Innovation durch Vernetzung
Dr. Hanno Brandes, Management Engineers: Chemieindustrie muss ihre Schlüsselposition ausspielen
Die aktuellen Umsatzzahlen der chemischen Industrie lesen sich immer noch mehr als erfreulich. Die Branche besitzt eine Schlüsselfunktion für die wirtschaftliche Umsetzung von Zukunftstechnologien. Aber nur durch eine Vernetzung klassischer Branchen und die Verlinkung traditioneller Disziplinen werden Schnittstellen zu Schnittmengen. Das sagt Dr. Hanno Brandes, Geschäftsführer bei Management Engineers.
Dr. Michael Reubold fragte ihn, was die aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen für die chemische Industrie bedeuten und welche Herausforderungen und Chancen sich daraus ergeben.
CHEManager: Herr Dr. Brandes, angesichts der sich ausweitenden Schuldenkrise stellt sich aktuell die Frage: Stehen wir vor einem Absturz der weltweiten Chemiekonjunktur?
Dr. Hanno Brandes: Wir erleben gerade eine spannende Phase - mit durchaus offenem Ausgang. Viele Unternehmen produzieren an ihrem absoluten Limit. Das Jahr 2011 wird mit Sicherheit vielerorts neue Produktions- und auch Ergebnisrekorde bringen. Wenn jedoch die Störfeuer der europäischen und amerikanischen Schuldenkrise nicht bald nachlassen, wird dies auch realwirtschaftliche Konsequenzen haben.
Wie würden diese Konsequenzen aussehen?
Dr. Hanno Brandes: Unter Ökonomen kursiert derzeit der Vergleich mit einem Hühnerstall: „Herrscht dort Lärm und Hektik, dann legen die Hühner keine Eier." Sprich: Die große Unruhe auf den Finanz- und Kapitalmärkten verleidet den Haushalten nach und nach ihre Konsumlaune und den Unternehmen ihre Investitionsbereitschaft. Irgendwann ist dann der kritische Punkt erreicht, wo wir dem Abschwung ins Auge sehen müssen. Doch selbst, wenn dieser ähnlich abrupt ausfallen würde wie vor drei Jahren; die Unternehmen aus der Chemiebranche sind dafür heute mehrheitlich besser gerüstet.
Woher nehmen Sie diese Zuversicht?
Dr. Hanno Brandes: Speziell die deutschen Unternehmen haben aus der vergangenen Krise viel gelernt. Kosten wurden gesenkt, das Working Capital optimiert und die Wettbewerbsfähigkeit massiv verbessert. Das alles gibt viel Kraft für schlechtere Zeiten.
Was können Sie als Managementberater dann noch empfehlen?
Dr. Hanno Brandes: Raum und Notwendigkeiten für weitere Verbesserungen gibt es reichlich. Es heißt, wachsam, flexibel und innovativ zu bleiben - mit mindestens drei Zielsetzungen vor Augen: Erstens, das Unternehmen im aktuellen konjunkturellen Höhenflug möglichst erfolgreich zu steuern, zweitens, es danach möglichst weich zu landen, und drittens, schon jetzt die strategischen Koordinaten für einen erneuten Höhenflug abzustecken.
Welche Handlungsfelder gilt es dabei zu bestellen?
Dr. Hanno Brandes: Im Boom muss die Nachfrage pünktlich und vollständig bedient werden. Es hört sich trivial an, aber viele Unternehmen sind dazu aufgrund akuter Kapazitätsengpässe nicht in der Lage. Schmerzlich ist dies vor allem deshalb, weil dadurch (potenzielle) Kunden verprellt werden - und zwar gerade jetzt in einer Marktphase, die noch immer viel Spielraum für ein offensives Pricing und damit hohe Margen bietet. Fehlende Liefersicherheit ist insbesondere für Abnehmer aus dem Pharmabereich, aber auch im Automobilsektor ein „Totschlagkriterium". Sie werden nicht so leicht zurückzugewinnen sein.
Schnelligkeit und Verlässlichkeit sind also die Gebote der Stunde?
Dr. Hanno Brandes: Kurze Reaktionszeiten sind immer ein entscheidender Wettbewerbsvorteil - im Boom, wie in der Rezession. Beim Pricing rasch und marktgerecht reagieren zu können, ist im Hinblick auf die eigene Gewinn- und Verlustrechnung stets Gold wert. Eine enge, nachfrageorientierte Kopplung von Einkauf, Produktion und Vertrieb muss hinzukommen. Es gilt, den Wettbewerb dort zu schlagen, wo die Ertragshebel besonders groß sind.
Aber neue Kapazitäten lassen sich trotzdem nicht von heute auf morgen ausbauen, um eine plötzlich steigende Nachfrage zu bedienen...
Dr. Hanno Brandes: ... und genau deshalb müssen Produktion und Supply Chain so flexibel wie möglich gestaltet werden. Es ist ein Höchstmaß an Wendigkeit gefragt, um dynamisch auf Nachfrageänderungen reagieren zu können. Die statische Alternative könnte ja darin bestehen, in ruhigeren Zeiten auf Vorrat zu produzieren, wie es zum Teil ja auch Usus ist. Doch mit einem Lagerbestand, der ein Jahr oder länger reicht, treibt man das Working Capital natürlich in astronomische Höhen.
Was muss konkret getan werden?
Dr. Hanno Brandes: In der Produktion bedarf es der steten Annäherung an das so genannte Flusskontinuum - also den optimierten Einsatz aller Ressourcen. Hierzu müssen komplexe Prozesse synchronisiert werden, was eine Verzahnung technischer und betriebswirtschaftlicher Kompetenzen bedingt. Wir erzielen in solchen Beratungsprojekten regelmäßig Kosten- und Zeitersparnisse im zweistelligen Prozentbereich. Doch so wichtig diese operativen und kurzfristig messbaren Erfolge auch sind, ich sehe darin nur die halbe Miete.
Auch die Planungs- und Entscheidungsstrukturen gehören auf den Prüfstand. Und das ist eine strategische Aufgabe. Konkret geht es um eine Abkehr vom vielfach praktizierten Top-down-Prinzip, bei dem die Produktionsziele relativ abstrakt aus den übergeordneten Vertriebszielen eines Unternehmens abgeleitet werden. In der operativen Umsetzung ergibt sich daraus fast zwangsläufig eine Flut kleinerer „Problemchen". Jedes für sich genommen ist nicht spektakulär. In der Summe bilden sie jedoch einen Staudamm der Komplexität, der effizientes, flexibles und damit nachfrageorientiertes Produzieren häufig unmöglich macht.
Wie kann eine Alternative aussehen?
Dr. Hanno Brandes: Es gilt, Mitarbeiter aus möglichst vielen Bereichen - also mindestens Einkauf, Produktion und Vertrieb - in den Planungs- und Entscheidungsprozess zu integrieren. Ein solches Bottom-up-Vorgehen erfordert zwar ein Mehr an Kommunikation, es fördert aber auch ein Mehr an Reflexion und Interaktion. So entsteht längs durch alle hierarchischen Ebenen und quer durch alle Bereiche eine kollektive Lernkurve, die sämtliche Ergebniszahlen mit nach oben zieht. Die gesamte Wertschöpfungskette profitiert.
In unserer globalisierten Welt kommt es aber doch vor allem auch darauf an, wo produziert wird.
Dr. Hanno Brandes: Absolut, und zwar längst nicht nur aus dem Kostenmotiv, sondern vor allem mit dem Ziel der Kundennähe. Die asiatischen Schwellenländer - und hier insbesondere China - haben eine unglaubliche Magnetwirkung. Sie haben das größte Wachstumspotential, aber sie sind in ihrer Nachfrageentwicklung auch unberechenbar. Vor allem in den Endkundenmärkten fehlt es verbreitet an einer verlässlichen Markenbindung, wie wir sie aus Europa kennen. Deshalb muss das lokale Produktions-, Beschaffungs- und Vertriebsnetz nicht nur auf Leistungsfähigkeit und Kosteneffizienz getrimmt werden, sondern vor allem auf Anpassungsfähigkeit an immer neue Marktkonstellationen.
Aber steigt die Komplexität eines solchen Systems, die es ja eigentlich zu reduzieren gilt, dadurch nicht ins Unermessliche?
Dr. Hanno Brandes: Diese Gefahr besteht - zumal es in der Chemie viele Unternehmen gibt, die in über 100 Ländern aktiv sind. Eine weit verzweigte Lokalisierung ihrer Aktivitäten würde die Komplexitätskosten in die Höhe treiben und zudem Bündelungsvorteile vernichten. Die Kunst liegt darin, regionale und globale Wertschöpfungsketten zu definieren und nachhaltig kosteneffizient miteinander zu synchronisieren. Das wird insbesondere dann zum Erfolgsfaktor, wenn die Nachfrage plötzlich einbricht. Denn dann muss ja die bereits angesprochene „weiche Landung" eines Unternehmens gelingen.
Dann bleibt noch der dritte von Ihnen angesprochene „Top-Job", nämlich das Unternehmen strategisch für einen neuen Höhenflug vorzubereiten.
Dr. Hanno Brandes: Dies ist natürlich eine Daueraufgabe, bei der das Thema Innovation ganz oben auf der Agenda stehen muss - und zwar nicht als Selbstzweck, sondern gezielt ausgerichtet auf globale Megatrends und die daraus resultierenden Nachfragebedürfnisse. Die chemische Industrie in Deutschland hängt zu 80 % an anderen Branchen. Da bringt ein Agieren im luftleeren Raum überhaupt nichts. Ein tiefes Verständnis der Abnehmer und ihrer Märkte ist gefragt.
Die chemische Industrie besitzt auf vielen Feldern eine Schlüsselfunktion für die wirtschaftliche Umsetzung von Zukunftstechnologien. Nehmen Sie das Beispiel Elektromobilität. Ohne eine entscheidende Verbesserung der Batterietechnologie geht hier gar nichts. Die Chemie hält das Steuer in Händen, z.B. wenn es darum geht, leistungsfähige Materialien für die Elektroden, Separatoren und Elektrolyte von Lithium-Ionen-Batterien bereitzustellen. Sie muss das Elektroauto in die Rentabilität fahren.
Ganz ähnlich ist die Situation übrigens beim Thema Brennstoffzelle. Auch hier treiben führende Firmen der Chemie die Forschung an Nanomaterialien, an hoch präzisierten Verfahren zur Beschichtung der Membrane und an geeigneten Elektroden voran.
Und beim Thema Leichtbau kann die Chemie zusätzlich punkten.
Dr. Hanno Brandes: Sie sprechen da eine ganz entscheidende Disziplin an. Ohne Leichtbau kein Elektroauto, auf diesen kurzen Nenner lässt es sich bringen. Denn Batterien werden auch künftig etliches auf die Waage bringen, dieses Gewicht muss an anderer Stelle eingespart werden. Die Automobilindustrie braucht im Grunde einen „Weight Watcher", und Werkstoffe wie Carbon können ein ganz entscheidender Bestandteil dieser Diät sein.
Entscheidend ist das Miteinander. Nur die Vernetzung klassischer Branchen und die Verlinkung traditioneller Disziplinen führen zu mehr Erfolg. Das Thema Carbon ist hierfür ein gutes Beispiel. Denn noch erfordert die Verarbeitung viel kostenintensive Handarbeit. Um hier den notwendigen Übergang zu einem großvolumigen, automatisierten Herstellprozess zu schaffen, können Verarbeitungstechniken in Form textiler Preform-Verfahren genutzt werden, die eine Faserverarbeitung im Minuten- statt im Stundentakt ermöglichen. Dies zeigt: Erst durch die Synchronisation und Vernetzung von Know-how kann eine neue Qualität entstehen. In einem solchen Verbund werden aus Schnittstellen dann Schnittmengen.
Auf welchen Ebenen sollte ein Unternehmen dabei konkret agieren? Reicht eine stärkere Verlinkung von Lieferanten und Abnehmern?
Dr. Hanno Brandes: Um in externen Netzwerken erfolgreich agieren zu können, bedarf es zunächst der internen Verknüpfung. Das heißt, Experten aus allen Stufen der unternehmerischen Wertschöpfungskette sollten in interdisziplinären Projektteams eng in Sachen Innovation zusammenarbeiten. Dies erhöht die Chance, dass in einem zweiten Schritt gemeinsam mit externen Partnern gleichermaßen bahnbrechende wie wirtschaftlich tragbare Innovationen gelingen können.
Manchmal scheitert dies aber auch daran, dass externe Partner überhaupt nicht dazu gewillt sind - insbesondere dann, wenn es sich um marktnahe Innovationen handelt.
Dr. Hanno Brandes: Open Innovation - also die systematische Optimierung und Öffnung des Innovationsprozesses für die Außenwelt - kann hier ein wichtiger Ansatz sein, um insbesondere mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten und ihre Anregungen einzuholen.
Das Internet ist hierfür ein perfektes Medium. Die wachsende Popularität von Blogs, Wikis und Social Media insgesamt beweist, dass Menschen hier ihr Wissen besonders gerne teilen. Unternehmen wie BASF, Procter & Gamble oder Glaxo Smith Kline machen vor, wie sich über ausgefeilte Online-Portale „als Ohr am Markt" neue Trends und Bedürfnisse identifizieren und sogar konkrete Produktvorschläge gewinnen lassen.
Wie stehen die Chancen der deutschen Chemieindustrie in diesem vernetzten Innovationswettbewerb?
Dr. Hanno Brandes: Ich sehe hier sehr gute Perspektiven. Der industrielle Kern der deutschen Wirtschaft ist nicht nur höchst produktiv und innovativ, er ist auch beispielhaft homogen und verdichtet. Das erfolgreiche Miteinander von globalen Konzernen und leistungsfähigen Zulieferern ist etwas, um das wir im Grunde weltweit beneidet werden - der ideale Nährboden für erfolgreich vernetzte Innovationen. Auf diesem Fundament werden sich deutsche Chemieunternehmen künftig noch stärker von der Basischemie in die Spezialchemie bewegen. Und gerade auf diesem Feld werden sie ihre Schlüsselposition in besonderer Weise ausspielen können, da bin ich mir sicher.
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