Die industrielle Strukturrevolution: Chemie und Pharma gehen neue Verbindungen ein
Management Engineers und Prognos entwickeln ein Bild der künftigen Strukturen der Wirtschaft
Die Industrie ist wieder wer - und „Made by Germans" umso mehr! Spätestens seit Ausbruch der Finanzmarkt- und Bankenkrise sind die Zeiten vorbei, in denen man auch in Deutschland etwas neidisch auf die Dienstleistungshochburgen USA und Großbritannien schielte. Produzieren hat seitdem wieder an Anerkennung und Perspektive gewonnen. Die industrielle Nachfrage aus den aufstrebenden asiatischen Schwellenländern ist rasant gestiegen, ebenso aber auch der Wettbewerbsdruck speziell aus Fernost.
Trotzdem ist es immer noch die deutsche Industrie, die weltweit Maßstäbe setzt. Sie ist intern vernetzt wie kaum eine andere. Große Konzerne, leistungsfähige Zulieferer und industrienahe Dienstleister arbeiten nicht nur produktiv, sondern auch überaus innovativ zusammen. Dieses Networking macht uns stark für die vielfältigen Herausforderungen der Märkte. Die Kunden, gerade auch von Chemie und Pharma werden immer anspruchsvoller. Individuelle Wünsche und Bedürfnisse wollen befriedigt werden über eine Produktpalette, die in ihrer Breite oftmals gar nicht mehr im Alleingang zu managen ist. Hinzu kommen der Zwang zu Ressourcen- und Energieeffizienz von Produktion und Produkten sowie der Kampf um wichtige Produktionsfaktoren. Denn der Zugriff auf Rohstoffe und Ressourcen, Köpfe und Kapital entscheidet über die künftige Wettbewerbsfähigkeit.
An den Schnittstellen entsteht das Neue
Deutschland kann hier insbesondere mit seiner Technologiekompetenz punkten. Und das wirklich Neue und Innovative entsteht dabei häufig an den Schnittstellen bislang getrennter Bereiche - z.B. im Miteinander von Chemie und Automobilunternehmen, wenn es um die Entwicklung des Brennstoffzellenantriebs oder neuer Leichtbaumaterialien geht. Die steigende Komplexität der Märkte und Technologien fordert mithin ein Mehr an Kooperation - national wie international und mit veränderten Vorzeichen. Joint Ventures zwischen Unternehmen einer Branche werden abgelöst durch Link Ventures zwischen Unternehmen unterschiedlicher Branchen.
Vernetzung ist damit der entscheidende Erfolgsfaktor. Sie treibt die Dynamik und den Fortschritt. Schauen wir jedoch hinter die Kulissen in die volkswirtschaftliche Statistik, so entdecken wir einen gefährlichen Reformstau. Seit bald einhundert Jahren bilden wir das wirtschaftliche Handeln gemäß einer nationalökonomischen Trilogie aus Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung ab. Mit der Realität einer neuen Verbundwirtschaft hat dies wenig zu tun.
Wer an dieser Stelle nun achselzuckend denkt: „Was soll's?", übersieht, dass zwischen dem Sein und dem Bewusstsein eben doch ein enger Zusammenhang besteht. Wer sich in statischen Ordnungsstrukturen einrichtet, statt sich an dynamischen Marktstrukturen auszurichten, entwickelt kein Sensorium für Veränderung und Entwicklung. Er registriert, was produziert wird, anstatt zu realisieren, wofür produziert wird. Das Wofür ist aber aus Sicht des kundenorientierten Unternehmens viel spannender als das Was. Denn nur so lässt sich ein klarer Blick entwickeln für die Bedürfnisse der Nachfrager, für die dementsprechend maßgeschneiderten technologischen Lösungen und nicht zuletzt für die Aktivitäten der wirklich relevanten Wettbewerber.
Produktion - das Wofür ist entscheidend
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis haben Management Engineers und Prognos gemeinsam eine systematische und konsistente Darstellung zukunftsfähiger Wirtschaftsstrukturen erarbeitet. Sie umfasst fünf Sektoren - aufgeteilt in 16 Querschnittsbranchen, die das ökonomische Geschehen besser und präziser abbilden als es unsere gewohnte Statistik zu leisten vermag.
Die Inputs füttern die Gesamtwirtschaft mit Produktionsfaktoren, die Industrial Enabler bilden die industrielle Basis für die Produktion, die Transmitter bringen die verschiedenen Wirtschaftssubjekte zusammen, die Core Needs der Endkonsumenten stehen im Zentrum nachfrageorientierten Wirtschaftens und der Public Sector gewährleistet die erforderlichen institutionellen Rahmenbedingungen.
Und wo in dieser neuen Systematik findet sich nun die Chemie- und Pharmaindustrie wieder, wie wir sie bislang als solche definieren? Unter dem neuen Blickwinkel - Wofür wird produziert - eröffnet sich die ganze Vielfalt der Märkte, in denen Chemie- und Pharmaunternehmen mit ihren Produkten erfolgreich sind.
Neue Systematik betont Stärken von Chemie und Pharma
Industrial Enabler: Die volumenstarke Basis- und Spezialitätenchemie ist in der Querschnittsbranche Materials & Synthetics abgebildet, ebenso die Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren. Sie alle produzieren hauptsächlich Vorprodukte für die breite Verwendung in vielen anderen Querschnittsbranchen - nicht selten als interdisziplinäre Treiber des technologischen Fortschritts.
Ein Beispiel ist die Entwicklung neuartiger ionischer Flüssigkeiten auf der Basis von Guanidinium-salzen. Diese ermöglichen nicht nur eine effiziente großtechnische Herstellung chemischer Grundstoffe, sondern treiben als innovative Reaktionsmedien auch den Fortschritt in der Technischen Chemie, der Galvanotechnik und der Solartechnik voran. Auch die Medizinal- und Agrochemie kann davon profitieren. Nicht zuletzt können diese Flüssigkeiten die Basis für eine neue Generation von Flachbildschirmen sein. Hier heißt es, gemeinsam mit der Querschnittsbranche E-Technologies erfolgreich zu agieren.
Ebenso sind die Hersteller von Kunststoffen seit jeher branchenübergreifend gefragt. Sie profitieren z.B. von einer höheren Verpackungsnachfrage durch die wachsende Bedeutung von Chilled- und Convenience-Produkten im Nahrungsmittelbereich oder auch vom ungebrochenen Trend zum Leichtbau in der Fahrzeugindustrie.
Transmitter: Hier sind die Unternehmen vor allem in der Querschnittsbranche Mobility & Transportation präsent. Die Hersteller von Reifen sorgen dafür, dass sich die Räder möglichst widerstandsarm und damit umweltverträglich drehen. Neue Antriebe - sei es der Elektromotor oder die Brennstoffzelle - werden ohne das Zutun der Chemie nicht in die Rentabilität fahren können. Sie ist gefordert, leistungsfähige Materialien für die Elektroden, Separatoren und Elektrolyte von Lithium-Ionen-Batterien bereitzustellen. Bei der Brennstoffzelle wiederum gilt es, innovative Nanomaterialien zur Beschichtung der Membranen zu entwickeln.
Beim Thema Leichtbau ist zuletzt, neben Aluminium und Kunststoffen, vor allem Carbon in den Fokus gerückt. Bislang ist seine Verarbeitung aber noch durch viel zu teure Handarbeit geprägt. Die Realisierung eines großvolumigen, automatisierten Herstellprozesses ist also die entscheidende Herausforderung. Sie wird nur in enger Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Querschnittsbranche Machinery & Equipment zu meistern sein.
Core Needs: Healthcare & Wellcare ist hier natürlich die mit Abstand größte und wichtigste Quer-schnittsbranche aus Sicht der Pharmahersteller sowie der Fein- und Spezialchemie - Tendenz vor allem in Deutschland weiter steigend. Die demographische Alterung sorgt für ein weiter wachsendes Potenzial an Nachfragern, die zumindest in Teilen auch sehr zahlungskräftig sind. Dabei werden die Grenzen zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem Bedürfnis nach Wellbeing - also z.B. zwischen Medikamenten, Kosmetikprodukten und gesunden Nahrungsmittel (Querschnittsbranche Food & Clothing) - immer mehr verschwimmen.
Letztlich kann sich die Gesundheit damit sogar zu einem dominanten, gesellschaftlichen Kaufmotiv entwickeln. Bis zum Jahr 2020 wird kaum eine andere Branche in Deutschland ein so starkes Wachstum erreichen wie Healthcare & Wellcare. Dies gilt für die Bruttowertschöpfung ebenso wie für die Beschäftigung, die sich hier bis zum Ende der Dekade um eine halbe Millionen Erwerbstätige erhöhen dürfte.
Auf einem weltweiten Wachstumskurs sind aber auch die anderen Querschnittsbranchen, in denen Chemie und Pharma schon heute besonders aktiv sind - sei es Mobility & Transportation, Materials & Synthetics oder auch die chancenreichen Verbindungen zu E-Technologies und Machinery & Equipment. Ihre Schlüsselfunktion für die wirtschaftliche Umsetzung industrieller Zukunftstechnologien können die Unternehmen aber nur dann ausspielen, wenn es nicht an den notwendigen Produktionsfaktoren mangelt.
Inputs: Im Fokus muss dabei Education & Research stehen. Es bedarf weiterer Bildungsoffensiven, um den sich abzeichnenden Fachkräfte- und Akademikermangel zu meistern. Ebenso gilt es, die Forschung zu intensivieren, im Sinne eines interdisziplinären Miteinanders von Wirtschaft und Wissenschaft. Deutschland, so zeigen es verschiedene Studien, hat im Bereich der Pharma-Grundlagen-forschung zuletzt an Boden verloren. Gleichwohl gibt es zahlreiche Beispiele für erfolgreiche, branchenübergreifende Allianzen von Hochschulen und Unternehmen, so z.B. an der TU München in den Bereichen Elektromobilität oder Katalyseforschung.
Public Sector: Politik und staatliche Verwaltung müssen mit Blick auf den internationalen Standortwettbewerb jetzt die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Gerade für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland muss die Entwicklung von Education & Research höchste Priorität haben. Letztlich ist dies aber eine europäische Aufgabe, deren Erfolg nicht nur vom Budget, sondern auch vom Mindset abhängt. Wir brauchen eine schlagkräftige Talentförderung, verlässliche rechtliche wie politische Rahmenbedingungen und von den Unternehmen einen Schuss mehr Mut zum Risiko. Nur so werden sie im Zuge der Industriellen Strukturrevolution nochmals an technologischer Stärke und Wettbewerbskraft gewinnen können.
Die in unserem Konzept vorgeschlagene neue Architektur mehrdimensionaler Querschnittsbranchen soll in erster Linie unseren Blick auf die gegenwärtigen Wirklichkeiten und künftigen Möglichkeiten verändern. Bildlich gesprochen: Es ist unser Anliegen, Silodenken zu überwinden, die Scheuklappen gegenüber den tatsächlichen Entwicklungen abzulegen und gegen ein Weitwinkelobjektiv zu tauschen. Denn nur ein Crossover von Wissen und Können aus allen Branchen und Bereichen eröffnet eine neue Dimension eines kreativen Miteinanders, in denen sich Ideen nicht nur addieren, sondern sogar multiplizieren lassen.