das Betriebsergebnis vor Steuern (EBITDA) ging um 64 % auf 286 Mio. EUR zurück. „Wir sehen ein Licht am Ende des Tunnels“, sagte Markus Steilemann, Vorstandsvorsitzender von Covestro. Die Automobilindustrie zeigt einen positiven Trend, allerdings nur im Vergleich zum Jahr 2021.
Verglichen zum Vor-Corona-Jahr 2019 würden nach wie vor ein Fünftel weniger Autos verkauft. Bei anderen Kundenindustrien sei dagegen die Talsohle noch nicht erreicht. Bei Elektronik und Möbeln wird die Nachfrage noch weiter sinken und eine Trendwende in der Bauindustrie erwartet Steilemann erst für das kommende Jahr.
Auch bei BASF erwartet man aufgrund des starken Abbaus der Lagerbestände an Chemierohstoffen keine weitere Abschwächung im zweiten Halbjahr, aber auch nur eine zaghafte Erholung: „Wir gehen davon aus, dass die weltweite Nachfrage nach Konsumgütern schwächer wachsen wird als bisher angenommen. Damit werden auch die Margen unter Druck bleiben“, sagte Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender bei BASF, bei der Bekanntgabe der Zahlen zum ersten Halbjahr. Der Konzern hatte in den ersten sechs Monaten einen Umsatzrückgang von 19 % auf 37 Mrd. EUR und ein EBITDA von 4,7 Mrd. EUR (-33,6 %) verbucht.
Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender, BASF
„Die weltweite Nachfrage nach Konsumgütern wird schwächer wachsen als bisher angenommen.“
Chemieunternehmen drosseln Produktion
Nicht nur die Abschwächung der globalen Nachfrage, auch die gestiegenen Energiepreise in Europa zwingen die Chemieindustrie, ihre Produktion hierzulande zu drosseln. BASF hatte bereits Ende Februar dieses Jahres sowohl vorübergehende Drosselungen als auch dauerhafte Stilllegungen angekündigt. Wegen der hohen Gaspreise schließt das Unternehmen am Standort Ludwigshafen mehrere energieintensive Anlagen, darunter eine von zwei Ammoniakanlagen und die erst kürzlich in Betrieb genommene Anlage zur Produktion des Kunststoffvorprodukts TDI. Die Maßnahmen sollen bis zum Jahr 2026 200 Mio. EUR einsparen. Flankiert werden sie durch ein Sparprogramm mit Fokus auf Europa.
Der Chemiekonzern streicht 2.600 Stellen weltweit – davon zwei Drittel in Deutschland. Bis Ende 2024 sollen so weitere 500 Mio. EUR pro Jahr eingespart werden.
„In der aktuellen konjunkturellen Schwächephase ist der Standort Deutschland international nicht wettbewerbsfähig“, unterstreicht auch Matthias Zachert, CEO von Lanxess. Das Leverkusener Unternehmen verbuchte bei einem moderaten Umsatzrückgang von 6,4 % auf 3,7 Mrd. EUR im ersten Halbjahr ein Ergebnis von 296 Mio. EUR, das sind 46 % unter Vorjahr. Durch strikte Kostendisziplin und einen europaweiten Einstellungsstopp will Lanxess im laufenden Jahr 100 Mio. EUR einsparen. Darüber hinaus plant der Konzern die Schließung sehr energieintensiver Betriebe. Betroffen in Deutschland ist die Hexan-Oxidation am Standort Krefeld-Uerdingen. Sie soll bis 2026 stillgelegt werden.
Zudem soll der Betrieb für die Chromoxid-Produktion am gleichen Standort verkauft werden. Lässt sich dies nicht realisieren, drohe auch hier eine Schließung. An den verbleibenden 51 Betrieben in Deutschland will das Unternehmen festhalten. Sollten sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen aber weiter verschlechtern, könnten auch weitere Betriebe auf den Prüfstand kommen, sagte Zachert.
Neben diesen Beispielen verdeutlicht auch eine aktuelle Statistik der Internationalen Energie-Agentur (IEA), wie ernst die Lage der Chemieindustrie und anderer energieintensiver Branchen in Europa ist: Während der Stromverbrauch in den meisten Ländern der Welt in der ersten Jahreshälfte 2023 zugelegt hat, sank er in Europa erneut um 6 %; für das Gesamtjahr wird ein Rückgang von 3 % vorhergesagt. Damit würde der Stromverbrauch in der EU zwei Jahre in Folge in einem Ausmaß sinken, wie es seit Gründung der Gemeinschaft noch nie vorgekommen ist. Hauptgrund dafür ist die Drosselung energieintensiver Produktionen aufgrund hoher Energiekosten. Aktuell sind die Energiepreise in Deutschland um den Faktor zwei bis vier höher als in China und vier bis fünfmal so hoch wie in den USA.
Das belastet insbesondere die deutsche Chemie und könnte zu einer dauerhaften Abwanderung von Produktionskapazitäten führen. Weniger Produktion bedeutet jedoch auch weniger Umsatz und Erträge für die Chemieindustrie, und damit weniger Einnahmen für den Staat, der wiederum geringere Mittel für Investitionen zur Verfügung hat. Letztlich gefährdet die aktuelle Situation nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, sondern auch die Transformation zur Klimaneutralität. „Die Chemieindustrie ist der erste Dominostein, der wackelt. Wenn es uns am Anfang der Wertschöpfungskette schlecht geht, trifft es bald auch andere“, erklärte Steilemann. Der Erhalt einer starken Chemiebranche in Deutschland ist notwendig, damit der Strukturwandel überhaupt gelingt. Denn High-Tech-Chemikalien aus Deutschland sind die Enabling-Technologien bspw. für Batterietechnik, aber auch für Chips und Halbleiter und für die Energie- und Mobilitätswende.
Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender, Evonik
„Die Weltwirtschaft lahmt, und das bekommen wir zu spüren.“
Die Wirtschaft wächst wieder, aber nicht in Deutschland
Die aktuellen Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für das laufende Jahr unterstreichen den negativen konjunkturellen Trend in Deutschland. Danach soll die Wirtschaftsleistung in allen großen Nationen zulegen: in China um 5,2 %, in den USA um 1,8 %, in der Euro-Zone um 4 %, und auch für das durch Sanktionen belastete Russland wird ein Wachstum von 1,5 % vorhergesagt. Allein Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft, taumelt zwischen Stillstand und Rezession (-0,3 %).
Dabei ist nicht die aktuelle konjunkturelle Flaute das größte Problem der Wirtschaft. Gravierend sind die dauerhaften Herausforderungen, vor denen die Unternehmen stehen und die sich nicht schnell aus der Welt schaffen lassen. „Der Glaube an den Standort Deutschland schwindet.
Wir sind keine notorischen Schwarzseher, aber das Klumpenrisiko aus hohen Energiepreisen und Unternehmenssteuern, schlechter Infrastruktur, Fachkräftemangel, Digitalisierungsstau und Bürokratiewahnsinn raubt unseren Unternehmern die Zuversicht“, sagte Steilemann.
Und weil momentan langfristige und kurzfristige Probleme zusammenkommen und der internationale Wettbewerb immer drückender wird, geraten derzeit einige Chemieunternehmen in Existenznot. Bei einer Mitgliederbefragung des Brancheverbands VCI im Juni 2023 berichtete jedes sechste Unternehmen von Verlusten oder gar einer drohenden Insolvenz.
Neben den hohen Energiekosten bereiten den Mitgliedsunternehmen vor allem die strukturellen Defizite des Standorts Deutschland große Sorgen. 80 % bewerten laut VCI-Befragung den Bürokratie- und den Regulierungsaufwand als erheblichen Standortnachteil. Nie zuvor war dieser Wert so hoch. In Brüssel würden gerade etwa 12.000 bis 15.000 Seiten Gesetzestexte vorbereitet, die die Chemiebranche betreffen, visualisiert Steilemann die Dimension des Problems. Auch bei den Genehmigungsverfahren sieht die Einschätzung der Mitgliedsunternehmen düster aus.
Das macht sich insbesondere beim Ausbau erneuerbarer Energien bemerkbar. „Deshalb muss die Koalition jetzt schnellstmöglich handeln, damit Deutschland nicht zum Abstiegskandidaten wird“, fordert Steilemann.
Markus Steilemann, Präsident, VCI
„Die Chemieindustrie ist der erste Dominostein, der wackelt.“
Unser Land steckt fest
Deutschland steckt fest. Es braucht mehr als einzelne Maßnahmen, sondern weitreichende Reformen, um den Industriestandort fit zu machen, sodass die deutsche Wirtschaft auch in Zukunft im globalen Wettbewerb bestehen kann. Forderungen nach einer Zeitwende oder einer Agenda bzw. Offensive 2030 kommen auf. Oder, um es mit den Worten von Roman Herzog zu sagen: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen.“
Der damalige Bundespräsident forderte vor über 25 Jahren – als das wiedervereinte Deutschland in einer Sackgasse feststeckte – die Deutschen dazu auf, die verkrusteten Strukturen in ihrem Land zu überwinden. Die Bürger hätten eine Bereitschaft zu Reformen, beobachtete er, aber es bräuchte politische Führung, echtes Charisma, um sie zu mobilisieren. Eine zeitlose Forderung.
Autorin: Andrea Gruß, CHEManager