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Zwischen Hoffen und Bangen

Stellschrauben für den zukünftigen Erfolg Deutschlands

13.11.2024 - Welche Transformationen sind notwendig, damit Deutschland wieder auf den Wachstumspfad kommt? Interview mit Michael Hüther, Direktor des IW Köln.

Kriegsfolgen, Energiekrise, Fachkräftemangel und Klimawandel – die Herausforderungen für die deutsche Industrie sind aktuell höher und vielfältiger denn je und bremsen das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Diesem Thema sowie den Schubkräften für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Chemieindustrie widmen sich die 15. Wiesbadener Gespräche der Sozialpolitik des Arbeitgeberverbands HessenChemie am 19. November 2024.

Andrea Gruß sprach vorab mit dem Referenten Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln), über mögliche Stellschrauben für nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Deutschland.

CHEManager: Herr Professor Hüther, wie bewerten Sie die aktuelle gesamtwirtschaftliche Lage in Deutschland?

Michael Hüther: Wir befinden uns in einer anhaltenden Stagnation. Das ist herausfordernder als eine Rezession, in der die Wirtschaft schrumpft, sich aber irgendwann die relativen Preise wieder verändern und die Perspektive auf eine neue Dynamik entsteht. Eine anhaltende Stagnation dagegen ist mühsam – sie vermittelt den Eindruck, man steckt fest im Schlamm und kommt nicht heraus, ohne das Schuhwerk zu wechseln. Und tatsächlich ist es ein bisschen so. Wir befinden uns in einer Gemengelage mehrfacher Anpassungslasten: Da ist zum einen die veränderte geopolitische Lage, die das deutsche Geschäftsmodell bedroht, weil es sehr international aufgestellt ist. Hinzu kommt ein hoher Modernisierungsbedarf der öffentlichen Infrastruktur aufgrund von Unterlassungen in den vergangenen 20 Jahren. Die demografische Alterung für sich genommen kostet Wachstumskraft, und viertens die Transformationsaufgabe mit Blick auf die Klimaneutralitätsziele 2045. All das löst ein hohes Maß an strategischer Unsicherheit aus, bei Politik, Unternehmen und Menschen. Wir beobachten daher derzeit eine Art angebotsgetriebene Nachfrageschwäche – nicht, weil die Leute kein Geld haben, sondern weil sie in hohem Maße verunsichert sind.

Welche Transformationen sind notwendig, damit Deutschland wieder auf den Wachstumspfad kommt?

M. Hüther: Wir müssen die Themen der Reihe nach adressieren. Das Thema demografische Alterung drückt 60 Jahre nach dem Pillenknick besonders stark und wird in den kommenden zehn Jahren zu Wachstums- und Produktivitätsverlust führen. Es gilt daher das gesamte Potenzial der Erwerbstätigen im Land zu mobilisieren – zum einen durch Weiterbildung und Ausbildung, aber es darf auch kein Jugendlicher mehr ohne Schulabschluss aus dem System fallen. Eine zweite Stellschraube sind unsere Arbeitszeiten. Wir haben in Deutschland im Vergleich der Industrieländer die geringste Jahresarbeitszeit. Ein Vollzeiterwerbstätiger arbeitet im Schnitt knapp 250 Stunden weniger als in der Schweiz.
Das geht auf Dauer nicht gut. Ein dritter Hebel sind Menschen mit begrenztem Arbeitszeitpotenzial am Arbeitsmarkt, zum Beispiel ältere Menschen, auch jenseits des Rentenzugangsalters, und viele Frauen, die in Teilzeit arbeiten. Darüber hinaus brauchen wir eine gesteuerte Zuwanderung. Beim Thema Demografie müssen wir den ganzen Kranz der Maßnahmen adressieren.

 

 

„Die Transformationspolitik zu klären,
ist eine der großen Herausforderungen.“

 


Geopolitische Unsicherheit ist das zweite drängende Thema. Sicherheit wird zunehmend zur wirtschaftlichen Herausforderung und zum ökonomischen Standortfaktor. Wir müssen unsere Selbstverteidigung ertüchtigen und an einer Verteidigungskooperation in Europa arbeiten. Denn es ist wahrscheinlich, dass die USA sich im Ukraine-Krieg zum letzten Mal als „europäische“ Nation militärisch engagiert. Deutschland wird künftig nicht nur mehr finanzielle Ressourcen für das Thema Sicherheit bereitstellen müssen, sondern auch einen höheren Anteil von Reservisten für die Verteidigung.
Die dritte Aufgabe ist die Frage der Transformationsgestaltung. Hier brauchen wir mehr Klarheit, wie die Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende politisch gestaltet werden kann. Die Regierung hat seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom 15. November 2023 den Faden verloren. Das spiegelt sich auch zunehmend in der Strategie­unsicherheit der Unternehmen wider. Die Transformationspolitik zu klären, ist eine der großen Herausforderungen.

Wo liegen die Potenziale der deutschen Wirtschaft?

M. Hüther: Die Wachstumspotenziale liegen darin, wie unsere Wirtschaft als Clusterökonomie aufgestellt ist. Das gilt für die Chemieindus­trie, aber auch für die Metall- und Elektroindustrie. Die Wertschöpfungsverbünde von Unternehmen in einer Branche und von branchenverwandten Tätigkeiten, zum Beispiel in einem Industriepark, sind ein großer Wettbewerbsvorteil. Eine zentrale Stärke, gerade für den transformativen Wandel, ist zudem die duale Berufsausbildung und die daraus folgenden Weiterbildungsoptionen, weil wir hier wertschöpfungsnah auf hohem Niveau ausbilden und Qualifikationen gut weiterentwickeln können. Des Weiteren hat die deutsche Volkswirtschaft in der vergangenen Dekade ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 2,5 % auf über 3 % des Bruttoinlands­produkts gesteigert. Um die Innovationskraft von Deutschland weiter zu stärken, sollten wir Cluster noch weiterdenken als früher und Hochschulen sowie hochschuladäquate Einrichtungen als Teile dieser Cluster verstehen. Diese drei genannten Stärken machen die deutsche Wirtschaft in besonderer Weise aus.

Sehen Sie weiterhin eine Zukunft für die produzierende Chemie in Deutschland?

M. Hüther: Manche meiner Kollegen sagen: ‚Das ist alt und kann weg.‘ Aber ‚alt‘ ist keine ökonomische Kategorie. Ökonomische Kategorien sind wettbewerbsfähig, nicht wettbewerbsfähig oder transformationsfähig, nicht transformationsfähig. Unsere Chemie­industrie, ebenso wie auch die Glas-, Stahl- oder Papierindus­trie, ist eine hochinnovative Branche mit einem höheren F&E-Anteil und mehr Produkt- und Prozessinnovationen als im Schnitt der gesamten Industrie, die ja schon sehr produktiv ist. Die Chemieindustrie birgt also erstens sehr viel innovatives Potenzial und zweitens benötigen wir für die Transformationsperspektive eine Grundstoffproduktion hier am Standort, denn Polymerchemie ist beispielsweise von hoher Bedeutung für die Entwicklung einer emissionsfreien Mobilität. Wenn wir die Grundstoffe nicht mehr hier herstellen, müssen wir sie importieren und würden in unglaublichem Maße abhängig. Das schwächt unsere Resilienz, die mit Blick auf die politischen Unsicherheiten an Bedeutung gewinnt. Wir wissen nicht, ob alle Unternehmen der energieintensiven Sektoren überleben werden. Aber wir müssen alles dafür tun, dass sie wettbewerbsneutral gestellt werden. Ein zentrales Instrument dafür sind verlässliche Energiepreise.

Verlässliche Energiepreise oder niedrige Energiepreise?

M. Hüther: Verlässliche, wettbewerbsfähige Energiepreise. Analysen, die wir gemeinsam mit der Boston Consulting Group für den Bundesverband der Deutschen Industrie gemacht haben, ergaben: Wenn wir nichts tun, bleiben die Strom- und Energiepreise in Deutschland überdurchschnittlich hoch, und zwar so hoch, dass wir nicht mehr mit anderen Standortfaktoren – wie einer besseren Bildung – dagegenwirken können. Das ist aus meiner Sicht ein starkes Argument für den Transformationsstrompreis, der der energie­intensiven Industrie eine Verlässlichkeit gibt.

Wie funktioniert der Brücken- oder Transformationsstrompreis?

M. Hüther: Der Transformationsstrompreis ist ein gedeckelter Strompreis. Der Strompreis wird subventioniert, wenn der Börsenstrompreis
6 ct/kWh übersteigt. Es geht darum, die Preisspitzen der kommenden Jahre zu überbrücken, die unter anderem aus dem Anstieg der Brennstoffpreise für die gasbetriebenen Spitzenlastkraftwerke resultieren. Ich bin der Meinung, dass das ordnungspolitisch gut vertretbar ist. Es ist eine Wette der Politik gegen sich selbst. Denn die Politik organisiert die Energiewende, nicht BASF, nicht Bayer, nicht VW oder ThyssenKrupp, das sind hierbei Anpassungsakteure, keine Gestaltungsakteure. Es ist eine politische Entscheidung, zu welchen Kosten wir die Transformation umsetzen. Die Politik hat wettbewerbsfähige Preise versprochen, also nehmen wir sie beim Wort. Ein Transformationsstrompreis löst sich dann von allein wieder auf, wenn die Politik ihr Versprechen eingehalten hat: sobald der Ausbau der erneuerbaren Energien weit fortgeschritten ist und sich dies im Börsenstrompreis verlässlich niederschlägt. Er funktioniert übrigens ähnlich wie die staatlichen Zuschüsse zum Gaspreisdeckel für Privathaushalte. Die aktuell diskutierte Mittellösung für den Industriestrompreis sieht dagegen einen stärkeren Spitzenausgleich vor allem für Unternehmen der Chemie- und Glas­industrie vor. Die Subvention muss beantragt und jeder Einzelfall bewertet werden. Ein Börsenstrompreis ist dagegen diskriminierungsfrei und vergleichsweise bürokratiefrei.

Wie sollen all die notwendigen Investitionen für eine erfolgreiche Transformation finanziert werden, durch höhere Schulden oder höhere Steuern?

M. Hüther: Steuern sind ein elementarer Wettbewerbsfaktor. Angesichts der hohen Unternehmenssteuerquote in Deutschland haben wir hier aus meiner Sicht keinen Spielraum, die Steuern zu erhöhen. Lassen Sie uns die Finanzierungsarten systematisch betrachten: Investitionen, die einen Nutzen für mehrere Generationen schaffen, sollten auch von mehreren Genrationen finanziert werden. Deshalb ist der Kredit hier das Mittel der Wahl. Das gilt für Investitionen in die Transformation, aber vor allem für öffentliche Infra­strukturinvestitionen. Sie sollten am besten über einen Infrastruktur- und Transformationsfonds finanziert werden, indem alles adressiert wird, was wir in den kommenden zehn Jahren umsetzen wollen. Wir haben hier einen Investitionsbedarf von 600 Mrd. EUR kalkuliert. Wenn wir dieser Gelder nicht zur Verfügung stellen, findet die Transformation nicht statt.
Andere Ausgaben sollten dagegen nicht über Kredite finanziert werden: Wir werden aufgrund der geopolitischen Risiken mittelfristig 2,5 – 3 % unseres Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgeben müssen. Hier muss jede Generation für sich selbst aufkommen. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Druck im Steuerhaushalt allein wegen der Verteidigungsausgaben sehr hoch bleiben wird. Dazu kommt noch der Druck in den Sozialsystemen durch die demografische Alterung. Deshalb haben wir keinen Spielraum, uns zusätzliche konsumtive Ausgaben zu leisten.

Mit welchen Belastungen müssen Privathaushalte rechnen?

M. Hüther: Etwa ein Drittel der CO2-Emissionen stammen aus dem Gebäudesektor, ein Fünftel aus dem Straßenverkehr, das können wir nicht ignorieren. Für Mobilität und Wohnen werden die Belastungen der privaten Haushalte daher steigen. Das Heizungsgesetz adressiert dieses Thema, hat aber eine Welle an Widerstand ausgelöst, weil es nicht gut gemacht und kommuniziert wurde. Fakt ist: Die Kalkulationen der Haushalte werden sich verändern. Ein Haus wird ein Drittel seines Wertes verlieren – und damit weniger zur Alterssicherung beitragen – wenn es keine neue Heizungsanlage hat, nicht gedämmt ist und nicht mit einer Niedertemperaturheizung beheizt werden kann.
Hinzu kommen weitere Anpassungen, die Vielen noch nicht bewusst sind: Die Kosten für Gas werden, wie vor Kurzem angekündigt, auch aufgrund steigender Gasnetzentgelte steigen. Das ist ein normaler Anpassungsprozess: Wenn weniger Gas genutzt wird und durch die Netze fließt, ändern sich die Abschreibungen und die Entgelte steigen. Anders als bei den Stromnetzentgelte, die aufgrund der Ausbaukosten steigen, sollte man diesem Preissignal nicht entgegenwirken. Das kann aber eine Belastung der Haushalte von mehreren einhundert Euro pro Jahr bedeuten.
Durch die relativen Preisänderungen soll der Anreiz geschaffen werden in Infrastrukturen, Heizungen und Autos mit geringen Emissionen zu wechseln. Das stellt die privaten Haushalte vor eine große Herausforderung. Hier werden wir noch viel gesellschaftlichen Widerstand und Unbill erleben. Das Klimageld könnte einen Teil der Belastungen kompensieren.

 

 

"Unsere Unternehmen sind innovativ, wir müssen sie nur lassen. Und das Lassen setzt einen klaren Rahmen voraus."

 



Welchen Beitrag muss die Privatwirtschaft für das Gelingen der Transformation leisten?

M. Hüther: Die Privatwirtschaft muss kluge Lösungen findet, die Innovationsprozesse vor dem Hintergrund veränderter Regulierung und veränderter Kostenstruktur in Gang bringt. Und das leistet sie, da bin ich optimistisch. Sie muss nur das Nachhaltigkeitsthema ernst nehmen. Es wäre bedenklich, wenn Unternehmen hoffen, dass ihnen nach der Bundestagswahl eine ganz andere Zukunft versprochen wird und das Ziel der Klimaneutralität zur Jahrhundertmitte um 15 bis 30 Jahre verschoben wird. Die Nachhaltigkeitstransformation ist kein Mode­thema. Wir müssen sie schaffen, damit künftige Generationen gesund leben könne.

Herr Professor Hüther, was gibt Ihnen Zuversicht, dass wir den Wandel trotz aller Herausforderungen schaffen?

M. Hüther: Ich bleibe optimistisch, weil wir die Probleme ernst nehmen. Wenn wir dem Druck der Realität nicht ausweichen, werden wir unvermeidbar Antworten finden. Dann werden wir auch diesen Transformationsprozess gestalten und unsere Wirtschaft wird wieder wachsen. Bis dahin muss jedoch noch eine Menge getan werden, denn es ist viel liegengeblieben. Man kann über die aktuelle Regierung viel Kritisches sagen, aber als sie angefangen hat, hat sie auch angefangen, das Transformationsthema ernster zu nehmen und an verschiedenen Strängen Handlungspfade beschrieben. Dann kamen der Ukraine-Krieg und der Energiekostenschock und sie hat den Faden verloren. Wenn sie wieder gemeinsam und mit Partnern reden würden, bekommen wir die Transformation hin. Denn unsere Unternehmen sind innovativ, wir müssen sie nur lassen. Und das Lassen setzt einen klaren Rahmen voraus.

ZUR PERSON
Michael Hüther ist seit 2004 Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Davor war er als Chefvolkswirt der Deka Bank in Frankfurt tätig. Hüther studierte Wirtschaftswissenschaften und mittlere und neue Geschichte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. 2001 wurde der promovierte Wirtschaftswissenschaftler zum Honorarprofessor an der EBS Business School in Oestrich-Winkel berufen. Seit 2019 ist er Adjunct Professor an der Stanford University.

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