Risiken im Blick
Chemieunternehmen dürfen finanzielle Schäden durch Produkt- und Umwelthaftung nicht unterschätzen
Viele Chemieunternehmen verarbeiten Stoffe, die in einem Unglücksfall die Umwelt erheblich schädigen können. Hohe Schadenersatzansprüche sind die Folge. Auch von der unsachgemäßen Weiterverarbeitung oder Verwendung von Chemieprodukten können Gesundheitsgefahren ausgehen. Hier ist Risikovorsorge gefragt. Beim Industrieversicherer Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) beraten weltweit rund 300 Experten Unternehmen in Fragen des Risikomanagements und der Absicherung von Haftungsrisiken. Dr. Andrea Gruß befragte Alexander Mack, Global Head of Claims Longtail bei AGCS und Referent der Handelsblatt-Jahrestagung Chemie 2009, zu seiner Einschätzung der Haftungsrisiken in der Chemieindustrie.
CHEManager: Herr Mack, die Haftungsrisiken der Pharmaindustrie sind durch Prozesse mit hohem öffentlichem Interesse weitläufig bekannt. Sind die Risiken der Chemiebranche vergleichbar?
A. Mack: Die Produkthaftungsrisiken der Pharmaindustrie - insbesondere in den USA - gehören sicherlich zu den Spitzenrisiken der gesamten Industrie, insoweit sind Pharmarisiken und sonstige Chemierisiken nicht 1:1 vergleichbar. Dort jedoch, wo Chemikalien in Kontakt mit Personen kommen können, z. B. in Form von Dämpfen, als Kontaktstoff oder Pestizid, können die Risiken entsprechend den Pharmarisiken sein. Im Übrigen ist die Chemie ein wichtiger Grundstofflieferant für die Pharmaindustrie und insoweit auch hier einem gewissen Risiko einer Regresshaftung ausgesetzt.
Höher als in anderen Industrien ist sicherlich das Risiko der Umwelthaftung für Chemieunternehmen. Störfälle wie Bhopal, Exxon Valdez, Schweizerhalle oder die Explosion in Toulouse im Jahr 2001 verursachen sehr hohe Medienaufmerksamkeiten und sind mit einer Vielzahl von Ansprüchen und einem hohen Anspruchsbewusstsein verbunden.
Welche Risiken werden von den Unternehmen Ihrer Meinung nach unterschätzt?
A. Mack: Nicht in der Öffentlichkeit sind im Regelfall die interindustriellen Schäden, bei denen ein Zulieferer einen Weiterverarbeitungs-, Verbindungs- und Vermischungsschaden durch Lieferung eines kontaminierten oder gar falschen Grundstoffes an einen Hersteller verursacht. Wird die Chemikalie trotz Wareneingangskontrolle weiterverarbeitet, kann dies zu einem minderwertigen Endprodukt führen, das gar nicht oder nur zu vermindertem Preis verkauft werden kann. Versicherer haben große Aufwände im Bereich des so genannten erweiterten Produktrisikos.
Können Sie hierfür Beispiele nennen?
A. Mack: Im Bereich der Bauchemie haben wir es in vielen Fällen mit Schäden zu tun, bei dem einem geringen Produktwert sehr große Folgeschäden gegenüber stehen. In einem konkreten Fall wurde ein Fugenkleber für die Komplettsanierung einer Kläranlage geliefert. Innerhalb der Gewährleistungsfrist zeigte sich, dass der Kleber nicht gegen Klärschlamm beständig ist. Die Sanierung der Kläranlage war sehr aufwändig und kostete über 10 Mio. €. Die Schadensersatzforderungen übertrafen den eingesetzten Warenwert des Klebers von 200.000 € um ein Vielfaches.
In einem anderen Fall aus der Petrochemie verursachte ein mit Silikon verunreinigtes Additiv für Vergaserkraftstoffe Motorschäden bei über 5000 Pkw und Lkw. Die Schadenshöhe lag bei 35 Mio. €, der Lieferwert für das Additiv unter 100.000 €.
Wie können Unternehmen diesen Schäden vorbeugen?
A. Mack: Risikovorsorge kann insbesondere im Bereich der Qualitätssicherung getroffen werden. Das beginnt mit der Auswahl der Zulieferer, reicht über die Kontrolle der Produktionsprozesse und der Sicherheit der Produktionsstätten bis hin zur Ausgangskontrolle des Produktes. Die Verantwortung des Herstellers endet jedoch nicht am Werktor. Auch die Vertriebswege und Vertriebsprozesse müssen auf ihre Qualität geprüft werden und - ganz wichtig - die Verwendung des Produkts im Markt muss beobachtet werden. Wird es beispielsweise außerhalb des vorherbestimmten Zweckes benutzt, sollte der Hersteller seine Warnhinweise daraufhin überprüfen und ggf. ergänzen. Hier kann es immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen zwischen Marketing und Produktsicherheit kommen. Unter Risikovermeidungsaspekten ist dabei unbedingt der Produktsicherheit Vorrang einzuräumen.
Gegen welche Haftungsrisiken sollte sich ein Unternehmen absichern?
A. Mack: Grundsätzlich sind vier Arten der Haftpflichtversicherung zu unterscheiden: die Betriebshaftpflichtversicherung, die Umwelthaftpflichtversicherung und die Produkthaftpflichtversicherung sowie die D&O- bzw. Directors-and-Officers-Versicherung, die ein Unternehmen für seine Manager zur Absicherung gegen Ansprüche aufgrund von Vermögensschäden abschließt.
Wie bemessen sich die Prämien für den Versicherungsschutz?
A. Mack: Die Prämienbasis ist sehr stark von dem individuellen Risiko des Unternehmens geprägt. Sie wird beispielsweise durch die Produktpalette bestimmt, die ein Unternehmen herstellt und vertreibt. Ebenso durch die regionale Verteilung der Absatzmärkte. Wer in den USA stark vertreten ist, wird höhere Prämien zahlen, als Unternehmen, deren Schwerpunkte in Ländern liegen, in denen das Anspruchsbewusstsein noch nicht so ausgeprägt ist oder der Gedanke der Eigenverantwortlichkeit höher bewertet wird.
Wie bewerten Sie die Haftungsrisiken innerhalb Europas? Gibt es nationale Unterschiede?
A. Mack: Trotz der Umsetzung der europäischen Produkthaftungsrichtlinie vom Juli 1985 in den einzelnen Ländern ist Europa traditionell durch unterschiedliche Rechtssysteme - z.B. Common law in Großbritannien und kodifiziertes Recht in Deutschland oder Frankreich - geprägt. Dies und die unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse führen beispielsweise bei der Höhe der zuerkannten Schmerzensgeldbeträge zu erheblichen Unterschieden. Auch das Prozessrecht gestaltet sich in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich. Immer mehr Länder lassen in bestimmten Bereichen Massenklagen zu, die bis vor wenigen Jahren in Europa unbekannt waren.
Wie finden Unternehmen den richtigen Partner zur weltweiten Absicherung ihrer Risiken?
A. Mack: In vielen Industrieunternehmen arbeiten eigene Versicherungsvermittlungsabteilungen oder unternehmenseigene Vermittlungsgesellschaften mit Maklern und Versicherern zusammen, um die Risiken bestmöglich abzusichern. Soweit sich Unternehmen eines Maklers bedienen, sollte dieser aufgrund der Internationalität des Chemiegeschäftes ein global erfahrener, internationaler Makler sein.
Auch der Versicherer sollte ein internationales Netzwerk zur Betreuung der Auslandsniederlassungen des Versicherungsnehmers besitzen. Seine Versicherungsfachleute und Risikoingenieure müssen in der Lage sein, gemeinsam mit Experten aus den Unternehmen bestehende Risiken zu analysieren, damit den Versicherungsnehmern risikogerechte Lösungen vorgeschlagen werden können. Schließlich sollte der Versicherer über internationale erfahrene Schadensabteilungen verfügen, die im Schadensfall mit dem Versicherungsnehmer Lösungen erarbeiten und das Versprechen des Versicherers einlösen.
In der heutigen Zeit ist zudem die finanzielle Ausstattung des Versicherers von Bedeutung, da Versicherungsleistungen möglicherweise erst in einigen Jahren ausgezahlt werden und der Versicherer dann hierzu noch in der Lage sein muss.
Wie ist es um den Versicherungsschutz von deutschen Unternehmen bestellt?
A. Mack: Grundsätzlich gut. Die Frage ist, ob in der derzeitigen wirtschaftlichen Situation, die Deckungssummen angepasst werden, und zwar nicht nur aufgrund der Inflation, sondern auch aufgrund des veränderten Risikos, das sich beispielsweise durch den Zukauf in einem bestimmten Marktsegment oder durch neue Vertriebsschwerpunkte, zum Beispiel in USA, ergibt. In diesen Fällen sollte immer eine Anpassung des Versicherungsschutzes erfolgen. Ein guter Industrieversicherer wird notwendige Anpassungen gemeinsam mit dem Makler oder Kunden besprechen und entsprechende Vorschläge machen.
Welche Risiken werden in Zukunft für die Chemieindustrie an Bedeutung gewinnen?
A. Mack: Gesundheitsrisiken, die von chemischen Erzeugnissen ausgehen. Eine aktuelle Studie der European Agency of Safety and Health at Work vom März 2009 schätzt die arbeitsplatzbedingten Todesfälle in der EU schon heute auf 74.000 pro Jahr. Zu den ‚Emerging Risks' zählen Risiken, die beispielsweise von Gen-veränderten Lebensmitteln ausgehen, von Dieseldämpfen, Mineralfasern oder Epoxidharzen, die Hauterkrankungen auslösen können. Nanopartikel und Aerosole werden von vielen Experten als die Hauptrisikoquellen der Zukunft bezeichnet. Untersuchungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen. Die chemische Industrie tut aber gut daran, diese möglichen Risiken bereits heute zu beobachten, da schon der Verdacht auf gesundheitsschädliche Stoffe Unsicherheit und damit verbundene Haftungsrisiken auslöst.
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