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Die deutsche chemische Industrie hat noch viel Potenzial

Dr. Hanno Brandes, Management Engineers, über die aktuellen Herausforderungen und Chancen für die Chemiebranche

29.11.2012 -

Innovative Produkte aus der Chemie sind Bestandteil der Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen, z. B. für die Sicherstellung von Gesundheit, Ernährung, Mobilität und Klimaschutz. Durch Innovationen erschließen Chemieunternehmen neue Märkte und stärken ihre globale Wettbewerbsfähigkeit. Doch welchen Einfluss auf die Konkurrenzfähigkeit der heimischen Industrie haben Themen wie die Sicherung der Energieversorgung und der demografische Wandel? Worauf kommt es für die Branche in der gegenwärtigen, von wirtschaftlichen Unsicherheiten geprägten Situation noch an? Dr. Michael Reubold sprach mit Dr. Hanno Brandes, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Management Engineers, über die aktuellen Herausforderungen und langfristigen Chancen für die chemische Industrie.

CHEManager: Herr Dr. Brandes, wir erleben derzeit in Deutschland eine bemerkenswerte Entwicklung. Die Produktion der chemischen Industrie schwächelt, die Kosten steigen, und die weiteren Aussichten trüben sich eher noch ein. Trotzdem hat die Branche ihre Investitionen zuletzt weiter gesteigert. Wie passt das zusammen?

Dr. Hanno Brandes: Unsere Unternehmen agieren, wie man sich das im Grunde immer wünscht, nämlich antizyklisch, vorausschauend und vor allem mit Augenmaß. Sie verfallen nicht in einen hektischen Aktionismus aus Kostensenkung und Stellenabbau wie noch in den Krisenjahren 2008/2009, sondern stellen jetzt mit weiteren Investitionen auf vielen Feldern die Weichen für die Zukunft. Natürlich müssen sie aber auch im Hinblick auf die kurzfristigen Herausforderungen und Risiken hellwach bleiben. Das sollte man nicht unterschätzen. Aber unser Blick auf die chemische Industrie in Deutschland ist nach wie vor positiv!

Wo sehen Sie diese kurzfristigen Risiken?

Dr. Hanno Brandes:
Auf der Kosten- und Absatzseite gleichermaßen. Die Unternehmen befinden sich hier quasi in einer doppelten Umklammerung. Noch aber haben sie darin genug Luft zum Atmen, weil sie steigende Preise für Energie und Vorerzeugnisse lange Zeit über ein offensives Pricing an die Nachfrage weitergeben konnten. Das ist betriebswirtschaftlich gesehen deshalb so positiv, weil der Ertragshebel einer Preiserhöhung um ein Vielfaches höher ist als der einer entsprechenden Kostensenkung. Aber natürlich muss man auch hieran weiter mit ganzer Kraft arbeiten.

Und wo lauern die größten Unwägbarkeiten auf der Absatzseite?

Dr. Hanno Brandes:
Nun, über die Märkte in Europa ist wahrlich genug geschrieben worden. Nach Griechenland, Portugal, Spanien und Italien gerät aktuell sogar Frankreich immer stärker in den Krisenfokus - Ausgang ungewiss. Die USA werden und müssen jetzt nach der Wahl einen Konsolidierungskurs einschlagen. Und nicht zuletzt fährt derzeit ja auch die Chemie-Wachstumslokomotive China nicht unter Volldampf. Unter dem Strich steht die globale Konjunkturampel momentan auf Gelb. Ob sie zunächst noch auf Rot und erst dann wieder auf Grün umschaltet, bleibt abzuwarten. Ich bleibe da aber optimistisch.

Woher nehmen die Unternehmen denn die Kraft, um ungeachtet dieser fragilen Situation weiterhin investieren zu können?

Dr. Hanno Brandes: Die deutsche Chemieindustrie hat aus der vergangenen Krise ihre Lehren gezogen und viel Kraft getankt. Kosten wurden gesenkt, das Working Capital optimiert, neue attraktive Märkte erschlossen und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit massiv verbessert. Die Unternehmen sind fit genug, um eine schwierige Situation auf der Kurz- und Mittelstreckendistanz zu meistern und sich gleichzeitig für die Herausforderungen der Langstrecke zu rüsten. Und genau dies muss weiterhin das alles überragende Ziel bleiben.

Um in Ihrem Bild zu bleiben: Auf der Langstrecke muss man sich quälen können. Wie groß ist die Gefahr, dass der deutschen Chemie im internationalen Wettkampf die Puste ausgeht?

Dr. Hanno Brandes:
Es kommt auf das richtige Training und Timing an - und da sehe ich unsere Unternehmen auf dem richtigen Weg. Investitionen in neue Märkte und Produkte, das Streben nach Energie- und Ressourceneffizienz, Fachkräftesicherung und nicht zuletzt das Megathema Innovation mit all seinen Facetten - das sind die wohl wichtigsten Disziplinen.

Und sicherlich ist es so, dass all diese Felder gleichzeitig anzugehen sind - oder sehen Sie irgendwo eine besondere Dringlichkeit?

Dr. Hanno Brandes:
In Deutschland ohne Zweifel - beim schon jetzt deutlich zu spürenden Fachkräftemangel. Die Konsequenzen werden meines Erachtens immer noch grob unterschätzt. Denn ohne hoch qualifizierte und engagierte Mitarbeiter in ausreichender Zahl werden alle ambitionierten Zukunftspläne schnell Makulatur sein. Natürlich ist hier die Politik gefragt, wenn es darum geht, Zuwanderung gezielt zu gestalten, das Bildungssystem wirklich entscheidend zu verbessern oder Anreize für eine höhere und längere Erwerbsbeteiligung zu schaffen.

Wird dies ausreichen?

Dr. Hanno Brandes:
Machen wir uns nichts vor, die Politik allein wird es nicht richten. Jedes einzelne Unternehmen ist gefragt, sich zu engagieren, mit individuellen Antworten auf seine spezifischen Herausforderungen - sei es in der Aus- und Weiterbildung und insbesondere auch bei der Gewinnung ausländischer Arbeitskräfte. Die chemische Industrie agiert global. Sie benötigt dazu fachliches Know-how und Diversity. Das gilt für den Großkonzern ebenso wie für den Mittelständler. Eine große Vielfalt von Menschen im Unternehmen ist stets ein guter Nährboden für Innovation.

Bleiben wir zunächst bei den globalen Märkten. China ist in aller Munde - und was kommt dann?

Dr. Hanno Brandes:
Es werden viele weitere Schwellenländer an Bedeutung gewinnen - als Absatzmarkt und ebenso als Produktionsstandort. Indonesien, wo immerhin dreimal so viele Menschen leben wie in Deutschland, ist so ein Land, Indien sowieso und Thailand auch. Brasilien, Mexiko und Kolumbien sind ebenfalls auf der Überholspur. Hinzu kommt der Nahe Osten. Insgesamt werden sich die globalen Wachstumskoordinaten auch auf lange Sicht weiter gen Osten verschieben - mit China als weitaus stärkstem Motor für die Chemieindustrie. In den nächsten zwei Jahrzehnten, so eine Studie der Prognos AG, wird sich die globale Produktion in der Chemie-, Gummi- und Kunststoffindustrie weit mehr als verdoppeln, und allein 60 % dieses Wachstums wird von China aus bestritten.

Das Reich der Mitte ist damit längst nicht mehr nur der lohnende Absatzmarkt für Chemieprodukte, sondern vielmehr auch der härteste Wettbewerber. Wo werden wir uns behaupten können?

Dr. Hanno Brandes:
Unsere Unternehmen werden sich von diesem Zukunftswachstum eine durchaus schöne Scheibe abschneiden können - vor allem im Bereich der preisrobusteren Spezialchemie. Denn hier verfügen sie auf vielen Feldern über ­innovative Lösungen zur wirtschaftlichen Umsetzung von Zukunftstechnologien - sei es im Bereich der Elektromobilität, wo die rentable Weiterentwicklung der Batterie- und Brennstoffzellentechnologie ganz entscheidend vom Input der Chemie abhängt. Gleiches gilt für die Displaytechnik durch Flüssigkristalle und OLEDs sowie für den Leichtbau, dem ja nicht nur in der Automobilindustrie, sondern auch bei der Errichtung von Hochhäusern ein großes Potential zugesprochen wird.

Sind diese Absatzsegmente nicht auf Dauer zu klein für unsere große Chemieindustrie?

Dr. Hanno Brandes:
Das muss man differenziert betrachten. Weit über 90 % der in Deutschland ansässigen Chemiebetriebe zählen zum klassischen Mittelstand. Viele von ihnen sind „Hidden Champions", die als Nischen- und Spezialanbieter aktiv sind. Für sie sind diese Marktsegmente mehr als groß genug. Diese Unternehmen stehen vielmehr vor der Aufgabe, ein globales Produktions-, Beschaffungs- und Vertriebsnetz aufzubauen, das nicht nur leistungsfähig und effizient ist, sondern auch anpassungsfähig im Hinblick auf immer neue Markt- und Wettbewerbskonstellationen. Dies ist eine komplexe Aufgabe, die sich häufig nicht allein, sondern nur mit starken Partnern bewältigen lässt.

Und die großen Konzerne müssen ihr Heil direkt im Ausland suchen?

Dr. Hanno Brandes:
Zumindest in der Basischemie wird sich dieser Trend verstärken. Die Produktion muss der boomenden Nachfrage aus China und anderswo folgen - aus Kosten-, Vertriebs- und Beschaffungsgründen. Denn die Standortwahl muss sich immer stärker daran orientieren, wo Rohstoffe und Energie ausreichend und günstig verfügbar sind. Brasilien und der Nahe Osten sind aus diesen Gründen beispielsweise interessant ...

... und Deutschland eher nicht?

Dr. Hanno Brandes:
Ganz sicherlich nicht. Und was die Energiekosten betrifft, hat die Politik dem Chemiestandort Deutschland mit dem EEG einen Bärendienst erwiesen, der aktuell sogar viele mittelständische Unternehmen laut über das Thema Produktionsverlagerung ins Ausland nachdenken lässt. Eine Kostenbremse ist hier dringend erforderlich.

Womit kann der Standort Deutschland denn auf der anderen Seite punkten?

Dr. Hanno Brandes:
Es sind vor allem die unternehmerischen Erfolgsfaktoren, und hier vor allem die enge Vernetzung deutscher Chemieunternehmen - sei es untereinander als auch mit anderen Industrien. Das findet man so nirgendwo sonst auf der Welt, und das macht uns wirklich stark und ausgewogen in der heimischen Produktion, wo auch die Basischemie einen festen Platz behalten wird. Denn ihre Produkte bleiben in Deutschland weiterhin stark gefragt - sei es vonseiten der Chemie als auch von der Kunststoffverarbeitung, dem Fahrzeugbau, dem Baugewerbe und viele weiteren Branchenzweigen.

Wie erklärt sich eine solche Vielfalt?

Dr. Hanno Brandes:
Die deutsche Industrie setzt von jeher auf Ausgewogenheit. Dies gilt für das Miteinander von kleinen und großen Unternehmen als auch für die räumliche Struktur. So können sich leistungsfähige re­gio­nale Cluster bilden - und zwar auch über unsere gut funktionierenden Chemieparks hinaus. In diesen Strukturen kooperieren die Unternehmen eng miteinander und binden dabei auch die Wissenschaft mit ein - gerade, wenn es um das Thema Innovation geht.
Fehlt es in einem solchen regionalen Miteinander dann nicht schnell an der so notwendigen globalen Marktsicht der Dinge?
H. Brandes: Nein, eher das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Spezial- und Nischenanbieter liefern einen Großteil ihrer Produkte in alle Welt. Das ist nicht nur für sich allein genommen erfreulich, sondern auch hinsichtlich der daraus resultierenden Innovationskraft. Denn es besteht eine positive Wechselwirkung zwischen Exporterfolgen und Forschungsanstrengungen.

Wie sieht diese Wechselwirkung aus?

Dr. Hanno Brandes:
Exportorientierte Unternehmen sind dem internationalen Wettbewerb früher und stärker ausgesetzt als andere. Dies erhöht für sie den Innovationsdruck, forciert Produktionsfortschritte und stärkt dadurch letztlich wieder ihre Wettbewerbsfähigkeit. Das kann sich regelrecht zu einer Aufwärtsspirale entwickeln. Auch gesamtwirtschaftlich gesehen ist dieser Effekt messbar: Die USA und Deutschland weisen in der Chemiebranche den höchsten Exportanteil unter allen etablierten Industrieländern auf. Gleichzeitig sind hier auch ihre Forschungsausgaben am höchsten.

Doch das Managen komplexer F&E-Abläufe und Kompetenzen will gelernt sein. Hat die Chemie hier nicht Nachholbedarf?

Dr. Hanno Brandes:
Ja, da stimme ich durchaus zu. Bislang standen in der Chemie ja vor allem Prozessinnovationen ganz oben auf der Agenda. Das Thema F&E führte lange Zeit ein gewisses Schattendasein. Die Unternehmen aus der Chemie können sich hier sicherlich etwas von der Pharmaindustrie abschauen, die das Managen von F&E-Abläufen ja nahezu in Perfektion beherrscht.

Das Thema Energie- und Ressourceneffizienz verlangt ebenfalls nach innovativen Lösungen?

Dr. Hanno Brandes:
Ohne Zweifel - ich sehe hier beispielsweise lohnende Ansatzpunkte für einen noch engeren Erfahrungsaustausch mit den heimischen Chemieanlagenbauern. Gerade die Großanlagen aus deutscher Hand gelten von jeher als der Maßstab im Weltmarkt was Energieeffizienz und Total-Cost-of-Ownership angeht. Hier gemeinsam noch einen Schritt weiterzukommen, würde sich sicherlich für beide Seiten im Markt auszahlen.
Auch an diesem Beispiel erkennt man übrigens die Vorteile der eng miteinander vernetzten Industrie im globalen Wettbewerb. Die Chemie kann davon langfristig besonders profitieren, weil sie der Schlüssel für die Umsetzung vieler technologischer Herausforderungen ist. Die deutschen Unternehmen müssen aber weiter so hart an sich arbeiten wie bisher, um diese großen Potentiale auch marktwirksam zu erschließen.

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